Entscheidungsstichwort (Thema)

Lehrzeit eines Meistersohns

 

Orientierungssatz

War ein Lehrling im väterlichen Betrieb tatsächlich nicht familienhaft, sondern auf Grund eines nichtentgeltlichen Beschäftigungsverhältnisses iS von § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst a AVG (§ 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst a RVO) nicht versicherungspflichtig oder versicherungsfrei tätig, ist die Lehrzeit als Ausfallzeit anzurechnen.

 

Normenkette

AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst a Fassung: 1972-10-16; RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst a Fassung: 1972-10-16

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 20.11.1980; Aktenzeichen L 4 An 104/80)

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 23.04.1980; Aktenzeichen S 7 An 149/79)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob eine Lehrzeit als Ausfallzeit rentensteigernd anzurechnen ist.

Der 1913 geborene Kläger erlernte von April 1928 bis April 1932 bei seinem Vater, einem selbständigen Elektrikermeister, das Elektrikerhandwerk. Entgelt zahlte ihm sein Vater nicht. Beiträge zur Invalidenversicherung sind für diese Zeit nicht festgestellt. Bis 1939 arbeitete der Kläger sodann im väterlichen Betrieb, den er inzwischen mit einem seiner Brüder als Geschäftsführer weiterführt, als Elektromonteur.

Auf den im Juli 1978 gestellten Antrag bewilligte die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) dem Kläger mit dem streitbefangenen Bescheid vom 22. Februar 1979 ab 1. November 1978 Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres in Höhe von damals zuletzt 1.168,20 DM. Zugleich lehnte sie es ab, die Lehrzeit von 1929 bis 1932 als Ausfallzeit anzuerkennen, weil Nichtversicherungspflicht wegen der Eigenschaft als Meisterssohn bestanden habe. Den Widerspruch des Klägers hiergegen wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 23. August 1979, ausgefertigt am 30. August 1979).

Mit der hiergegen erhobenen Klage ist der Kläger dagegen im Rechtszug durchgedrungen. Durch Urteil vom 23. April 1980 hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Zeit vom 18. Oktober 1929 bis 31. März 1932 als Ausfallzeit rentensteigernd anzurechnen, und das Landessozialgericht (LSG) hat mit der angefochtenen Entscheidung vom 20. November 1980 die Berufung der Beklagten hiergegen zurückgewiesen. In der Begründung heißt es, der Kläger sei während der Lehrzeit nach § 1226 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der damals geltenden Fassung nicht versicherungspflichtig gewesen, weil er kein Entgelt - Barvergütung - erhalten habe. Er habe die Lehrzeit bei seinem Vater auf Grund eines echten Beschäftigungsverhältnisses abgeleistet; eine nur familienhafte Mitarbeit sei ua schon wegen der formellen Strenge des Lehrlingsrechts nicht möglich gewesen. Selbst wenn man annähme, daß der Kläger "Meisterssohn" im Sinne der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes (RVA) gewesen sei, so sei seine Lehrzeit gleichwohl Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG); die gegenteilige Rechtsauffassung der Beklagten treffe nicht zu.

Mit der zugelassenen Revision tritt die Beklagte dieser Entscheidung entgegen und führt aus, aus dem Wortlaut allein könne § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst a AVG nicht korrekt ausgelegt werden. "Nicht versicherungspflichtig oder versicherungsfrei" seien Ausbildungszeiten nur, wenn die fehlende Entrichtung von Beiträgen allein auf diesen Gründen beruhe. Habe für den Lehrling aus anderen Gründen keine Versicherungspflicht bestanden, liege eine Ausfallzeit nicht vor. Hierfür spreche auch das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 15. März 1979 - 11 RA 48/78 in SozR 2200 § 1259 Nr 37.

Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils - schlüssig: und des Urteils des Sozialgerichts vom 23. April 1980 - die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt die Revision zurückzuweisen.

Er weist darauf hin, nicht er, sondern sein Bruder habe den väterlichen Handwerksbetrieb übernehmen sollen. Er sei daher uneingeschränkt abhängig beschäftigt gewesen.

Die Beteiligten haben übereinstimmend erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist zulässig, sachlich aber nicht begründet.

Nach § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst a AVG idF des ab 1. Juli 1965 geltenden Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I, 476) sind rentensteigernde Ausfallzeiten (§ 35 Abs 1 aaO) Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden abgeschlossenen nicht versicherungspflichtigen oder versicherungsfreien Lehrzeit. Wortlaut, Wortsinn und Entstehungsgeschichte der Vorschrift ergeben dabei, daß nicht versicherungspflichtige oder versicherungsfreie Lehrzeit nur eine solche Ausbildung ist, die auf Grund eines Beschäftigungsverhältnisses, nicht aber auf Grund einer nur familienhaften Mitarbeit abgeleistet worden ist (so zutreffend die Entscheidungen des 11. Senats des BSG vom 30. April 1981 - 11 RA 54/80 - und vom 13. August 1981 - 11 RA 6/81). Dabei gilt der Grundsatz, daß sich bei "Meistersöhnen" (vgl RVA in AN 1937, 300) auch in der Rentenversicherung die Versicherungspflicht nach den gleichen Merkmalen beurteilt, die allgemein für die Versicherungspflicht gelten (BSGE 3, 30, 37 ff).

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist der Kläger in der streitigen Zeit beim Vater "auf Grund eines echten Beschäftigungsverhältnisses" zum Elektrikergesellen ausgebildet worden. Das Berufungsgericht hat hierzu ausgeführt, daß wegen der formellen Strenge des Lehrlingsrechts als solchem grundsätzlich eine freie Ausgestaltung des Lehrverhältnisses mit dem eigenen Vater als Lehrherrn - im Sinne einer nur familienhaften Mitarbeit des Sohnes - nicht möglich gewesen sei. An diese tatsächlichen Feststellungen des LSG über die Ausgestaltung des Lehrverhältnisses des Klägers bei seinem Vater ist der erkennende Senat gemäß § 163 SGG gebunden. Die Beklagte hat hiergegen innerhalb der Frist zur Begründung der Revision keine nach § 164 Abs 2 Satz 3 SGG zulässigen Verfahrensrügen vorgebracht; sie hat sich darauf beschränkt, sachlich-rechtliche Ausführungen zu machen.

War aber der Kläger als Lehrling im väterlichen Betrieb tatsächlich nicht familienhaft, sondern auf Grund eines nichtentgeltlichen Beschäftigungsverhältnisses im Sinne von § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst a AVG nicht versicherungspflichtig oder versicherungsfrei tätig, so läßt sich nicht beanstanden, daß das LSG die zusprechende Entscheidung des SG bestätigt hat. Die Revision der Beklagten war vielmehr als unbegründet zurückzuweisen.

Im Kostenpunkt stützt sich die Entscheidung auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660203

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge