Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattungsanspruch für ein orthopädisches Hilfsmittel
Beteiligte
Kläger und Revisionskläger |
… Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Streitig ist ein Erstattungsanspruch des klagenden Sozialhilfeträgers, den dieser wegen der von ihm übernommenen Kosten für ein orthopädisches Hilfsmittel gegen die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) geltend macht.
Dem Behinderten v. G. … war am 6. Februar 1981 ein Paar orthopädischer Schuhe fachärztlich verordnet worden, die nach einem Kostenvoranschlag vom 10. Februar 1981 782,45 DM, kosten sollten. Die Verordnung und den Kostenvoranschlag übersandte die S… K… dem Kläger als zuständigem Sozialhilfeträger. Der Kläger ersuchte die Beklagte, die Kosten für die v. G. am 12. März 1981 ausgehändigten Schuhe zu übernehmen, weil dieser am 25. Februar 1981 gemäß § 176c der Reichsversicherungsordnung (RVO) deren Mitglied geworden sei. Die Beklagte lehnte die Kostenübernahme ab, denn v. G. sei im Zeitpunkt des Bedarfs des Hilfsmittels, nämlich der ärztlichen Feststellung, nicht ihr Mitglied gewesen.
Das Sozialgericht Karlsruhe (SG) hat die Leistungsklage, die auf Erstattung der oben genannten Kosten gerichtet war, mit dem Urteil vom 20. August 1982 abgewiesen. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat die zugelassene Berufung des Klägers mit seinem Urteil vom 4. Mai 1984 zurückgewiesen. Der Kläger habe keinen Erstattungsanspruch nach § 102 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X), weil v. G. im Zeitpunkt des Versicherungsfalles keinen Anspruch auf Ausstattung mit einem orthopädischen Hilfsmittel gegen die Beklagte gehabt habe. Maßgebender Zeitpunkt sei die ärztliche Feststellung des Bedarfs. Zu diesen Zeitpunkt sei v. G. aber nicht Mitglied der Beklagten gewesen. Er habe auch keinen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch gegen die Beklagte, weil seine Meldung zur Krankenversicherung der Rentner (KVdR) erst nach dem maßgeblichen Zeitpunkt bei der Beklagten eingegangen sei, so daß ein Beratungsmangel, wenn er überhaupt angenommen werden könnte, sich nicht ursächlich auf den Anspruch habe auswirken können.
Mit seiner - von dem LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 182b und 206 RVO. Die Vorleistung eines Sozialhilfeträgers ändere nichts an der Leistungspflicht der Krankenkasse für ihre Mitglieder, auch soweit es sich um bei Beginn der Mitgliedschaft bereits bestehende Krankheiten handele. Ärztliche Untersuchungen und Feststellungen dienten allein der Feststellung der Leistungsvoraussetzungen. Die Erfüllung trete aber erst mit der tatsächlichen Erbringung der Leistung ein; dieser Zeitpunkt habe hier unstreitig nach dem Beginn der Mitgliedschaft gelegen. Die Krankenkasse sei verpflichtet, sofort bei Beginn der Mitgliedschaft zu leisten, sofern in diesem Zeitpunkt die (Sach-) Leistung noch nicht anderweitig erbracht worden sei. Die für den Fall des Kassenwechsels entwickelten Grundsätze seien in einem Fall der Zuständigkeit einerseits eines Sozialhilfeträgers und andererseits einer gesetzlichen Krankenkasse nicht anwendbar.
Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 4. Mai 1984 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, 782,45 DM zu zahlen,hilfsweise,die Rechtssache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zurückzuverweisen, |
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Die Beklagte beantragt,
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die Revision zurückzuweisen. |
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Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG, weil die Tatsachenfeststellungen zur Entscheidung über den streitigen Erstattungsanspruch in Höhe 782,45 DM nicht ausreichen.
Der streitige Erstattungsanspruch ist nach den §§ 102 ff. des SGB X zu beurteilen, denn gemäß Art II § 21 des Gesetzes vom 4. November 1982 (BGBl. I 1450) sind bereits begonnene Verfahren nach den Vorschriften des Gesetzes zu Ende zu führen. Auf Ansprüche, die schon vor dem Inkrafttreten des 3. Kapitels des SGB X entstanden sind, über die aber noch nicht rechtskräftig entschieden ist, sind danach die Bestimmungen dieses Kapitels ebenso anzuwenden, wie gemäß Art Il § 37 des Gesetze vom 18. August 1980 (BGBl. I 1460) die Bestimmungen des 1. und 2. Kapitels des SGB X in noch anhängigen Verfahren (BSGE 54, 223, 226; 56, 69 ff. sowie die zur Veröffentlichung bestimmten Urteile vom 28. März 1984 - 9a RV 50/82; 22. Mai 1984 - 8 RK 45/83; 24. Mai 1984 - 7 RAr 97/83; 15. November 1984 - 7 RAr 52/84; 14. März 1985 - 7 RAr 61/84).
Die Beklagte ist zwar, wie auszuführen sein wird, dem Kläger erstattungspflichtig. Die Feststellungen des LSG ergeben jedoch nicht, ob der streitige Anspruch in vollem Umfang gerechtfertigt ist.
Orthopädische Schuhe sind Hilfsmittel, die sowohl von den Trägern der Sozialhilfe an Hilfsbedürftige im Sinne des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) - § 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG - als auch von den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung ihren Mitgliedern zu gewähren sind (§ 182 Abs. 1 Nr. 1 Buchst c, § 182b RVO).
Der Anspruch Versicherter auf Gewährung von Krankenpflege entsteht nach § 206 RVO für Versicherungspflichtige grundsätzlich mit dem Beginn ihrer Mitgliedschaft. Das gleiche gilt gemäß § 207 RVO für Versicherungsberechtigte, die einer Krankenkasse freiwillig beitreten, es sei denn, daß die Satzung eine Wartezeit von höchstens 6 Wochen vorschreibt. Nach 176e, Satz 2, 2. Halbsatz RVO gilt die Einschränkung des § 207 RVO jedoch ebensowenig wie die des § 310 Abs. 1 und 3 RVO für Schwerbehinderte, die - wie der Kläger, einer Krankenkasse freiwillig beitreten. Auch deren Mitgliedschaft beginnt also mit dem Tage des Beitritts (§ 310 Abs. 1 Satz 1 RVO), ohne daß Ansprüche auf Kassenleistungen für bereits bestehende Erkrankungen ausgeschlossen sind und die Kasse berechtigt ist, eine vorherige ärztliche Untersuchung zu verlangen. Es kann dahingestellt bleiben, ob v. G. nicht bereits vor, seinem Beitritt als Schwerbehinderter wegen eines früher gestellten - wenn auch unbegründeten - Rentenantrages gemäß § 315a RVO Formalmitglied der Beklagten geworden und sie deshalb leistungspflichtig war. Denn die von dem LSG unangegriffen festgestellte Mitgliedschaft nach § 176c RVO begründete für ihn seit ihrer Entstehung am 25. Februar 1981 einen Anspruch auf Ausstattung mit orthopädischen Hilfsmitteln. Der mit der Mitgliedschaft entstehende Anspruch auf Regelleistungen nach § 206 RVO erfaßt alle Leistungen notwendiger Krankenpflege, auch wenn der Versicherungsfall - die Krankheit - schon vor dem Beginn der Mitgliedschaft eingetreten war. Das bestätigt § 310 Abs. 2 RVO, wonach nur bei sonstigen Beitrittsberechtigten eine Erkrankung, die beim Beitritt bereits besteht, für diese Krankheit keinen Anspruch auf Kassenleistungen begründet (Peters/Mengert, Handbuch der Krankenversicherung Stand 1. Mai 1984 § 206 Anm. 5). Das gilt - wie für alle anderen Regelleistungen - auch für den Anspruch auf Ausstattung mit Hilfsmitteln nach § 182 Abs. 1 Nr. 1 Buchst c i.V.m. § 182b RVO. Begründet also eine Krankheit die Notwendigkeit der Ausstattung mit einem Hilfsmittel, so entsteht der Anspruch gegen die Krankenkasse - außer in den Fällen des § 310 RVO - mit dem Beginn der Mitgliedschaft unabhängig davon, ob der "Bedarf" schon vorher bestand. Etwas anderes gilt nur, wenn das Mitglied schon vor Beginn der Mitgliedschaft mit dem notwendigen Hilfsmittel ausgestattet ist. In diesem Falle ist bei Beginn der Mitgliedschaft eine Ausstattung nicht (mehr) notwendig. Maßgebend für den Ausstattungsanspruch ist daher nicht die (ärztliche) Feststellung des "Bedarfs", d.h. der Notwendigkeit der Ausstattung bzw. die ärztliche Verordnung des Hilfsmittels, sondern das tatsächliche Bestehen eines solchen Bedarfs im Zeitpunkt des Beginns der Mitgliedschaft. Dieser Bedarf ist aber erst gedeckt, d.h. der Anspruch ist erst erfüllt, wenn das Hilfsmittel dem Kranken zur sachgerechten Benutzung zur Verfügung steht, d.h. geliefert und benutzungsfähig ist.
Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem von dem LSG herangezogenen Urteil des 3. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. November 1977 (SozR 2200 § 182b Nr. 3) oder aus der Regelung des § 212 RVO. In dem genannten Fall war zu entscheiden, welches materielle Recht für einen Anspruch auf Ausstattung mit einem Hilfsmittel bei einer zwischenzeitlich eingetretenen Gesetzesänderung anzuwenden ist, wenn das Hilfsmittel schon während des noch geltenden alten Rechts geliefert und angepaßt, die Notwendigkeit der Ausstattung aber erst nach der Änderung des Gesetzes ärztlich festgestellt worden ist. Wenn der 3. Senat des BSG in diesem Zusammenhang entschieden hat, der Anspruch des Versicherten sei frühestens mit der Erteilung der fachärztlichen Bescheinigung über die Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit des dem Versicherten angepaßten Geräts erfüllt, und diese Entscheidung damit begründet ist, daß ein Versicherter nur Anspruch auf notwendige und zweckmäßige Hilfsmittel habe, so kann daraus nicht mit der Beklagten geschlossen werden, daß der Anspruch auf Ausstattung immer schon dann erfüllt ist, d.h. der Versicherte "ausgestattet ist", wenn die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit eines Hilfsmittels festgestellt oder das Hilfsmittel verordnet ist. Diese Entscheidung besagt nur, daß eine tatsächliche Lieferung und Anpassung eines Hilfsmittels allein noch keine "Ausstattung mit einem notwendigen Hilfsmittel" ist. Ist dagegen - wie hier - das Hilfsmittel ärztlich verordnet, und wird es erst später geliefert und gegebenenfalls angepaßt, so ist der Anspruch erst zu diesem Zeitpunkt erfüllt. Da die orthopädischen Schuhe v. G. aber erst am 12. März 1981 ausgehändigt worden sind, entstand sein Anspruch auf Ausstattung gegen die Beklagte bei Beginn seiner Mitgliedschaft nach § 176c RVO am 25. Februar 1981. Diesen Anspruch hat die Beklagte nicht erfüllt.
Dagegen spricht auch nicht § 212 RVO. Diese Vorschrift regelt die Zuständigkeit beim Übertritt eines Versicherten, der Leistungen bezieht, von einer Krankenkasse zu einer anderen und bestimmt, daß die neue Kasse die weiteren Leistungen übernimmt. Das heißt, nach dem Übertritt eintretende "Leistungsfälle" sind von der neuen Kasse zu erfüllen. Diese Regelung geht ebenfalls von dem Grundsatz aus, daß Leistungsansprüche von der Kasse zu erfüllen sind, deren Mitglied der Versicherte ist. Mag auch in einem solchen Fall die "alte Kasse" für die Erfüllung von Ansprüchen auf einmalige Leistungen zuständig bleiben, deren Voraussetzungen während der Mitgliedschaft bei ihr erfüllt waren (so Krauskopf/Schroeder-Printzen, Soziale Krankenversicherung, Stand Juli 1984 § 212 Anm. 2 und § 182b Anm. 11), so folgt daraus jedoch nicht, daß beim erstmaligen Entstehen einer Mitgliedschaft bei einer Krankenkasse diese nicht zur, Erfüllung eines schon vorher bestehenden Bedarfs auf Ausstattung mit einem orthopädischen Hilfsmittel verpflichtet ist. § 212 RVO ist eine Zuständigkeitsregelung für einen bestimmten Sachverhalt, nämlich beim Kassenwechsel während fortdauernder Versicherung und laufendem Leistungsbezug.
Da die Beklagte somit gegenüber v. G. leistungspflichtiger Versicherungsträger war, ist sie dem Kläger, der tatsächlich geleistet hat, erstattungspflichtig. Der Erstattungsanspruch des Klägers folgt aber nicht - wie er meint - aus § 102 SGB X, sondern aus § 104 SGB X.
Der Kläger war, jedenfalls im Verhältnis zu der Beklagten als einem Sozialversicherungsträger, nicht, wie das § 102 SGB X u.a. voraussetzt, aufgrund gesetzlicher Vorschriften verpflichtet, v. G. vorläufig Sozialleistungen zu erbringen. Die Sozialhilfe ist nämlich insgesamt nach § 2 Abs. 2 BSHG gegenüber der Sozialversicherung nachrangig (sogenannte Systemsubsidiarität). Für diesen Fall bestimmt aber § 104 Abs. 1 SGB X, daß der dem Berechtigten vorrangig leistungspflichtige Sozialleistungsträger dem nachrangig verpflichteten Träger, der, tatsächlich Leistungen erbracht hat, erstattungspflichtig ist. Mag die Leistungspflicht der Sozialhilfeträger auch - etwa in § 44 BSHG - besonders ausgestaltet sein, so bleiben die Leistungen doch immer im Verhältnis zu einem vorrangig verpflichteten Träger die eines nachrangig Verpflichteten; sie sind keine vorläufigen Leistungen eines unzuständigen Trägers, der nur nach besonderen gesetzlichen Regelungen zu vorläufigen Leistungen verpflichtet ist, wie, etwa nach § 43 SGB I. Die beispielhafte Anführung von § 44 BSHG als einer gesetzlichen Vorleistungspflicht i.S. von § 102 SGB X in der Begründung zu § 108 des Gesetzentwurfs (BT-Drucks. 9/95 S. 24) ist daher irreführend. Erfüllt ein Berechtigter die Anspruchsvoraussetzungen sowohl gegen einen vorrangig als auch gegen einen nachrangig verpflichteten Sozialleistungsträger, d.h. wäre ein Leistungsträger ihm gegenüber nicht leistungspflichtig, wenn ein anderer Leistungsträger seine Leistungsverpflichtung rechtzeitig erfüllt hätte (§ 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X), so richtet sich der Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers allein nach § 104 SGB X. Ein Erstattungsanspruch des Klägers könnte sich allenfalls auch aus § 105 SGB X ergeben, wenn nämlich v. G. gegen ihn keinen nachrangigen Leistungsanspruch gehabt hätte, weil er die allgemeinen Voraussetzungen für die Gewährung von Sozialhilfe nicht erfüllte. Der Kläger hätte dann als unzuständiger Träger i.S. von § 105 SGB X geleistet. Für den Umfang des Erstattungsanspruchs spielt das aber keine Rollee denn dieser richtet sich in beiden Fällen nach dem Recht des vorleistungspflichtigen bzw. zuständigen Trägers (§ 104 Abs. 2 bzw. § 105 Abs. 2 SGB X), d.h. hier nach den für die Beklagte maßgeblichen Regelungen der gesetzlichen Krankenversicherung.
Wie das LSG insoweit bereits ausgeführt hat, sind die gesetzlichen Krankenkassen bei der Ausstattung mit orthopädischem Schuhwerk nur verpflichtet, den Teil der Kosten zu tragen, der die Kosten für gewöhnliche Schuhe übersteigt (BSG SozR 2200 § 182b Nr. 2). Der Kläger macht jedoch offenbar die Gesamtkosten der orthopädischen Schuhe geltend. Das LSG wird also festzustellen haben, wie hoch die Kosten für gewöhnliche Schuhe waren, in welcher Höhe die Beklagte gegenüber v. G. also leistungspflichtig war, wodurch der Erstattungsanspruch des Klägers seinem Umfang nach begrenzt wird.
Das LSG wird bei seiner abschließenden Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen