Leitsatz (amtlich)
Ob ein Prozeßvergleich wirksam oder unwirksam ist, richtet sich weder nach RVO § 1744 noch nach SGG § 179 iVm ZPO § 578 bis ZPO § 591, sondern ausschließlich nach den einschlägigen Vorschriften des bürgerlichen Rechts (zB BGB § 119 und BGB § 779).
Die Entscheidung , ob ein Prozeßvergleich wirksam oder unwirksam ist, steht nicht dem Versicherungsträger (durch Bescheid), sondern ausschließlich den Gerichten zu.
Zuständig für diese Entscheidung ist ausschließlich dasjenige Gericht, vor welchem der Prozeßvergleich abgeschlossen worden ist. Das alte Verfahren ist fortzusetzen; eine neue Klage ist unzulässig.
Normenkette
RVO § 1744 Fassung: 1953-09-03; SGG § 179 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 578; BGB § 119 Fassung: 1896-08-18, § 779 Fassung: 1896-08-18; SGG § 101 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 16. Oktober 1956 wird abgeändert.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts in Bayreuth vom 22. Februar 1956 dahin geändert, daß der Bescheid der Beklagten vom 26. April 1955 zu Nr. 2 und 3 aufgehoben, die Klage im übrigen abgewiesen und die Beklagte verurteilt wird, die der Klägerin entstandenen außergerichtlichen Kosten aller Instanzen zur Hälfte zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die im Jahre 1886 geborene Klägerin ist Heimatvertriebene aus dem Sudetenland. Zur Begründung ihres am 7. November 1949 gestellten Antrages auf Gewährung von Witwenrente aus der Versicherung ihres am 18. März 1945 im Sudetenland verstorbenen Ehemannes Sigmund S... gab sie an, dieser sei vor dem ersten Weltkrieg in Berlin tätig gewesen, habe von April 1919 bis September 1932 als Schlossergehilfe bei der Firma H... in Schönau (CSR) gearbeitet und sei ab 1932 selbständiger Gewerbetreibender in Schönau gewesen. Die Beklagte lehnte den Anspruch durch Bescheid vom 13. März 1950 mit der Begründung ab, die Klägerin sei noch nicht invalide. Hiergegen legte diese Berufung ein. In dem Berufungsverfahren schlossen die Beteiligten in mündlicher Verhandlung vor dem früheren Oberversicherungsamt Nürnberg am 5. Juni 1951 folgenden Vergleich:
"1. Der Vertreter der Landesversicherungsanstalt erkennt auf Grund des gerichtsärztlichen Zeugnisses an, Witwenrente ab 1. Mai 1951 zu gewähren.
2. Die Klägerin nimmt daraufhin ihre Berufung zurück."
Am 20. September 1951 erließ die Beklagte daraufhin einen Bescheid über die Höhe der Rente. Der jährliche Rentenbetrag wurde ab Rentenbeginn mit 480,-- DM und ab 1. Juni 1951 mit 514,80 DM festgestellt. Als Zusatz wurde vermerkt: "Nach Eingang der vom tschechischen Versicherungsträger angeforderten Unterlagen wird die Rente nach der tatsächlichen Beitragsleistung umgerechnet". Der üblichen Rechtsmittelbelehrung wurde noch hinzugefügt: "Es wird jedoch ausdrücklich bemerkt, daß die Berufung nur hinsichtlich der Rentenhöhe zulässig ist."
Nachdem die Versicherungsunterlagen von dem tschechischen Versicherungsträger eingegangen waren und diese weniger Beiträge auswiesen, als bei Bescheiderteilung angenommen worden war, erteilte die Beklagte am 26. April 1955 folgenden Bescheid:
"1. Der Witwenrentenbescheid vom 20. September 1951 wird außer Kraft gesetzt.
2. Der Antrag auf Gewährung der Witwenrente vom 7. November 1949 wird abgewiesen.
3. Die Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Rentenbeträge bleibt einem besonderen Verfahren vorbehalten."
Die Versicherungsunterlagen ergäben, daß der Versicherte nur 45 Beitragsmonate zurückgelegt habe, so daß die Wartezeit nicht erfüllt sei.
Auf die hiergegen gerichtete Klage hob das Sozialgericht in Bayreuth mit Urteil vom 22. Februar 1956 den angefochtenen Bescheid auf und verurteilte die Beklagte zur Weiterzahlung der Witwenrente über den 30. April 1955 hinaus.
Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht durch Urteil vom 16. Oktober 1956 zurück. Der angefochtene Verwaltungsakt sei rechtswidrig, da er dem vor dem Oberversicherungsamt Nürnberg abgeschlossenen Prozeßvergleich widerspreche; ein Prozeßvergleich könne nicht durch Bescheid des Versicherungsträgers aufgehoben werden. Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses Urteil legte die Beklagte mit Schriftsatz vom 8. Januar 1957, eingegangen am 9. Januar 1957, Revision ein und begründete diese mit Schriftsatz vom 22. Februar 1957, eingegangen am 25. Februar 1957.
Sie ist der Auffassung, daß Vergleich und Bescheid vom 20. September 1951 eine Einheit seien; sie könnten von ihr nach § 1744 der Reichsversicherungsordnung (RVO) neu überprüft werden. Diese Überprüfung hätte zu Recht zum Widerruf der Rentengewährung geführt, da sich aus den übersandten Versicherungsunterlagen ergäbe, daß ein Anspruch überhaupt nicht bestünde. Zumindest habe sie durch ihren Bescheid vom 26. April 1955 und ihren Schriftsatz vom 24. Juni 1955 den Vergleich angefochten. Ein Anfechtungsgrund sei gegeben, weil bei Vergleichsabschluß beide Beteiligten - stillschweigend - davon ausgegangen seien, daß die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt seien. Zudem habe sie den Vergleich nicht abschließen dürfen, da sie nur dann Renten gewähren dürfe, wenn deren Voraussetzungen erfüllt seien. Die Klägerin verstoße auch gegen Treu und Glauben, wenn sie sich auf die Gültigkeit des Vergleichs berufe. Im übrigen dürfe sie den Bescheid nach allgemeinen Grundsätzen auch deshalb aufheben, weil er rechtswidrig sei.
Sie beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 16. Oktober 1956 und des Sozialgerichts in Bayreuth vom 22. Februar 1956 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Revisionsbeklagte stellt den Antrag,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist statthaft, weil das Landessozialgericht sie zugelassen hat. Sie konnte jedoch nur zum Teil Erfolg haben.
Wie das Berufungsgericht zu Recht entschieden hat, sind die Beteiligten an den vor dem früheren Oberversicherungsamt in Nürnberg am 5. Juni 1951 über den Grund des Anspruchs geschlossenen Vergleich grundsätzlich gebunden. Zwar kann auch ein Prozeßvergleich unwirksam sein. Ob dies jedoch der Fall ist, richtet sich entgegen der Annahme der Beklagten nicht nach den Vorschriften über die Nachprüfung bindender Bescheid (§ 1744 RVO in der Fassung des § 220 Nr. 18 SGG) - diese Vorschriften sind ebensowenig anwendbar wie die über die Wiederaufnahme des Verfahrens bei rechtskräftigen Urteilen (§ 179 SGG i.V. mit §§ 578 ff. ZPO) -, sondern ausschließlich nach den einschlägigen Vorschriften des bürgerlichen Rechts (z.B. §§ 119, 779 BGB), gegen deren Anwendung keine Bedenken bestehen, da der Prozeßvergleich zumindest auch materieller Natur ist (Stein-Jonas; Kommentar zur ZPO, 18. Aufl., Anm. VI vor § 128, II 3 zu § 794; Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., § 128 III; RGZ. 57, 257; 123, 85; 153, 65; a.A. Baumbach, Kommentar zur ZPO, 25. Aufl., Anm. 6 A zu § 307). Die Entscheidung, ob ein Prozeßvergleich nach diesen Vorschriften wirksam oder unwirksam ist, steht allein den Gerichten zu, da unter ihrer Autorität der Vergleich zustandegekommen ist. Der Versicherungsträger hat den Vergleich als Prozeßpartei auf gleicher Ebene mit dem Versicherten abgeschlossen und kann nun nicht einseitig kraft seiner hoheitlichen Gewalt den Vergleich durch Bescheid wieder für unwirksam erklären. Dazu fehlt ihm eine gesetzliche Ermächtigung. Will er eine Entscheidung herbeiführen, so steht ihm nur derjenige Weg offen, der auch zum Abschluß des Prozeßvergleichs geführt hat, der der Anrufung der Gerichte.
Die Beklagte irrt auch, wenn sie meint, der Prozeßvergleich und der auf Grund dieses Vergleichs ergangene Bescheid vom 20. September 1951 seien als Einheit zu betrachten. Wenn dieser Bescheid auch noch einmal auf die in dem Vergleich ausgesprochene Anerkennung des Anspruchs hinweist, so hat dies doch nur deklaratorische Bedeutung; maßgebend allein ist die Anerkennung des Anspruchs der Klägerin in dem Vergleich selbst. Der Bescheid vom 20. September 1951 hat in Wirklichkeit Bedeutung nur hinsichtlich der Höhe der Rente. Die Beklagte hat dies auch selbst dadurch zum Ausdruck gebracht, daß sie in diesem Bescheid vermerkt, der Bescheid sei nur wegen der Rentenhöhe anfechtbar. Der den Grund des Anspruchs betreffende Vergleich und der die Höhe des Anspruchs betreffende Bescheid sind daher getrennt zu behandeln. Zuständig ist ausschließlich dasjenige Gericht, vor welchem der Prozeßvergleich geschlossen worden ist; denn falls der Vergleich unwirksam ist, ist auch die ein Teil des Vergleichs bildende Klage- oder Rechtsmittelrücknahme unwirksam, so daß das alte Verfahren noch rechtshängig ist; dies würde einem neuen Verfahren entgegenstehen. Zudem wäre es aus prozeßökonomischen Gründen nicht vertretbar, wenn in derselben Sache zwei Prozesse geführt würden. Einer neuen Klage, auch einer Feststellungsklage, würde das Rechtsschutzbedürfnis fehlen. Es bestehen daher keine Bedenken, der im Zivilprozeß herrschenden Meinung auch im sozialgerichtlichen Verfahren zu folgen (Stein-Jonas a.a.O. § 794 II 3a; Rosenberg a.a.O. § 128 III 3; Baumbach a.a.O. Anm. 6 B zu Anh. § 307; zweifelnd RG.-Räte-Kommentar, 10. Aufl., Anm. 11 d zu § 779; anders die Rechtsprechung des ehemaligen Reichsgerichts, RGZ. 65, 420; 78, 288; 106, 312; 141, 106; 142, 5; wenn auch zuletzt in RGZ. 162, 200 ebenso wie der BGH. in BGHZ. 16, 391 die Frage offenlassen). Die Beklagte durfte nach alledem den Bescheid vom 26. April 1955 zu Nr. 2 des Tenors, durch welchen sie zumindest incidenter den Prozeßvergleich für unwirksam erklärte, nicht erlassen. Ob der Prozeßvergleich unwirksam ist, insbesondere ob er, wie die Beklagte meint, wirksam angefochten ist, kann nach alledem nicht im anhängigen Verfahren, sondern nur in dem alten Verfahren entschieden werden. Dieses ist, falls der Vergleich und damit die Berufungsrücknahme tatsächlich unwirksam ist, nach § 215 Abs. 2 SGG auf das Sozialgericht übergegangen, da es dann beim Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes noch bei dem Oberversicherungsamt rechtshängig war. Würde aber der Prozeßvergleich nicht unwirksam sein, müßte in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift dennoch das örtlich zuständige Sozialgericht darüber entscheiden, da andernfalls in diesen Übergangsfällen eine solche Entscheidung in dem alten Verfahren nicht getroffen werden könnte. Es muß aber angenommen werden, daß der Gesetzgeber mit dieser Übergangsvorschrift erreichen wollte, daß alle in den alten Verfahren noch zu treffenden Entscheidungen von dem ab. 1 Juni 1954 zuständigen Sozialgericht getroffen werden sollten. Auch zu Nr. 3 seines Tenors mußte der angefochtene Bescheid aufgehoben werden, da die Feststellung, die Rückforderung zuviel gezahlter Beiträge bleibe vorbehalten, überflüssig ist, weil der Beklagten dieses Recht ohnedies zusteht. Ein anzuerkennendes Interesse für einen solchen Vorbehalt besteht daher nicht.
Das angefochtene Urteil entspricht somit, ebenso wie das Urteil des Sozialgerichts, insoweit der Rechtslage und mußte daher in diesem Umfang bestätigt werden. Demgegenüber durfte aber der angefochtene Bescheid zu Nr. 1 seines Tenors nicht aufgehoben werden; denn der Beklagten stand das Recht zu, den die Höhe der Rente betreffenden Bescheid vom 20. September 1951 nach § 1744 i.V. mit § 1723 Nr. 6 RVO a.F. aufzuheben, da die Voraussetzungen dieser Vorschriften erfüllt sind. Die Beklagte ist erst durch die nach Erlaß dieses Bescheids bei ihr eingegangenen Versicherungsunterlagen - Urkunden im Sinne dieser Vorschriften - in den Stand gesetzt worden, diese zu benutzen, da diese weniger Beiträge ausweisen, als bei Erlaß des Bescheids vom 20. September 1951 angenommen wurde, ergibt sich durch ihre Benutzung eine für die Beklagte günstigere Rentenberechnung. Die Beklagte wird allerdings der Klägerin nunmehr entsprechend diesen Versicherungsunterlagen einen neuen Bescheid über die Höhe der Rente zu erteilen haben, es sei denn, daß sie das alte Verfahren fortsetzt und in diesem der Prozeßvergleich als unwirksam angesehen und die Klage abgewiesen würde.
Das angefochtene Urteil und - auf die Berufung der Beklagten - das Urteil des Sozialgerichts mußten, da sie dieser Rechtslage nicht in vollem Umfang Rechnung tragen, entsprechend abgeändert werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 926339 |
BSGE, 279 |
NJW 1958, 1463 |
MDR 1958, 801 |
DVBl. 1959, 151 |