Leitsatz (amtlich)
Sinn und Zweck der im 2. Abk Österreich SV getroffenen Stichtag-Regelung gebieten es, bei der Auslegung des Begriffs "nicht nur vorübergehender Aufenthalt" subjektive, meist schwer zu klärende Umstände weitgehend unberücksichtigt zu lassen und vornehmlich auf objektive Merkmale, also insbesondere die Dauer des tatsächlichen Verweilens abzustellen. Hat sich jemand mehr als 7 Jahre an einem Ort aufgehalten, an dem er seine Familie und seine Arbeitsstelle gehabt hat, so kommt es nicht darauf an, ob er den Willen hatte, diesen Ort bei sich bietender Gelegenheit zu verlassen.
Normenkette
SVAbk AUT 2 Art. 4 Abs. 1 Fassung: 1953-07-11
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. Juni 1960 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger von dem deutschen Versicherungsträger Leistungen beanspruchen kann.
Der Kläger ist in Brünn (CSR) geboren und war von 1922 bis Mai 1945 im Gebiet der heutigen CSR versicherungspflichtig beschäftigt. Anschließend war er dort bis Mitte Januar 1946 inhaftiert. Dann kam er nach Österreich und war in Wien vom Februar 1946 bis Juli 1953 als Angestellter beschäftigt. Von Oktober 1953 bis Mai 1954 bezog er vom Arbeitsamt Wien Arbeitslosengeld bzw. Notstandsgeld und Wohnungsbeihilfe. Nachdem ihm mit Urkunde vom 5. November 1953 der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit bescheinigt worden war, verzog er im Mai 1954 in die Bundesrepublik Deutschland.
Im Juli 1954 beantragte der Kläger bei der Beklagten das Ruhegeld aus der Angestelltenversicherung nach § 397 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) aF. Die Beklagte hielt sich auf Grund des Zweiten Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Sozialversicherung vom 11. Juli 1953 (2. Deutsch-Österreichisches Sozialversicherungsabkommen) nicht für zuständig und gab deshalb den Antrag an die Angestelltenversicherungsanstalt Wien zur zuständigen Erledigung ab. Hierüber unterrichtete sie den Kläger mit Bescheid vom 4. Oktober 1954. Die Angestelltenversicherungsanstalt Wien gewährte ihm vom 1. September 1954 an Ruhegeld unter Berücksichtigung auch der an den tschechischen Versicherungsträger geleisteten Beiträge (Bescheid vom 23. November 1955).
Nach der Meinung des Klägers richtet sich sein Rentenanspruch auf Grund des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes (FAG) vom 7. August 1953 gegen die Beklagte; der österreichische Versicherungsträger sei nicht zuständig. Daran habe auch das 2. Deutsch-Österreichische Sozialversicherungsabkommen nichts geändert; nach der Vertreibung aus der CSR habe er sich nur vorübergehend und unfreiwillig in Österreich aufgehalten; es sei nicht sein Verschulden, wenn er erst im März 1954 die Unterlagen zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland erhalten habe. Klage und Berufung des Klägers waren ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) ließ in seinem Urteil vom 28. Juni 1960 die Revision zu.
Der Kläger legte Revision ein mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung des Ruhegeldes vom 1. August 1954 an zu verurteilen. Er bemängelte die Auslegung und Anwendung von Vorschriften des FAG und der beiden Deutsch-Österreichischen Sozialversicherungsabkommen.
Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch nach dem FAG.
Der Kläger hat von 1922 an bis zu seiner Vertreibung Versicherungszeiten im Gebiet der heutigen CSR zurückgelegt. Das Berufungsgericht geht zutreffend davon aus, daß er - soweit es sich um den Rentenanspruch aus diesen nicht bei dem österreichischen Versicherungsträger zurückgelegten Versicherungszeiten handelt - zu dem Personenkreis zu rechnen ist, der in § 1 Abs. 2 Nr. 2 aa FAG genannt ist. Dieses Gesetz verpflichtet den Versicherungsträger im Bundesgebiet, für die bei einem fremden Versicherungsträger zurückgelegten Versicherungszeiten und an dessen Stelle Leistungen an die Berechtigten zu gewähren. Diese Verpflichtung besteht aber nach § 1 Abs. 1 FAG - worauf es hier ankommt - nur "unbeschadet zwischenstaatlicher Abkommen". Das bedeutet nach Auffassung des Senats, daß Ansprüche aus dem FAG nicht hergeleitet werden können, wenn die fremden Versicherungszeiten auf Grund einer zwischenstaatlichen Vereinbarung in die Versicherungslast eines anderen Staates fallen oder - wie es nunmehr in Art. 1 § 2 des neuen Fremdrentengesetzes heißt - in der Rentenversicherung des anderen Staates anrechnungsfähig sind. Dies folgt nicht nur aus dem Sinn und Zweck von zwischenstaatlichen Sozialversicherungsverträgen; es wird auch durch die erwähnte spätere gesetzliche Regelung im neuen Fremdrentengesetz bestätigt. Es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber durch diese neue Vorschrift die Ansprüche eines nicht unbeträchtlichen Kreises von Versicherten gegenüber dem bisherigen Zustand verschlechtern wollte. Es ist daher davon auszugehen, daß ein für die Bundesrepublik Deutschland verbindliches zwischenstaatliches Abkommen über Sozialversicherung den Vorrang hat vor dem innerstaatlichen Recht des FAG (vgl. BSG 18, 113; Gesamt-Komm. zur RVO, 2. Band S. 17). Es kommt deshalb im vorliegenden Rechtsstreit darauf an, ob die Ansprüche des Klägers aus seinen außerösterreichischen Versicherungszeiten von den Vorschriften der Deutsch-Österreichischen Sozialversicherungsabkommen erfaßt werden.
Der Kläger hat sich nach der Vertreibung aus seinem Heimatland unmittelbar nach Österreich begeben und sich dort bis 1954 ununterbrochen aufgehalten. Er gehört zu dem Personenkreis, für den im Jahre 1953 das 2. Deutsch-Österreichische Sozialversicherungsabkommen getroffen wurde (vgl. Begründung zu dem Zustimmungsgesetz zum Zweiten Abkommen, Abschn. I Vorbemerkungen - abgedr. im BArbBl. 1954 S. 526 -). Nach Teil III dieses Abkommens übernimmt der österreichische Versicherungsträger die vor dem 1. Mai 1945 in einer fremdstaatlichen Rentenversicherung entstandenen Ansprüche und Anwartschaften derjenigen Personen, die sich am Stichtag des Abkommens (11. Juli 1953) im Gebiet der Republik Österreich nicht nur vorübergehend aufgehalten haben, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie deutsche oder österreichische Staatsangehörige oder Volksdeutsche mit ungeklärter Staatsangehörigkeit sind (Art. 4 Abs. 1 Nr. 4).
Der Kläger hielt sich an dem maßgeblichen Stichtag in Wien auf. Nach den Feststellungen des LSG lebte er seit 1946 in Österreich, bis zum Stichtag also mehr als 7 Jahre und nach dem Stichtag auch noch fast 1 Jahr lang. Er hatte dort seinen Familienwohnsitz und seine Arbeitsstelle, also den Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse. Das LSG zog hieraus zutreffend die Folgerung, daß nicht nur ein vorübergehender Aufenthalt vorgelegen hat. Bei der Auslegung dieses Begriffs gibt - auch nach Auffassung des erkennenden Senats - das zeitliche Moment in der Regel den Ausschlag. Den Gegensatz zum vorübergehenden Aufenthalt bildet nicht der künftig erstrebte, auch nicht der freiwillige Aufenthalt, sondern der ständige (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 FAG) oder der gewöhnliche Aufenthalt (vgl. Art. 1 § 1 Abs. 1 Buchst. b FRG). Hält sich eine Person - unter Umständen wie sie beim Kläger vorlagen - mehrere Jahre an einem Ort auf, so tritt ihr Wille, diesen Aufenthaltsort zu verlassen, gegenüber der langen Dauer des tatsächlichen Verweilens zurück. Deshalb kommt es für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht darauf an, ob der Kläger die Absicht hatte, schon vor dem 11. Juli 1953 bei sich bietender Gelegenheit Aufenthalt in der Bundesrepublik zu nehmen, und ob und wodurch er an der Verwirklichung dieser Absicht gehindert wurde. Bei einer Verweildauer von mehr als 7 Jahren bis zum Stichtag hatte der Kläger unter den gegebenen Umständen nicht nur einen vorübergehenden, sondern seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich. In dieser Auffassung sieht sich der erkennende Senat bestärkt durch Sinn und Zweck der im 2. Deutsch-Österreichischen Sozialversicherungsabkommen getroffenen Regelung: Es kam darauf an, die Versicherungslast in geeigneter Weise zu verteilen und dies von überschaubaren Tatbeständen abhängig zu machen. Diesem Zweck einer möglichst klaren Abgrenzung der Zuständigkeit diente die Festlegung des Stichtages; sie gebietet es, subjektive, meist schwer zu klärende Umstände weitgehend unberücksichtigt zu lassen und vornehmlich auf objektive Merkmale, also insbesondere die Dauer des tatsächlichen Verweilens abzustellen (vgl. auch ähnliche Vorschriften in § 1 Abs. 4 Satz 2 FAG und § 99 AVG).
Die im 2. Deutsch-Österreichischen Sozialversicherungsabkommen genannten Voraussetzungen für die Zuständigkeit des österreichischen Versicherungsträgers sind somit erfüllt. Die durch dieses Abkommen erfaßten Versicherungszeiten sind endgültig aus dem Bereich der nach dem FAG zu honorierenden Versicherungszeiten ausgeschieden und in die Versicherungslast des österreichischen Versicherungsträgers übergegangen. Von diesem erhält der Kläger auch die ihm nach Österreichischem Recht zustehende Leistung. Der Umstand, daß sie zur Zeit geringer ist als diejenige, die er vom deutschen Versicherungsträger zu erwarten hätte, ist kein Grund, in der getroffenen Regelung eine unbillige Härte zu sehen. Für eine subsidiäre Anwendung des FAG ist kein Raum. Entgegen der Meinung des Klägers ist auch Art. 21 des 1. Deutsch-Österreichischen Sozialversicherungsabkommens, der unter bestimmten Voraussetzungen die Zahlung eines Unterschiedsbetrages vorsieht, nicht anwendbar; denn nach Art. 20 des 2. Abkommens gelten neben den allgemeinen Grundsätzen des 1. Abkommens - worunter Art. 21 nicht fällt - nur dessen Art. 27 bis 29, 33 und 36 entsprechend. Die nach Art. 4 des 2. Abkommens zustehenden Leistungen werden ausschließlich aus der österreichischen Versicherung gewährt (Art. 5 Abs. 1).
Das angefochtene Urteil erweist sich somit als richtig, so daß die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen ist (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 674107 |
BSGE, 91 |