Leitsatz (amtlich)
4. DV AVAVG § 1 schließt nicht aus, daß ein Grenzgänger, der dem Personenkreis nach G 131 zugehört, von der Pflicht zur Arbeitslosenversicherung auf Antrag befreit wird, wenn die sonstigen Voraussetzungen des G 131 § 73 erfüllt sind.
Normenkette
G131 § 73 Fassung: 1951-05-11; AVAVGDV 4 § 1 Fassung: 1958-04-18
Tenor
Die Revision der beigeladenen Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. Dezember 1961 wird zurückgewiesen.
Die Beigeladene hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I. Der 1915 geborene Kläger war Berufsoffizier; nach dem Zusammenbruch arbeitete er seit Jahren in seinem erlernten Zivilberuf als Schreinermeister in der Schweiz. Mit Bescheid vom 29. November 1954 stellte das Regierungspräsidium Südbaden seine Rechtsstellung als die eines Beamten zur Wiederverwendung (Leutnant a. D.) auf Grund der Vorschriften des Gesetzes zu Art. 131 des Grundgesetzes (G 131) fest und teilte ihm die Höhe seiner Versorgungsbezüge (Übergangsgehalt) mit. Im August 1958 beantragte der Kläger bei der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Müllheim/Baden die Befreiung von der Arbeitslosenversicherung, weil er im Falle der Arbeitslosigkeit Anspruch auf Versorgung nach dem G 131 habe.
Die Beklagte holte wegen der grundsätzlichen Bedeutung der einschlägigen Rechtsfragen von der beigeladenen Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BfArb) und von dem Verband der Ortskrankenkassen in Lahr Stellungnahmen ein. Letzterer vertrat die Auffassung, der Kläger könne als Grenzgänger nicht der Vergünstigung nach § 73 des G 131 verlorengehen, denn das dort verankerte Recht auf Befreiung von der Versicherungspflicht erstrecke sich nicht nur auf die Renten- und Krankenversicherung, sondern auch auf die Arbeitslosenversicherung. Die beigeladene BfArb war dagegen der Ansicht, da ein Grenzgänger in der Bundesrepublik weder kranken- noch angestelltenversicherungspflichtig sei, könne er nicht von der Versicherungspflicht befreit werden; er unterliege deshalb der Arbeitslosenversicherungspflicht.
Daraufhin forderte die Beklagte (Schreiben vom 5. Februar 1959) den Kläger auf, Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ab 1. Juli 1958 zu zahlen. Dessen Gegenvorstellungen wurden als Widerspruch angesehen und zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 31. März 1959).
Auf Klage hin hob das Sozialgericht (SG) den angefochtenen Bescheid auf und stellte fest, daß der Kläger seit dem 1. April 1951 versicherungsfrei zur Arbeitslosenversicherung sei. Inzwischen hatte die BfArb ihre Beiladung gemäß § 75 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) betrieben, die durch Beschluß des SG vom 3. September 1959 erfolgte. Die Berufung der Beigeladenen wurde vom Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg (Urteil vom 13. Dezember 1961) zurückgewiesen. Zwar sei es zweifelhaft, ob die Versicherungsfreiheit des Klägers in der Arbeitslosenversicherung sich unmittelbar aus § 73 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 des G 131 ergebe, weil der Begriff Sozialversicherung nach dem herkömmlichen Sprachgebrauch die Arbeitslosenversicherung im allgemeinen nicht mit einschließe. Diese Frage könne jedoch offenbleiben, denn das angefochtene Urteil sei mit anderer Begründung zu halten. § 1 der Grenzgängerverordnung sehe eine Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung auch in Fällen vor, in denen eine Kranken- oder Angestelltenversicherungspflicht nach deutschem Recht nicht bestehe; dann nämlich, wenn eine vergleichbare Beschäftigung des Grenzgängers im Inlande versicherungspflichtig wäre. Ein solcher Ausnahmefall liege jedoch hier nicht vor. Es könne nicht angenommen werden, daß der Kläger bei einer gleichartigen Beschäftigung im Inland einen Antrag auf Befreiung nicht gestellt hätte. Für einen Beamten z. Wv., der Anspruch auf Übergangsgehalt habe, bedeute die gesetzliche Krankenversicherung eine unnötige wirtschaftliche Belastung. Wäre der Kläger als Schreinermeister im Inland beschäftigt, hätte er mit aller Wahrscheinlichkeit innerhalb der Frist des § 73 Abs. 1 Satz 2 des G 131 die Befreiung von der Krankenversicherungspflicht beantragt. Seine Beschäftigung wäre danach im Inland gemäß § 56 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) nicht versicherungspflichtig; deshalb entfalle nach § 1 der Grenzgängerverordnung ebenfalls die Versicherungspflicht zur Arbeitslosenversicherung. Die Beigeladene sei allerdings der Ansicht, eine nur auf Antrag eintretende Befreiung müsse unberücksichtigt bleiben und es sei lediglich darauf abzustellen, ob kraft Gesetzes Versicherungsfreiheit bestehe. Eine solche einschränkende Auslegung ergebe sich jedoch nicht aus § 1 der Grenzgängerverordnung; sie sei auch sachlich nicht gerechtfertigt. Ein Bedürfnis für eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit bestehe bei einem Beamten z. Wv mit Anspruch auf Übergangsgehalt, der sich bei einer Beschäftigung im Inland wahrscheinlich von der Krankenversicherungspflicht befreien ließe, ebensowenig wie für einen Arbeitnehmer, der bereits kraft Gesetzes versicherungsfrei sei. Der Kläger müsse daher wie ein im Inland beschäftigter Beamter z. Wv. behandelt werden, der innerhalb der Frist des § 73 Abs. 1 Satz 2 des G 131 einen Befreiungsantrag gestellt habe; er unterliege daher ab 1. April 1951 nicht der Arbeitslosenversicherungspflicht.
Revision wurde zugelassen.
II. Die Beigeladene legte gegen das Urteil des LSG form- und fristgerecht Revision ein. Nach ihrer Auffassung unterliegt der Kläger in seiner Beschäftigung als Grenzgänger gemäß § 1 der Vierten Verordnung zur Durchführung des AVAVG (4. DVO) der Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung. Diese sei davon abhängig, daß eine vergleichbare Beschäftigung bei Ausübung im Geltungsbereich des AVAVG versicherungspflichtig wäre, daß also keine Umstände vorlägen, welche die Versicherungsfreiheit kraft Gesetzes auslösten. Als zweifelhaft müsse angesehen werden, ob die Tatsache, daß der Grenzgänger bei einer vergleichbaren Beschäftigung im Inland sich auf Antrag von der Versicherungspflicht befreien lassen könne, berücksichtigt werden dürfe. Die bloße Wahrscheinlichkeit eines solchen Antrags bei einer Inlandsbeschäftigung schließe aber in keinem Fall die Versicherungspflicht nach § 1 der 4. DVO aus. Deshalb habe das LSG seine Entscheidung nicht auf die Vermutung stützen dürfen, der Kläger hätte bei einer Beschäftigung im Inland fristgerechte Befreiung in der Krankenversicherung beantragt. Da er seinerzeit nur einen Anspruch auf Übergangsgehalt von 239,34 DM monatlich besaß, müsse vielmehr angenommen werden, daß er bei einer Beschäftigung im Geltungsbereich des AVAVG keinen Antrag auf Befreiung von der Krankenversicherungspflicht gestellt hätte. Auf den Versicherungsschutz der Arbeitslosenversicherung dürfte er ebenfalls nicht verzichtet haben, da er von ihr nur befreit werden wolle, weil er glaube, Bezieher von Übergangsgehalt nach dem G 131 hätten keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Eine Befreiung des Klägers von der Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung könne auch nicht mittelbar aus § 73 des G 131 hergeleitet werden, da das AVAVG keine Vorschriften für die Befreiung von der Arbeitslosenversicherung auf Antrag kenne. Eine Befreiung des Klägers von der gesetzlichen Krankenversicherung sei nicht möglich, da seine Beschäftigung im Ausland gemäß § 165 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht der Krankenversicherungspflicht unterliege.
Die Beigeladene beantragt,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 24. Juli 1959 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten (soll heißen: der Beigeladenen) als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidungsgründe des LSG für zutreffend. Insbesondere habe dieses den mutmaßlichen Willen des Klägers richtig ausgelegt und festgestellt. Im übrigen habe der Gesetzgeber die Möglichkeit der Befreiung nicht von der Höhe der Versorgungsleistung (Übergangsgehalt) abhängig gemacht.
III. Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist zulässig, konnte jedoch keinen Erfolg haben.
Der Kläger unterfällt als Grenzgänger gemäß § 1 des Übereinkommens zwischen dem Deutschen Reich und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Arbeitslosenversicherung der Grenzgänger vom 4. Februar 1928 (RGBl II 311) hinsichtlich der Arbeitslosenversicherung den Vorschriften des AVAVG. Nach § 1 der 4. DVO (Verordnung zu § 197 Abs. 3 und 4 AVAVG) vom 18. April 1958 (BGBl I 304) sind Grenzgänger für den Fall der Arbeitslosigkeit versichert, wenn eine vergleichbare Beschäftigung bei Ausübung im Geltungsbereich des AVAVG versicherungspflichtig wäre. Falls der Kläger als Schreinermeister in der Bundesrepublik in einem Beschäftigungsverhältnis stehen würde. wäre er nach § 56 AVAVG also arbeitslosenversicherungspflichtig. Alsdann hätte er sich gemäß § 73 des G 131 auf Grund eines Antrags von der Versicherungspflicht in der Sozialversicherung und damit von der Arbeitslosenversicherungspflicht befreien lassen können, da gemäß § 56 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AVAVG eine Befreiung von der Kranken- oder Angestelltenversicherungspflicht die Befreiung von der Arbeitslosenversicherungspflicht zur Folge hat. Der Gesetzgeber geht in § 73 des G 131 dabei von dem allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts aus, daß eine Versicherungspflicht dann nicht gegeben ist oder eine Befreiung davon geboten erscheint, wenn die Alters- und Hinterbliebenenversorgung in anderer Weise, insbesondere durch beamtenrechtliche Vorschriften, sichergestellt ist (Brosche, Gesetz zu Art. 131 GG, § 73 Anm. 3).
IV. Bei dem Kläger als Beamten z. Wv. ist die Alters- und Hinterbliebenenversorgung durch die beamtenrechtlichen Vorschriften sichergestellt. Daher wird nach Auffassung des Senats kein sachbedingter oder vernunftgerechter Grund ersichtlich, warum der Kläger bei der Anwendung des § 73 des G 131 schlechter gestellt und ihm die Möglichkeit eines Befreiungsantrags nur deshalb genommen sein sollte, weil er nicht im Inland, sondern als Grenzgänger in der Schweiz arbeitet. Der Wortlaut des § 73 des G 131 bietet hierfür keine Anhaltspunkte. Er setzt für die Befreiung von der Versicherungspflicht eine nach sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften versicherungspflichtige Beschäftigung außerhalb des öffentlichen Dienstes voraus. Als Grenzgänger ist der Kläger kraft. ausdrücklicher Regelung zwar nur in der Arbeitslosenversicherung versicherungspflichtig. Er geht aber einer nach sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften versicherungspflichtigen Beschäftigung nach. Denn soweit der Gesetzgeber die Arbeitslosenversicherung nicht besonders erwähnt (wie in den vom LSG aufgeführten Beispielen), ist - jedenfalls bei Beschäftigungsverhältnissen berufsmäßiger Arbeitnehmer, für die in bezug auf Versicherungspflicht oder Versicherungsfreiheit eine Vergünstigung eröffnet wird - davon auszugehen, daß er die Arbeitslosenversicherung von dem Begriff Sozialversicherung im weiteren Sinne ebenfalls mit umfaßt wissen wollte. Im vorliegenden Falle spricht hierfür auch schon terminologisch, daß der Wortlaut des § 73 Abs. 1 des G 131 auf die Befreiung von der "Versicherungspflicht", nicht aber von der "Sozialversicherungspflicht" abstellt.
Das AVAVG enthält nun allerdings keine den §§ 173, 1230 RVO und § 7 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) entsprechenden Vorschriften. Daher wird es bisweilen (vgl. Anders, Gesetz zu Artikel 131 GG, 4. Aufl. § 73 S. 375 Anm. 6) für zweifelhaft gehalten, ob eine Befreiung in der Arbeitslosenversicherung möglich ist, wenn Versicherungspflicht in der Kranken- und Rentenversicherung der Angestellten nicht besteht. Der erkennende Senat ist jedoch mit Odendahl (vgl. Beitragsrecht 1961, S. 65, 69) und mit dem SG München (vgl. Beitragsrecht 1961, S. 89, 90) der Auffassung, daß die hinsichtlich der Befreiung von der Versicherungspflicht auf Antrag in der Arbeitslosenversicherung allein bestehende gesetzliche Lücke von dem Gesetzgeber des § 131 nicht beabsichtigt oder gewollt war. Diese ist deshalb im Wege der richterlichen Rechtsfindung nach dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers analog auszufüllen (vgl. BSG 6, 211). Aus der Erwägung heraus, daß der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung über den Antrag auf Befreiung von der Krankenversicherung und vor dem 1. März 1957 auch über Anträge auf Befreiung von der Angestelltenversicherungspflicht zu entscheiden hatte, ist deshalb § 73 des G 131 dahin zu ergänzen, daß auch über den Antrag auf Befreiung von der Arbeitslosenversicherungspflicht allein - bei Versicherungsfreiheit in der Sozialversicherung sonst - der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zuständig ist. Eine solche Ergänzung des Gesetzes entspricht der Analogie des Rechtszustandes vor dem 1. März 1957 für den unter das G 131 fallenden Personenkreis. Dieser Rechtsfindung steht die Neufassung der Verwaltungsvorschriften zu §§ 72 - 74 des G 131 vom 5. Januar 1961 (Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 9 vom 13. Januar 1961) nicht entgegen, die zu § 73 Nr. 5 Abs. 2 besagen: "Die Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung bewirkt zugleich Befreiung von der Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung. Gleiches bewirkt die Befreiung von der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung der Angestellten, wenn wegen Überschreitung der Jahresarbeitsverdienstgrenze eine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht besteht. Eine Befreiung von der Versicherungspflicht allein in der Arbeitslosenversicherung ist nicht zulässig". Jene Verwaltungsvorschriften sind als verwaltungsinterne Anordnungen für die Gerichte ohne bindende Wirkung. Aus ihnen ergibt sich außerdem lediglich, daß bei Kranken- oder Angestelltenversicherungspflicht eine Befreiung allein in der Arbeitslosenversicherung nicht eröffnet werden soll. Ob dies indessen auch für jenen Fall gelten kann, daß die Arbeitslosenversicherungspflicht allein besteht, ist aus den Verwaltungsvorschriften überhaupt nicht zu entnehmen.
Ziel und Zweck der in § 73 des G 131 getroffenen Regelung ist es, der freien Entscheidung des Beamten z. Wv. zu überlassen, ob er unter dem sozialen Versicherungsschutz stehen will oder nicht. Da diese seine Entschließung sich nur vorwirklichen läßt, wenn der Kläger trotz Nichtbestehens einer Kranken- oder Angestelltenversicherungspflicht die Möglichkeit erhält, sich von der Arbeitslosenversicherungspflicht befreien zu lassen, hat ihm die Krankenkasse im Antragswege eine entsprechende Befreiung zu gewähren.
§ 1 der 4. VO zur Durchführung des AVAVG schließt nicht aus, daß ein Grenzgänger, der dem Personenkreis nach G 131 zugehört, von der Pflicht zur Arbeitslosenversicherung auf Antrag befreit wird, wenn die sonstigen Voraussetzungen des § 73 G 131 erfüllt sind.
V. Die Revision der Beigeladenen war nach alledem zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen