Leitsatz (redaktionell)
Die Regelung des RVO § 1243 Abs 2 geht stets derjenigen des RVO § 1286 vor.
Normenkette
RVO § 1243 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1286 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. September 1972 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger die Rente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1286 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) entzogen werden darf.
Der im Jahre 1920 geborene Kläger ist gelernter Metallformer. Er übte diesen Beruf von 1936 bis März 1965 aus. Nachdem die Maschinenbau- und Kleineisenindustrie-Berufsgenossenschaft die beim Kläger erstmals im Jahre 1965 aufgetretene Staublungentuberkulose als Berufskrankheit anerkannt hatte, gewährte ihm die Beklagte die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit vom 5. Juli 1967 an. Dem Rentenbescheid vom 22. August 1968 lag das Gutachten des Facharztes für Lungenkrankheiten Dr. H vom 22. Juni 1967 zugrunde, der den Kläger als Metallformer nicht mehr für einsatzfähig hielt. Leichte bis mittelschwere Arbeiten könne er jedoch noch ganztägig verrichten.
Seit September 1968 ist der Kläger in einer Stoßdämpferfabrik mit einer sitzenden Tätigkeit als Kontrolleur beschäftigt. Bereits ein Jahr vorher hatte die Beklagte die Durchführung der für erforderlich gehaltenen Berufsförderung beim Arbeitsamt Bonn veranlaßt. Dieses teilte der Beklagten im Schreiben vom 15. Juli 1969 folgendes mit:
"Anläßlich eines mit dem o. a. Versicherten geführten Beratungsgespräches bezüglich seines beruflichen Ansatzes in der Firma B GmbH - Stoßdämpferfabrik-, Eitorf, gab Gr. bekannt, daß sein jetziger Arbeitsplatz als Kontrolleur ihm sehr zusage, da er diese Tätigkeit sitzend verrichten könne. Außerdem sei es für ihn wichtig, bei dieser Tätigkeit keiner nervlichen Belastung ausgesetzt zu sein. Sein Stundenlohn betrage zur Zeit 3,85 DM. Eine Umsetzung auf einen qualifizierten Arbeitsplatz werde von ihm nicht gewünscht, da er bei seiner jetzigen Tätigkeit verbleiben möchte.
Ich betrachte somit die Angelegenheit als erledigt und habe den Rehabilitationsfall abgeschlossen."
Im Nachuntersuchungsgutachten vom 7. August 1970 beurteilte der Sachverständige Dr. H die Einsatzfähigkeit wiederum dahin, daß der Kläger noch leichte bis mittelschwere Arbeiten 8 Stunden täglich verrichten könne. Die Beklagte entzog dem Kläger die Rente ab 1. Februar 1971 mit der Begründung, der Kläger habe sich geweigert, eine qualifizierte Umschulung durchführen zu lassen; danach sei er auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu verweisen und nicht mehr berufsunfähig (Bescheid vom 1. Dezember 1970).
Das Sozialgericht (SG) gab der Klage statt (Urteil vom 4. Juni 1971). Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hielt die Voraussetzungen für die Entziehung der Rente nach § 1286 Abs. 1 RVO nicht für gegeben. Die gesundheitlichen Verhältnisse hätten sich gegenüber der Zeit der Rentenbewilligung nicht geändert. Der Kläger habe auch keine neuen Kenntnisse und Fähigkeiten erworben. Eine beharrliche Verweigerung der Umschulung lasse sich nach Lage des Falles ebenfalls nicht feststellen. Insbesondere könne sie nicht aus dem von der Beklagten zur Begründung ihrer Entziehungsentscheidung angeführten Schreiben des Arbeitsamtes Bonn vom 15. Juli 1969 entnommen werden, weil sich der Kläger damals nur "zu seinem derzeitigen beruflichen Ansatz in der Fa. B GmbH", nicht aber zu einer konkreten Umschulungsofferte dahin geäußert habe, daß er bei seiner jetzigen Tätigkeit verbleiben möchte. Aber selbst wenn eine beharrliche Verweigerung der Umschulung durch den Kläger vorläge, könne § 1286 RVO auf diesen Sachverhalt nicht angewandt werden. Dafür sehe § 1243 Abs. 2 RVO die Möglichkeit der Versagung der Rente auf Zeit vor. Diese Regelung gehe derjenigen in § 1286 RVO vor (Urteil vom 13. September 1972).
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt, das LSG habe die ihm gesetzten Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung insofern überschritten, als es zu dem Ergebnis gekommen sei, daß eine Änderung in den Verhältnissen im Sinne des § 1286 RVO nicht vorliege und dem Kläger weiterhin Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren sei.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Köln vom 4. Juni 1971 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision ist nicht begründet.
Das LSG hat festgestellt, daß sich gegenüber der Zeit der Bewilligung der Rente (August 1968) die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers nicht geändert haben und daß seitdem der Kläger auch keine neuen Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat. Da hiergegen keine Revisionsangriffe erhoben worden sind, ist das Revisionsgericht an diese Feststellungen gebunden (§ 163 SGG).
Die Revision sieht eine zur Rentenentziehung gemäß § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO berechtigende Änderung in den Verhältnissen des Klägers allein darin, daß der Kläger die von der Beklagten vorgesehene Umschulung verweigert und dadurch den - auch nach Auffassung der Revision ursprünglich bestehenden - Berufsschutz als gelernter Former und Kernmacher verloren habe. Diese Frage hat das LSG indes offen gelassen, weil es - anders als die Beklagte - der Mitteilung des Arbeitsamtes Bonn vom 15. Juli 1969, auf welches der angefochtene Rentenentziehungsbescheid gestützt wird, eine Ablehnung geeigneter Umschulungsmaßnahmen durch den Kläger nicht entnommen hat. Die hiergegen gerichteten Angriffe der Revision betreffen lediglich die Auslegung des genannten Schreibens und damit die diesbezügliche Beweiswürdigung durch das LSG. Ein Rechtsfehler des LSG wird insoweit von der Revision nicht vorgetragen. Sie meint lediglich, aus dem im Schreiben des Arbeitsamtes zum Ausdruck kommenden Wunsch des Klägers, die Tätigkeit als Kontrolleur weiterhin ausüben zu dürfen, könne auch darauf geschlossen werden, daß der Kläger die Umschulung innerhalb eines anderen Betriebes abgelehnt und damit sein gegebenes Einverständnis zur Umschulung zurückgenommen habe. Wenn demgegenüber das LSG eine derartige Schlußfolgerung aus dem Schreiben vom 15. Juli 1969 nicht gezogen hat, weil sich der Kläger in dem damaligen Beratungsgespräch mit dem Sachbearbeiter des Arbeitsamtes nur zu seinem derzeitigen beruflichen Einsatz in der Fa. B GmbH, nicht aber zu einer konkreten Umschulungsofferte der Beklagten geäußert habe, so ist dies rechtlich nicht zu beanstanden. Für diese vom LSG vertretene Auslegung spricht jedenfalls der Wortlaut des Schreibens. Aus ihm ist nicht ersichtlich, daß mit dem Kläger überhaupt über etwaige Umschulungsmaßnahmen in einem anderen Betrieb oder in besonderen Kursen neben der ausgeübten beruflichen Tätigkeit in der Stoßdämpferfabrik gesprochen worden ist, noch gar, daß der Kläger ersterenfalls unbedingt an seinem bisherigen Arbeitsplatz hätte festhalten wollen.
Aber selbst wenn die Beklagte dem Schreiben des Arbeitsamtes Bonn vom 15. Juli 1969 eine Verweigerung von Umschulungsmaßnahmen durch den Kläger hätte entnehmen dürfen, wäre dies nicht als eine die Rentenentziehung rechtfertigende wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO zu werten. Das LSG hat nicht feststellen können, daß der Kläger im Hinblick auf seine jetzige Beschäftigung die frühere Berufstätigkeit als Former nicht mehr ausüben würde, selbst wenn er gesund wäre. Ganz abgesehen davon, daß dem die Revision nicht substantiiert widersprochen hat, könnte eine etwaige Lösung des Klägers vom erlernten Facharbeiterberuf nach der Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit ohne Erwerb neuer Kenntnisse und Fähigkeiten nicht den Rentenentzug nach § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO begründen. Wie der Senat auch mit Urteil vom 27. Juni 1973 - Az.: 12 RJ 244/72 - entschieden hat, gilt für diesen Fall die besondere Vorschrift in § 1243 Abs. 2 RVO, nach der dem Rentenempfänger die Rente ganz oder teilweise auf Zeit versagt werden kann. Danach ist der im vorliegenden Fall ohnehin nur hilfsweise angeführten Rechtsauffassung des LSG, daß die Regelung in § 1243 Abs. 2 RVO derjenigen des § 1286 RVO vorgeht, zuzustimmen. Anderenfalls könnte - wie gerade der vorliegende Sachverhalt zeigt - der im Falle der Verweigerung der Umschulung im Gesetz zwingend vorgeschriebene vorherige schriftliche Hinweis auf die mögliche Rentenversagung (§ 1243 Abs. 2 Satz 2 RVO) umgangen und der Rentenempfänger von der vorher nicht angekündigten Rentenentziehung überrascht werden. Das widerspräche jedoch dem Sinn des § 1243 Abs. 2 RVO, der gerade bewirken soll, daß der Rentner durch das vorher angezeigte Zwangsmittel die Ablehnung der Umschulung aufgibt. Bei der von der Beklagten hier praktizierten Verfahrensweise würde dem Kläger diese ihm im Gesetz eingeräumte Möglichkeit, seine zur Rentenversagung führende Einstellung aufzugeben und sich auf diese Weise den Rentenbezug während der Durchführung der Maßnahmen zu erhalten (§ 1242 RVO), genommen. In diesem Zusammenhang geht auch die Argumentation der Beklagten fehl, daß ein Hinweis auf die Folgen einer Verweigerung von Umschulungsmaßnahmen "im Hinblick auf die abschließende Äußerung des Klägers" nicht mehr erforderlich gewesen sei, weil zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen für die Rentenentziehung bereits gegeben gewesen seien. Mit dieser Begründung könnte dann aber anstelle der zeitlichen Rentenversagung nach entsprechendem vorherigen Hinweis immer sofort die endgültige Rentenentziehung treten, die vorher nicht angezeigt werden muß. Eine derartige Handhabung würde praktisch die vom Gesetz für die Verweigerung von Umschulungsmaßnahmen in § 1243 Abs. 2 RVO vorgesehene Regelung überflüssig machen. Das Verhalten der Beklagten kann auch deshalb nicht gebilligt werden, weil durch einen die Folgen der Umschulungsverweigerung betreffenden Hinweis im Sinne des § 1243 Abs. 2 Satz 2 RVO der Kläger womöglich eine - unterstellte - Weigerung aufgegeben hätte, so daß nicht einmal gesagt werden kann, ob die vermeintliche Änderung in den Verhältnissen, die nach Ansicht der Beklagten für die Rentenentziehung ausreichend sein soll, mit einem der Vorschrift des § 1243 Abs. 2 Satz 2 RVO entsprechenden Hinweis überhaupt eingetreten wäre.
Nach alledem muß der Revision ein Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen