Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinweis auf Gestaltungsmöglichkeiten
Leitsatz (amtlich)
1. Für die Berechnung des Übergangsgeldes nach AVG § 18 Abs 2 (= RVO § 1241 Abs 2) sind Beiträge nicht zu berücksichtigen, die im Bemessungszeitraum für Zeiten vorher oder nach dem Beginn der Maßnahme für Zeiten im Bemessungszeitraum entrichtet worden sind.
2. Ein Versicherungsträger ist zur Belehrung eines Versicherten ohne dessen Antrag nicht verpflichtet, wenn er diesen für einen nur als möglich in Betracht zu ziehenden Fall allenfalls in allgemein gehaltener, mehrere Möglichkeiten erfassender Weise über die insgesamt nicht einfache Rechtslage unterrichten könnte.
Leitsatz (redaktionell)
Ein Versicherungsträger hat, wenn konkreter Anlaß dazu besteht, auf klar zutage liegende, offensichtlich zweckmäßige Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen.
Normenkette
AVG § 17 Fassung: 1974-08-07, § 18 Abs. 2 Fassung: 1974-08-07, Abs. 4 Fassung: 1974-08-07; RVO § 1240 Fassung: 1974-08-07, § 1241 Abs. 2 Fassung: 1974-08-07, Abs. 4 Fassung: 1974-08-07; AVG § 142 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1420 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23; RehaAnglG § 39 Fassung: 1974-08-07, § 45 Fassung: 1974-08-07; AnVNG Art. 2 § 49a Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art. 2 § 51a Fassung: 1972-10-16; RVO § 1324 Fassung: 1960-02-25
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 17.08.1977; Aktenzeichen L 13 An 189/76) |
SG Augsburg (Entscheidung vom 07.05.1976; Aktenzeichen S 13 An 66/76) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. August 1977 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Höhe eines Übergangsgeldes.
Mit Bescheid vom 11. April 1974 bewilligte die Beklagte dem während des Berufungsverfahrens verstorbenen Ehemann der Klägerin (im folgenden: Versicherter) ein Heilverfahren, wobei sie ihn bat, für die Berechnung eines evtl Übergangsgeldes die laufende Versicherungskarte einzusenden. Darauf übersandte der Versicherte mit Schreiben vom 12. September 1974, eingegangen bei der Beklagten am 13. September, seine letzte Beitragsbescheinigung für die Jahre 1971 und 1972 und erklärte, die Einzahlung für 1973 werde voraussichtlich Ende 1974 erfolgen, in den letzten Jahren habe er für die Jahre 1968 und 1969 nach Art 2 § 49 a des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) Beiträge nachentrichtet. Am 8. Oktober 1974 trat der Versicherte die Heilkur an. Mit Bescheid vom 28. November 1974 bewilligte ihm die Beklagte ein nach § 18 Abs 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) idF des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes (RehaAnglG) vom 7. August 1974 berechnetes Übergangsgeld in Höhe von täglich 4,17 DM.
Der Versicherte erhob Klage wegen der Höhe. Er entrichtete im Dezember 1974 12 Monatsbeiträge für 1974 und im Januar 1975 12 Monatsbeiträge für 1973 in Höhe von je 360,- DM. Mit der Klage machte er geltend, die Beklagte habe es zu Unrecht unterlassen, ihn auf die sich aus dem RehaAnglG ergebende neue Rechtslage für die Berechnung des Übergangsgeldes hinzuweisen; da er nach einem solchen Hinweis die Beiträge für 1973 und 1974 noch vor Beginn des Heilverfahrens entrichtet hätte, sei die Beklagte verpflichtet, unter Zugrundelegung dieser Beitragsleistung das Übergangsgeld nach § 18 Abs 2 AVG zu berechnen.
Das Sozialgericht (SG) gab der Klage statt, das Landessozialgericht (LSG) wies sie ab. Eine Berechnung des Übergangsgeldes nach § 18 Abs 2 AVG ist nach Ansicht des LSG nicht zulässig, weil der Versicherte "in" den 12 Monaten vor Beginn der Maßnahme keine Beiträge entrichtet habe; insoweit seien nur bis dahin tatsächlich entrichtete, nicht auch später nachentrichtete Beiträge zu berücksichtigen. Auch ein zur Anwendung des § 18 Abs 2 führender Folgenbeseitigungsanspruch sei nicht gegeben. Erst das Schreiben vom 12. September 1974 habe die Beklagte dazu drängen müssen, den Versicherten über die zu erwartende nachteilige Berechnung des Übergangsgeldes nach dem RehaAnglG zu belehren. Dafür habe der Beklagten aber nur ein Zeitraum von knapp drei Wochen zur Verfügung gestanden, da dem Versicherten noch Zeit zur Nachentrichtung habe verbleiben müssen; dieser Zeitraum sei angesichts der Größe und des Aufgabenbereiches der Beklagten zu kurz, um die Unterlassung als pflichtwidrig erscheinen zu lassen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Klägerin,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Nach ihrer Ansicht kommt es für den Folgenbeseitigungsanspruch nicht darauf an, ob die Beklagte für die Erfüllung ihrer Belehrungspflicht noch hinreichende Zeit gehabt habe. Hilfsweise regt die Klägerin eine Aussetzung des Verfahrens und eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nach Art 100 des Grundgesetzes wegen verfassungswidriger unechter Rückwirkung der gesetzlichen Neuregelung an.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Da das Heilverfahren am 8. Oktober 1974 begonnen hat und der Anspruch auf Übergangsgeld erst mit der Durchführung der medizinischen oder berufsfördernden Maßnahme entsteht, ist das Übergangsgeld nach dem vom 1. Oktober 1974 an geltenden Recht zu berechnen (§ 45 Abs 1 RehaAnglG). Die Klägerin verlangt zwar, wie aus ihrem Vorbringen, nicht jedoch aus ihren die Anwendung des § 18 Abs 2 AVG nF begehrenden Anträgen zu entnehmen ist, zumindest hilfsweise die Berechnung des Übergangsgeldes nach altem Recht. Nach diesem hätten der Berechnung die bis 1972 entrichteten Beiträge zugrunde gelegt werden müssen und hätte dem Versicherten sonach wohl ein weit höherer Betrag als 4,17 DM täglich zugestanden. Gleichwohl kann die Klägerin eine Weiteranwendung des alten Rechts nicht unter dem von ihr geltend gemachten Gesichtspunkt der unzulässigen unechten Rückwirkung beanspruchen. Das RehaAnglG hat auf eine bei seiner Verkündung oder seinem Inkrafttreten gegebene Rechtsposition des Versicherten nicht in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise eingewirkt. In diesem Zeitpunkt bestand für den Versicherten noch keine "hinreichend nahe Beziehung" (BVerfGE 30, 293, 402) zwischen den damals für die Berechnung des Übergangsgeldes bereits gegebenen rechtserheblichen Tatsachen und dem gesetzlichen Tatbestand, der durch das RehaAnglG geändert worden ist. Denn schon nach altem Recht war wesentliche Voraussetzung für den Anspruch auf Übergangsgeld, daß die Maßnahme begonnen hatte, für deren Dauer das Übergangsgeld zu gewähren war. Solange das nicht der Fall war, konnte allenfalls eine entfernte Beziehung zwischen den schon vorliegenden, für die Berechnung des Übergangsgeldes erheblichen Umständen und dem möglicherweise später gegebenen Anspruch bestanden haben. Im übrigen müßte hier ein etwaiges Vertrauen auf den Fortbestand der früheren Regelung hinter der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit zurücktreten (vgl BVerfGE 13, 274, 278; 32, 111, 123).
Von den Berechnungsvorschriften des neuen Rechts hat die Beklagte zutreffend § 18 Abs 4 und nicht Abs 2 AVG angewandt. Die Voraussetzungen des § 18 Abs 2 Satz 1 AVG sind nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift beträgt für die dort genannten Personen - darunter für Personen, die als freiwillig Versicherte vor Beginn der Maßnahme Arbeitseinkommen erzielt und Beiträge entrichtet haben - das Übergangsgeld den 450. Teil des Betrages, der sich aus den Beiträgen in den 12 Kalendermonaten vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder der Maßnahme (Bemessungszeitraum) ergibt. Da das LSG eine Arbeitsunfähigkeit des Versicherten nicht festgestellt hat, wäre § 18 Abs 2 sonach nur anwendbar, wenn "Beiträge in den letzten 12 Kalendermonaten vor Beginn der Maßnahme" vorhanden wären. Das ist nicht der Fall. Die erst nach der Maßnahme für die 12 Kalendermonate vor deren Beginn (Oktober 1973 bis September 1974) entrichteten Beiträge können insoweit nicht berücksichtigt werden. § 18 Abs 2 setzt Beiträge "in" dem Bemessungszeitraum voraus; damit sind, wie auch sonst, wenn das Gesetz von "in" einer bestimmten Zeit entrichteten Beiträgen spricht, die während der fraglichen Zeit entrichteten Beiträge gemeint (vgl BSG 10, 146; SozR Nr 9 zu § 1290 RVO). Wie der Senat im Urteil vom gleichen Tage in der Sache 11 RA 39/77 entschieden hat, ist es allerdings zulässig, für den Bemessungszeitraum später nachentrichtete Beiträge dann zu berücksichtigen, wenn die Nachentrichtung noch vor dem Beginn der Maßnahme erfolgt ist; dieser Fall ist hier jedoch nicht gegeben. Ob für den Fall der Bereiterklärung während des Bemessungszeitraumes (§ 142 Abs 1 Nr 2 AVG) eine weitere Ausnahme zuzulassen ist, kann dahinstehen, weil das Schreiben des Versicherten vom 12. September 1974 keine wirksame Bereiterklärung enthielt (vgl BSG 10, 264, 268; 15, 267, 270). Schließlich kann die Anwendung des § 18 Abs 2 AVG auch nicht daraus hergeleitet werden, daß der Versicherte die gemäß Art 2 § 49 a AnVNG für die Jahre 1968 und 1969 nachentrichteten Beiträge möglicherweise zum Teil - Feststellungen darüber fehlen - während des Bemessungszeitraums entrichtet hat. Denn nach dem Sinn und Zweck des § 18 Abs 2 AVG ist neben der Entrichtung im Bemessungszeitraum zusätzlich zu fordern, daß die Beiträge auch für Zeiten entrichtet sind, die in den Bemessungszeitraum fallen. Das Abstellen auf die Beitragsleistungen im Bemessungszeitraum soll offenbar den - die Beitragsleistung ermöglichenden - Einkommensverhältnissen des Betreuten in dieser Zeit Rechnung tragen. Dieses Ziel würde verfehlt, wollte man auch Beiträge zugrunde legen, die für Zeiten außerhalb des Bemessungszeitraums und hierbei vielleicht für eine Vielzahl vergangener Jahre entrichtet worden sind; dies würde nicht nur in keiner Weise das Arbeitseinkommen des Versicherten im Bemessungszeitraum widerspiegeln, sondern vielfach zu weit überhöhten Beträgen des Übergangsgeldes führen.
Ein der unmittelbaren Anwendung des § 18 Abs 2 AVG gleichstehendes Ergebnis kann die Klägerin auch nicht unter Berufung darauf erreichen, daß die Beklagte eine Pflicht zur Belehrung des Versicherten über die Rechtslage verletzt habe. In der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist allerdings seit längerem anerkannt, daß eine Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten durch den Versicherungsträger einen Anspruch des Geschädigten auf Wiedergutmachung auszulösen vermag, der nicht auf die Zahlung von Schadensersatz in Geld, sondern auf Herstellung des ohne die schädigende Handlung oder Unterlassung bestehenden Zustandes durch Vornahme einer "Amtshandlung" (Naturalrestitution) gerichtet ist. Dabei handelt es sich nicht, wie die Vorinstanzen angenommen haben, um einen Folgenbeseitigungsanspruch, sondern worüber inzwischen Klarheit gewonnen worden ist, um einen sozialrechtlichen Schadensersatzanspruch, für den der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit offensteht (BSG 26, 129, 134; 34, 124, 126 f; SozR 7610 § 242 Nr 5; Urteil des 7. Senats vom 11. März 1976 - 7 RAr 152/74 -). Ein solcher Anspruch entsteht meist aus einer Verletzung von sozialrechtlichen Nebenpflichten durch den Versicherungsträger, insbesondere aus einer Verletzung von Pflichten zur Beratung und Belehrung des Versicherten.
Ein derartiger Schadensersatzanspruch stand dem Versicherten und steht der Klägerin jedoch nicht zu. Seine Grundlage könnte er hier allein darin finden, daß die Beklagte den Versicherten auf dessen Schreiben vom 12. September 1974 hin nicht über die ab 1. Oktober 1974 zu erwartende Rechtslage hinsichtlich der Berechnung des Übergangsgeldes unterrichtet, insbesondere ihm nicht angeraten hat, die beabsichtigte Beitragsleistung - jedenfalls für die Monate Oktober 1973 bis September 1974 - noch vor Durchführung des Heilverfahrens vorzunehmen. Zu einer solchen Belehrung war die Beklagte nicht verpflichtet. Zwar hat der Versicherungsträger, wenn ein konkreter Anlaß dazu besteht, den Versicherten auf Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die klar zutage liegen, und deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig ist, daß jeder verständige Versicherte sie mutmaßlich nutzen wird (SozR Nr 3 zu § 1233 RVO; SozR 5850 § 26 Nr 2 und 7610 § 242 Nr 5; 7. Senat im Urteil vom 11. März 1976). Hier fehlte es jedoch sowohl an einem konkreten Anlaß für die von der Klägerin vermißte Belehrung als auch an einer klar zutage liegenden Gestaltungsmöglichkeit.
Eine Bitte um Auskunft war in dem Schreiben des Versicherten nicht enthalten. Die Beklagte konnte diesem Schreiben auch nicht ohne weiteres entnehmen, daß der Versicherte in einem Irrtum befangen war. Weder der Mitteilung, die letzten Beiträge seien für 1972 entrichtet, noch der Ankündigung, die Beiträge für 1973 und 1974 würden voraussichtlich Ende des Jahres nachentrichtet, war eine bestimmte Vorstellung über die Rechtslage zu entnehmen. Daß der Versicherte glaubte, die Beiträge, deren Nachentrichtung er in Aussicht stellte, würden bei der Feststellung des Übergangsgeldes berücksichtigt werden, ließ sein Schreiben nicht ersehen; im übrigen kommt es weder nach altem noch nach neuem Recht für die Berechnung des Übergangsgeldes auf Beiträge an, die erst nach dem Beginn der Maßnahme nachentrichtet worden sind. Es lag aber auch nicht klar zutage, daß zu der Zeit, als das Schreiben vom 12. September 1974 bei der Beklagten einging, eine baldige weitere Beitragsleistung des Versicherten überhaupt, und wenn ja welche, offensichtlich zweckmäßig war. Damals war weder dem Versicherten noch der Beklagten bekannt, daß das Heilverfahren erst im Oktober 1974 beginnen würde; beide konnten noch mit dem Beginn im September 1974 rechnen; in einem solchen Falle hätte der Versicherte keinen Rechtsnachteil erlitten (vgl § 39 RehaAnglG). Doch selbst wenn die Beklagte damals einen Beginn der Maßnahme erst nach dem 1. Oktober 1974 hätte in Betracht ziehen müssen, konnte sie damals noch keine Klarheit über die Anwendbarkeit des § 18 Abs 2 AVG und über die Voraussetzungen dieser Anwendbarkeit im Falle des Versicherten haben. Sie konnte aus den bei ihr vorliegenden Akten nicht zuverlässig beurteilen, ob der Versicherte zu den Personen gehört, dessen Übergangsgeld nach § 18 Abs 2 zu berechnen ist. Die Vorschrift setzt voraus, daß der freiwillig Versicherte vor dem Beginn der Maßnahme Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen erzielt hat; Bemessungszeitraum sind nach dem Gesetz die 12 letzten Kalendermonate vor dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder vor dem Beginn der Maßnahme. Für einen hinreichend zuverlässigen Ratschlag bedurfte es also auch des Wissens, wann die Maßnahme tatsächlich beginnen und ob ihr eine Arbeitsunfähigkeit vorausgehen würde. Bei dieser Sachlage hätte die Beklagte den Versicherten für einen nur als möglich in Betracht zu ziehenden Fall allenfalls in allgemein gehaltener, mehrere Möglichkeiten erfassender Weise über die insgesamt nicht einfache Rechtslage unterrichten können. Das bedeutet aber, daß das Schreiben des Versicherten vom 12. September 1974 noch keinen konkreten Anlaß zu einer Belehrung über eine klar zutage liegende Gestaltungsmöglichkeit gegeben hat.
Nach alledem war die Revision mit der sich aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG).
Fundstellen