Leitsatz (amtlich)
Soll eine steuerbegünstigte Wohnung geschaffen werden, hängt der Unfallversicherungsschutz für die beim Bau des Familienheims im Rahmen der Selbsthilfe Tätigen (RVO § 539 Abs 1 Nr 15 S 1) davon ab, daß das Bauvorhaben im Unfallzeitpunkt den Voraussetzungen für die spätere Anerkennung (2. WoBauG § 82) entsprochen hat; wann die Steuerbegünstigung beantragt und durch Bescheid anerkannt wurde (2. WoBauG § 83), ist unerheblich.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 15 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 537 Nr. 13 Fassung: 1956-06-27; WoBauG 2 § 83 Abs. 3 Fassung: 1961-08-01, § 82 Fassung: 1961-08-01
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 10. November 1967 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der im August 1941 geborene Maschinenschlosser W E (E.), Mitglied der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) M, begann im November 1962 mit dem Neubau eines Wohnhauses. Zu dem - nicht öffentlich geförderten - Bauvorhaben wurde kein Unternehmer zugezogen, die Arbeiten wurden von E. selbst mit Hilfe von zwei Verwandten und einem angeworbenen Maurer verrichtet; eine freiwillige Unfallversicherung (UV) hatte E. nicht abgeschlossen. Am 8. Juni 1963 fiel E. beim Transport von Steinen vom Gerüst und erlitt einen Fersenbeinbruch. Auf den Rat der zunächst mit dem Unfall befaßten Bau-Berufsgenossenschaft beantragte E. mit Schreiben vom 26. Juli 1963 beim Landratsamt A die Anerkennung seines Bauvorhabens als steuerbegünstigt nach § 83 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes idF vom 1. August 1961 (II. WohBauG, BGBl I 1121). Durch vorläufigen Bescheid vom 10. Oktober 1963 erkannte das Landratsamt das Bauvorhaben als steuerbegünstigt unter der Voraussetzung an, daß E. zu gegebener Zeit den amtlichen Nachweis über die Bezugsfertigkeit der Wohnung erbringe sowie - nach inzwischen erfolgter Eheschließung - die Wohnung mit seiner Ehefrau bezogen habe und als Dauerwohnung nutze.
Der auf Grund des § 657 Abs. 1 Nr. 8 der Reichsversicherungsordnung (RVO idF durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz - UVNG - vom 30. April 1963) zuständig gewordene Gemeindeunfallversicherungsverband lehnte durch Bescheid vom 26. Januar 1965 den Entschädigungsanspruch mit der Begründung ab, der - seit dem 1. August 1964 verheiratete - E. habe die im Bescheid des Landratsamts erteilten Auflagen nicht erfüllt und stehe somit nicht unter dem UV-Schutz nach § 539 Satz 1 Nr. 15 RVO.
Die AOK, der eine Ausfertigung des Ablehnungsbescheids zugestellt worden war, erhob hiergegen Klage, zu deren Begründung sie geltend machte, das Landratsamt habe mit Schreiben vom 1. April 1965 seinen vorläufigen Anerkennungsbescheid bis zur Bezugsfertigkeit der Neubauwohnung aufrechterhalten, E. habe das im Mai 1966 bezugsfertige Wohnhaus alsdann mit seiner Familie bezogen. Durch Urteil vom 30. Januar 1967 hat das Sozialgericht (SG) Koblenz den Bescheid des Beklagten aufgehoben und festgestellt, bei dem Unfall des E. vom 8. Juni 1963 handele es sich um einen vom Beklagten zu entschädigenden Arbeitsunfall.
Im Verfahren über die Berufung des Beklagten ist E. beigeladen worden. Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat durch Urteil vom 10. November 1967 (Breith. 1968, 473) das SG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. - Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 27. November 1967 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 5. Dezember 1967 Revision eingelegt mit dem Antrag,
unter Aufhebung des LSG-Urteils die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Innerhalb der bis zum 27. Februar 1968 verlängerten Frist hat der Prozeßbevollmächtigte die Revision folgendermaßen begründet: Das LSG habe § 537 Nr. 13 RVO aF unrichtig angewandt. Es komme nicht darauf an, ob der Beigeladene bereits zur Zeit des Baubeginns verheiratet gewesen sei; entscheidend sei vielmehr, daß - wie die spätere Entwicklung bestätige - die Wohnung bei Fertigstellung als Familienheim benutzt werden sollte. Entgegen der Ansicht des LSG wirke die behördliche Anerkennung nicht konstitutiv. Die in § 5 Abs. 2 II. WohBauG enthaltene Begriffsbestimmung der steuerbegünstigten Wohnung werde nach § 537 Nr. 13 RVO aF für den Bereich der UV dahin modifiziert, daß Wohnungen geschaffen werden sollen, die als steuerbegünstigte Wohnungen im Sinne des II. WoBauG anerkannt werden können. Es würde den gesetzlichen Zwecken widersprechen und eine Unbilligkeit gegen den meist rechtsunkundigen Bauwilligen bedeuten, wenn man den UV-Schutz von der Einhaltung formeller Voraussetzungen, insbesondere der Einleitung eines Anerkennungsverfahrens vor dem Eintritt des Unfalls abhängig mache; vielmehr müsse nach dem Sinn und Zweck des § 537 Nr. 13 RVO aF die Erfüllung der materiellen Voraussetzungen genügen. Die geplante Zweckbestimmung könne sich nicht - wie das LSG annehme - ausschließlich aus der Antragstellung nach § 83 II. WoBauG, sondern auch aus den Gesamtumständen ergeben; insbesondere werde sich der in aller Regel schon bei Baubeginn vorliegenden Finanzierungs- und Bauplanung entnehmen lassen, ob die geplante Wohnung hinsichtlich Größe und Nutzungsart den Anforderungen für eine Anerkennung als steuerbegünstigte Wohnung entspreche.
Der Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Er pflichtet dem angefochtenen Urteil bei und meint, der UV-Schutz für den Beigeladenen sei entfallen, weil dieser im Unfallzeitpunkt noch unverheiratet gewesen sei, jedenfalls aber versäumt habe, die Anerkennung des Bauvorhabens als steuerbegünstigte Wohnung rechtzeitig in die Wege zu leiten.
Der im Revisionsverfahren nicht entsprechend § 166 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vertretene Beigeladene hat keine Erklärung abgegeben.
II
Die durch Zulassung gemäß § 166 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Revision ist auch formgerecht begründet worden; an der Postulationsfähigkeit der von der Klägerin bevollmächtigten Verbandsangestellten besteht kein Zweifel (vgl. BSG 2, 159). Die Revision hat auch insofern Erfolg, als die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückverwiesen werden muß.
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß als Grundlage des von der Klägerin nach § 1511 RVO verfolgten Entschädigungsanspruchs des Beigeladenen noch § 537 Nr. 13 RVO in der bis zum 30. Juni 1963 geltenden Fassung (RVO aF) in Betracht kommt (Art. 4 §§ 1, 2, 16 UVNG). Da indessen diese Vorschrift mit dem vom Beklagten und vom SG herangezogenen § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO übereinstimmt (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 6. Aufl., 474 v), würde die Gesetzesänderung auf die Beurteilung der Rechtslage ohnehin keinen entscheidenden Einfluß haben.
Das LSG meint, der Beigeladene E. sei bei seinem Unfall am 8. Juni 1963 nicht gemäß § 537 Nr. 13 RVO aF versichert gewesen, weil damals sein Bauvorhaben noch nicht als steuerbegünstigt anerkannt, das Anerkennungsverfahren sogar noch nicht einmal durch die Antragstellung (§ 83 Absätze 1, 2 des II. WoBauG) eingeleitet worden war. Dies folge aus dem Grundsatz, daß die Bejahung des UV-Schutzes nur an solche Tatbestandsvoraussetzungen anknüpfen könne, die bereits im Unfallzeitpunkt gegeben und feststellbar seien; die Absicht, ein steuerbegünstigtes Familienheim zu errichten, müsse daher schon vor dem Unfall nach außen hin ihren Ausdruck gefunden haben.
Die Frage, ob der vorläufige Anerkennungsbescheid des Landratsamts vom 10. Oktober 1963 etwa ex tunc wirksam wurde; ist hierbei vom LSG mit Recht verneint worden. Wegen der für den vorliegenden Sachverhalt maßgeblichen Begriffsbestimmung "steuerbegünstigte Wohnung" verweist § 537 Nr. 13 Satz 3 RVO aF auf § 5 des II. WoBauG, aus dessen Abs. 2 iVm § 83 Abs. 3 II. WoBauG das LSG zutreffend gefolgert hat, daß der Anerkennungsbescheid vom 10. Oktober 1963 dem Bauvorhaben des Beigeladenen keinesfalls mit Rückwirkung bis zum Unfalltag die Eigenschaft einer steuerbegünstigten Wohnung verleihen konnte; für das Wirksamwerden des Bescheids war vielmehr der Zeitpunkt maßgebend, an dem er dem Beigeladenen zuging (vgl. Fischer-Dieskau, Komm. zum II. WoBauG, Anm. 4 zu § 83).
Das LSG hat jedoch - wie die Revision mit Recht geltend macht - der Anerkennungsprozedur des § 83 II. WoBauG eine Bedeutung beigelegt, welche diesen Vorgängen - Antragstellung, Bescheiderteilung, Wirksamwerden des Anerkennungsbescheids - bei der Anwendung des § 537 Nr. 13 RVO aF nicht notwendigerweise zukommt. § 537 Nr. 13 Satz 1 RVO aF setzt nicht voraus, daß das Bauvorhaben eine bereits als steuerbegünstigt anerkannte Wohnung betrifft, sondern daß durch dasselbe eine steuerbegünstigte Wohnung geschaffen werden "soll". Der Errichtung eines Familienheims ist es aber eigentümlich, daß während der Bautätigkeit Voraussetzungen, die bei ihrem Abschluß gegeben sein müssen, noch nicht verwirklicht sind. So kann das Familienheim naturgemäß überhaupt erst nach Vollendung des Baues bezugsfertig sein. Die "Familie" (§ 8 des II. WoBauG), die das Heim schließlich bewohnen wird, braucht nicht schon während der Bauarbeiten zu bestehen und in einem Haushalt zusammenzuleben, vielmehr genügt es, daß sie alsbald nach Fertigstellung des Bauvorhabens gegründet wird und das Familienheim bezieht (Abs. 1 aaO); demnach kann also auch ein zur Zeit des Unfalls noch Lediger - wie hier der Beigeladene E. - während der Ausübung seiner Selbsthilfetätigkeit den Bau eines "Familienheims" betreiben.
Schon hieran zeigt sich, daß der vom LSG angeführte allgemeine Grundsatz, die Bejahung des UV-Schutzes könne nur an im Unfallzeitpunkt bereits feststellbare Tatbestandsvoraussetzungen anknüpfen, im Fall des § 537 Nr. 13 RVO aF bei starrer Handhabung zu sinnwidrigen Ergebnissen führen würde. Dieser Grundsatz bedarf also hier einer die Besonderheiten dieser Vorschrift berücksichtigenden Anwendung, was auch für das Merkmal der Steuerbegünstigung gilt. Um den UV-Schutz nach § 537 Nr. 13 RVO aF am 8. Juni 1963 für den Beigeladenen E. zu begründen, mußte damals feststellbar sein, daß er im Rahmen der Selbsthilfe (§ 36 II. WoBauG) beim Bau eines Familienheims (§§ 7, 8 II. WoBauG) tätig war und daß durch dieses Bauvorhaben eine steuerbegünstigte Wohnung geschaffen werden "sollte". Gewiß hätte E. seine Absicht, eine steuerbegünstigte Wohnung zu schaffen, von vornherein dadurch zum Ausdruck bringen können, daß er schon vor Baubeginn die Anerkennung beantragte (§ 83 Abs. 2 II. WoBauG). Daraus, daß ihm diese Möglichkeit eröffnet war, folgert das LSG jedoch zu Unrecht, er hätte von ihr auch Gebrauch machen müssen, um für seine Selbsthilfetätigkeit den UV-Schutz zu erlangen. Dem Gesetz ist eine solche Umdeutung einer Befugnis des Bauherrn in eine Verpflichtung nicht zu entnehmen.
Nach dem Sinn des § 537 Nr. 13 RVO aF kommt es vielmehr für den UV-Schutz allein darauf an, daß das Bauvorhaben im Unfallzeitpunkt nachweislich den Voraussetzungen für die spätere Anerkennung entsprochen hat; in diesem Zeitpunkt muß also das Bauvorhaben die Merkmale aufgewiesen haben, die nach § 82 des II. WoBauG eine steuerbegünstigte Wohnung kennzeichnen; dies wird sich in der Regel auf Grund der für die Baugenehmigung eingereichten Unterlagen - eventuell mit den bis zum Unfallzeitpunkt vorgenommenen Änderungen - feststellen lassen. Hierdurch besteht nach Meinung des Senats hinreichende Gewähr dafür, daß der UV-Schutz nicht - wie das LSG befürchtet - nach Eintritt des Unfalls noch manipuliert werden kann. Zum Ausschluß solcher Manipulationen bedarf es jedenfalls im allgemeinen nicht einer Abgrenzung des UV-Schutzes, welche die Einleitung des Anerkennungsverfahrens (§ 83 II. WoBauG) zum entscheidenden Tatbestandsmerkmal erhebt. Wann die Steuerbegünstigung beantragt und durch Bescheid anerkannt wurde - spätester Zeitpunkt hierfür ist die Bezugsfertigkeit des Familienheims (vgl. Fischer-Dieskau aaO Nachtrag zu § 82 Anm. 23) -, ist demnach für die Abgrenzung des UV-Schutzes nach § 537 Nr. 13 RVO aF unerheblich.
Das LSG hat hiernach zu Unrecht den Versicherungsschutz für den Unfall des Beigeladenen deshalb verneint, weil dieser am 8. Juni 1963 noch nicht die Anerkennung der Steuerbegünstigung in die Wege geleitet hatte. Das angefochtene Urteil ist daher auf die begründete Revision aufzuheben.
Ob die vom Senat als entscheidungserheblich erachteten Anspruchsvoraussetzungen am 8. Juni 1963 erfüllt waren, ist den vom LSG getroffenen Feststellungen nicht hinreichend klar zu entnehmen. Zwar läßt der Umstand, daß der am 8. Juni 1963 verunglückte Beigeladene schon Ende Juli die Anerkennung der Steuerbegünstigung beantragt und sie im Oktober dann auch erhielt, die Vermutung zu, daß bereits am Unfalltag sein Bauvorhaben den Voraussetzungen für die spätere Anerkennung entsprochen hat. Ausdrückliche Feststellungen darüber, welche Planungsunterlagen für das Bauvorhaben im Unfallzeitpunkt bestanden, hat das LSG jedoch nicht getroffen. Der Senat kann deshalb nicht in der Sache selbst entscheiden und muß den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG), dem auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens obliegt.
Fundstellen