Leitsatz (redaktionell)
"Berufsausbildung" ist nicht nur die Ausbildung für die Elementarstufe eines Berufs, sondern auch die darauf aufbauende Ausbildung für die nächsthöhere Stufe des Berufs jedenfalls dann, wenn diese von der unteren Stufe hinreichend klar abgegrenzt ist. Dabei ist unter "Beruf" iS des RVO § 1267 S 2 eine für die Dauer vorgesehene Arbeit zu verstehen, die der Existenzsicherung dient und geeignet ist, in der Gesellschaft auftretende materielle und geistige Bedürfnisse zu befriedigen, und zu der die Befähigung durch die Ausbildung erworben wird.
Hiernach ist der Besuch einer Malerschule mit einer Unterrichtszeit von wöchentlich 44 Stunden durch einen Malergesellen mit dem Ziel, die Meisterprüfung abzulegen, Berufsausbildung iS von RVO § 1267 S 2.
Orientierungssatz
Der Besuch der (Maler-) Meisterschule ist Berufsausbildung iS des RVO § 1267 S 2.
Normenkette
RVO § 1267 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 11. März 1966 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger für die Zeit des Besuchs der Malerschule in L Waisenrente nach Vollendung des 18. Lebensjahres gemäß § 1267 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Der am 4. Januar 1941 geborene Kläger erlernte von 1957 bis 1960 das Malerhandwerk. Von 1960 bis Ende März 1964 arbeitete er, mit einer Unterbrechung durch eine Wehrdienstzeit von 1 1/2 Jahren, als Malergeselle. Von April 1964 bis März 1965 besuchte er die staatlich genehmigte Malerschule in L, eine Tagesschule mit wöchentlich 44 Unterrichtsstunden, mit dem Ziel, die Meisterprüfung abzulegen. Er bestand die Meisterprüfung im März 1965 und ist seit dem 1. April 1965 selbständiger Malermeister.
Die Beklagte lehnte es ab, dem Kläger, der bis zum 31. Januar 1959 Waisenrente aus der Versicherung seines gefallenen Vaters bezogen hatte, für die Zeit des Besuchs der Meisterschule in L Waisenrente zu gewähren (Bescheid vom 18. Juni 1964). Das Sozialgericht (SG) erkannte dem Kläger die begehrte Waisenrente zu (Urteil vom 7. Dezember 1965). Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos (Urteil vom 11. März 1966).
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung des § 1267 RVO. Sie bekämpft die Ansicht des LSG, der Besuch der Meisterschule sei Berufsausbildung im Sinne des § 1267 Satz 2 RVO.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 11. März 1966 und des Sozialgerichts Oldenburg vom 7. Dezember 1965 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Entgegen der Auffassung der Revision steht dem Kläger für die Dauer des Besuchs der Meisterschule in Lemgo die Waisenrente gemäß § 1267 Satz 2 RVO zu, da er sich während dieser Zeit in Berufsausbildung befunden hat.
Berufsausbildung im Sinne des § 1267 Satz 2 RVO ist die Ausbildung für einen in Zukunft gegen Entgelt auszuübenden Beruf, welcher die Zeit und die Arbeitskraft der Waise ganz oder überwiegend in Anspruch nimmt (vgl. BSG 14, 285; 18, 115; 21, 185; 23, 231; SozR RVO § 1267 Nr. 12). Nach den von der Revision nicht angefochtenen und daher das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) waren durch den Besuch der Malerschule in L als einer Tagesschule mit wöchentlich 44 Unterrichtsstunden Zeit und Arbeitskraft des Klägers ganz in Anspruch genommen; auch die Revision stellt das nicht in Abrede. Wie der erkennende Senat bereits mehrfach entschieden hat, ist Berufsausbildung nicht nur die Ausbildung für die Elementarstufe eines Berufs, sondern auch die darauf aufbauende Ausbildung für die nächst höhere Stufe des Berufs jedenfalls dann, wenn diese von der unteren Stufe hinreichend klar abgegrenzt ist (Urteil vom 30. März 1967 - 12 RJ 590/63 -; Urteil vom 31. Mai 1967 - 12 RJ 528/63 -). Dabei ist unter "Beruf" im Sinne des § 1267 Satz 2 RVO eine für die Dauer vorgesehene Arbeit zu verstehen, die der Existenzsicherung dient und geeignet ist, in der Gesellschaft auftretende materielle und geistige Bedürfnisse zu befriedigen, und zu der die Befähigung durch die Ausbildung erworben wird (BSG 23, 231, 233).
Nach Überprüfung dieser Rechtsprechung hält der Senat an ihr fest. Dies bedeutet: Als der Kläger von April 1964 bis März 1965 die Malerschule in L besuchte, war er in Berufsausbildung. Denn der Beruf des Malermeisters stellt gegenüber demjenigen eines Malergesellen eine höhere, durch vorgeschriebene Ausbildungszeit- und -art sowie eine staatlich anerkannte Prüfung erlangte Stufe innerhalb des Malerberufs dar. Von einem Malermeister werden mehr Kenntnisse und Fähigkeiten gefordert als von einem Malergesellen. Er hat u. a. zusätzlich zu handwerklichen Kenntnissen und Fähigkeiten auch noch betriebswirtschaftliche, kaufmännische, rechtliche und berufserzieherische Kenntnisse nachzuweisen (§ 41 der Handwerksordnung).
An dem Ergebnis, daß dem Kläger für die Dauer des Besuches der Malerschule in L die Waisenrente gemäß § 1267 Satz 2 RVO zusteht, vermögen auch die Einwendungen der Beklagten nichts zu ändern. Es mag zutreffen, daß die meisten derjenigen, die eine Meisterprüfung ablegen, sich anschließend nicht selbständig machen. Dies ist indes für die Frage, ob der Besuch einer Meisterschule Berufsausbildung im Sinne von § 1267 Satz 2 RVO darstellt, unerheblich. Es ist nämlich nicht entscheidend, ob und wie die Waise die durch die Berufsausbildung erworbene Qualifikation anbringt und verwertet. Maßgebend ist allein, ob die weitere Berufsstufe andere und höhere Erwerbsmöglichkeiten bietet als bisher. Das ist bei einem Malermeister gegenüber einem Malergesellen wegen der höheren Qualifikation der Fall.
Wie der Senat in seinen Urteilen vom 30. März 1967 - 12 RJ 590/63 und vom 31. Mai 1967 - 12 RJ 528/63 - bereits hervorgehoben hat, können ähnliche oder gleichlautende Vorschriften aus anderen Gesetzen zur Auslegung des hier in Rede stehenden Begriffs der Berufsausbildung im Sinne von § 1267 Satz 2 RVO nicht ohne weiteres herangezogen werden. Das gilt auch für die von der Revision genannten Richtlinien des Bundesministers für Arbeit über die Vergabe von Beihilfen zur beruflichen Fortbildung der unselbständigen Mittelschichten vom 18. Dezember 1963 (BArbBl 1964, 3). Der Senat sieht sich auch nicht dazu veranlaßt, obschon die Revision unter Hinweis auf die in diesen Richtlinien vorgenommene Unterscheidung von Aus- und Fortbildung darauf drängt, zu entscheiden, ob und wie Aus- und Fortbildung voneinander anzugrenzen sind. Denn jedenfalls ist hier der Besuch der Meisterschule durch den Kläger Berufsausbildung im Sinne des allein in Betracht zu ziehenden § 1267 Satz 2 RVO.
Ebensowenig vermag das Argument der Revision das Ergebnis zu beeinflussen, die Eltern, wenn sie noch lebten, wären in einem Falle wie dem des Klägers aufgrund ihrer Unterhaltspflicht nicht gehalten, die Kosten für den Besuch einer Meisterschule zu übernehmen und demgemäß sei mit Rücksicht auf die Unterhaltsersatzfunktion der Waisenrente auch bei dem Begehren auf Waisenrente zu verfahren. Das Waisenrentenrecht des § 1267 Satz 2 RVO hat sich vom Unterhaltsrecht des bürgerlichen Rechts, hier des § 1610 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches, gelöst, indem es auf die für den bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsanspruch entscheidenden Voraussetzungen der Unterhaltsbedürftigkeit und Unterhaltsfähigkeit verzichtet, so daß die Regelung des Unterhaltsrechts zur Auslegung des § 1267 Satz 2 RVO nicht herangezogen werden kann (vgl. BSG 23, 167).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen