Entscheidungsstichwort (Thema)
West- und Ostpreußen
Leitsatz (redaktionell)
Nicht ausländische Gebiete sind die ehemals inländischen Gebiete bzw Gebietsteile für die Zeit ihrer Zugehörigkeit zum Inland.
Normenkette
FRG § 16 Fassung: 1960-02-25
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 16. September 1964 wird zurückgewiesen.
Kosten sind der Klägerin auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
Der 1889 geborene Ehemann der Klägerin erhielt nach seinem Zuzug in die Bundesrepublik vom 1. August 1958 bis zu seinem Tode am 22. Dezember 1962 von der Beklagten Altersruhegeld. Er war als Buchhalter von Oktober 1908 bis Februar 1915 in K und - nach Kriegsdienst von Januar 1915 bis Januar 1919 - von März 1919 bis August 1939 in A, Kreis S, beschäftigt. Die Entrichtung von Beiträgen für die Zeiten vor dem 1. Januar 1929 wurde nicht glaubhaft gemacht. Mit Bescheid vom 12. Juni 1961 lehnte die Beklagte die Anrechnung der Zeiten vor dem 1. Januar 1929 als Beschäftigungszeiten im Sinne von § 16 des Fremdrentengesetzes (FRG) und der Kriegsdienstzeit als Ersatzzeit ab. Die hiergegen gerichtete Klage blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts - SG - Nürnberg vom 27. März 1962). Der Ehemann der Klägerin legte Berufung ein, nach seinem Tode setzte die Klägerin das Verfahren fort. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung zurück (Urteil vom 16. September 1964); es führte aus: § 16 FRG erfasse nur Beschäftigungen, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) genannten "ausländischen" Gebieten (oder nach dem 8. Mai 1945 in den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten) verrichtet worden seien. Der Kreis S, in dem der Ehemann der Klägerin von 1919 bis nach 1928 beschäftigt gewesen sei, habe "politisch zu Westpreußen" gehört, liege jedoch "geographisch in Ostpreußen", Ostpreußen sei aber kein "ausländisches" Gebiet im Sinne von § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG. Auch in der Zeit von 1908 bis 1915, in der der Ehemann der Klägerin in Westpreußen (in K) beschäftigt gewesen sei, habe er sich nicht in einem "ausländischen" Gebiet befunden, weil das Gebiet des früher zu Westpreußen gehörenden sog. "Korridors", das in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen polnisches Gebiet gewesen sei, vorher zum Deutschen Reich gehört habe. § 16 FRG verweise nur auf Abs. 2 Nr. 3 des § 1 BVFG, nicht jedoch auch auf dessen Abs. 1, die mit der Verweisung genannten Gebiete deckten sich daher nicht mit den in Abs. 1 aufgeführten "Vertreibungsgebieten". Solange für die Beschäftigungsverhältnisse deutsches Reichsrecht unmittelbar gegolten habe, komme § 16 FRG nicht zum Zuge. Das LSG ließ die Revision zu.
Die Klägerin legte frist- und formgerecht Revision ein, sie beantragte,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Nürnberg vom 27. März 1962 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 12. Juni 1961 abzuändern und diese zu verurteilen, die Beschäftigungszeiten des verstorbenen Ehemannes der Klägerin vom 1. Oktober 1908 bis 15. Januar 1915 und vom 1. Februar 1919 bis 31. Dezember 1928 der Rentenberechnung zugrunde zu legen sowie die Kriegsdienstzeit von Januar 1915 bis Januar 1919 als Ersatzzeit anzurechnen;
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Zur Begründung trug sie vor: Zwar habe in den hier in Betracht kommenden Gebieten und Zeiten das Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) als unmittelbares Reichsrecht gegolten. Der Ehemann der Klägerin sei aber Vertriebener im Sinne von § 1 FRG i. V. m. § 1 BVFG, er habe die streitigen Beschäftigungen in Gebieten verrichtet, die in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG genannt seien; diese Beschäftigungen seien daher nach § 16 FRG anzurechnen. Der Begriff der "ausländischen" Gebiete im Sinne von § 16 FRG vertrage im Hinblick auf den diesem Gesetz zugrunde liegenden Eingliederungsgedanken eine Einschränkung auch dann nicht, wenn sich das frühere Versicherungsleben auf einem ehemals deutschen Territorium abgespielt habe.
Die Beklagte und die zum Verfahren beigeladene Landesversicherungsanstalt Unterfranken beantragten,
die Revision zurückzuweisen.
Alle Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist jedoch nicht begründet.
Da das LSG die Entrichtung von Versicherungsbeiträgen für die streitigen Zeiten von Oktober 1908 bis Februar 1915 und von März 1919 bis Dezember 1928 nicht als glaubhaft gemacht angesehen hat und Revisionsrügen hiergegen nicht erhoben sind (§ 163 SGG), ist allein zu prüfen, ob das LSG zu Recht diese Zeiten nicht als Beschäftigungszeiten im Sinne von § 16 FRG angesehen hat. Dies ist zu bejahen.
Wie der erkennende Senat bereits in dem Urteil vom 24. Februar 1967 (SozR Nr. 9 zu § 16 FRG) unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Urteile des 1. Senats vom 30. August 1966 - SozR Nr. 7 zu § 16 FRG - und des 4. Senats vom 13. Mai 1966 - 4 RJ 9/63 -) dargelegt hat, scheiden bei der Anwendung des § 16 FRG, erste Alternative (die zweite Alternative, die Beschäftigungszeiten nach dem 8. Mai 1945 in den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten betrifft, kommt hier zeitlich nicht in Betracht), von den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG genannten Gebieten jedenfalls alle nicht ausländischen Gebiete aus. "Nicht ausländische" Gebiete in diesem Sinne sind (neben den besonders genannten unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten) die ehemals inländischen (= deutschen) Gebiete bzw. Gebietsteile für die Zeit ihrer Zugehörigkeit zum Inland. Die Gebiete, in denen der Ehemann der Klägerin während der hier streitigen Zeiten beschäftigt gewesen ist, sind damals Inland gewesen. Der Kreis Stuhm, in dem der Ehemann der Klägerin von 1919 bis 1928 (und weiterhin) beschäftigt gewesen ist, hat damals - nach der Errichtung des sogenannten "Korridors" - zu Ostpreußen gehört. K, wo der Ehemann der Klägerin von 1908 bis 1915 beschäftigt gewesen ist, hat damals zu Westpreußen gehört; daß später, in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, ein Teil der ehemaligen Provinz Westpreußen (darunter K) zum Gebiet des "Korridors", also zu Polen gehört hat, ist hier ohne Bedeutung. Beschäftigungszeiten im Inland können aber nicht nach § 16 FRG angerechnet werden. Hieran ändert nichts, daß der Ehemann der Klägerin Vertriebener im Sinne von § 1 BVFG gewesen ist. Der Sinn und Zweck des § 16 FRG, der die Gleichstellung der Vertriebenen mit den Einheimischen anstrebt (Eingliederungsprinzip), erfordert keine Anrechnung von (beitragslosen) Beschäftigungszeiten bei Vertriebenen, wenn die Beschäftigung im Inland unter der Geltung deutschen Rechts verrichtet worden ist; andernfalls würden die Vertriebenen (und ihre Hinterbliebenen) nicht gleich, sondern besser gestellt als die Einheimischen; da Einheimischen Beschäftigungszeiten nur angerechnet werden, wenn dafür auch Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden sind, kann für Vertriebene, die ebenso wie Einheimische unter der Herrschaft deutschen Rechts im deutschen Inland beschäftigt gewesen sind, nichts anderes gelten.
Das LSG hat daher zu Recht die Anrechnung der Beschäftigungszeiten des Ehemannes der Klägerin von 1908 bis 1915 und 1919 bis 1928 nach § 16 FRG abgelehnt. Es hat auch zu Recht die Anrechenbarkeit der Kriegsdienstzeit des Ehemannes der Klägerin von 1915 bis 1919 verneint. Diese Kriegsdienstzeit ist zwar eine Ersatzzeit im Sinne von § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG; sie kann jedoch nach § 28 Abs. 2 Buchst. a AVG nicht angerechnet werden, weil eine Versicherung vorher nicht bestanden hat und auch nicht innerhalb von zwei bzw. drei Jahren nach Beendigung der Ersatzzeit eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist; die Beschäftigung, die der Ehemann der Klägerin 1919 aufgenommen hat, ist eine "rentenversicherungspflichtige" Beschäftigung deshalb nicht gewesen, weil Beiträge für sie in der in § 28 Abs. 2 Buchst. a AVG genannten Zeit nicht entrichtet worden sind (Urteil des BSG vom 28.2.1964, BSG 20, 184).
Die Revision der Klägerin ist sonach unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen