Leitsatz (amtlich)
1. Die Anwendung des § 48 SGB 10 erfordert eine Änderung nach Erlaß des Erstbescheides; eine Änderung nach Beginn der Bezugszeit reicht nicht aus.
2. Die für die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte mit Wirkung für die Vergangenheit geltende Jahresfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB 10 wird durch einen aufgehobenen ersten Aufhebungsbescheid weder gewahrt noch unterbrochen (Aufgabe von BSG vom 26.8.1987 - 11a RA 30/86 = BSGE 62, 103, 108 und BSG vom 4.2.1988 - 11 RAr 26/87 = BSGE 63, 37, 43).
3. Die für den Fristbeginn erforderliche Kenntnis bezieht sich nicht darauf, daß die Rücknahme eine Ermessensausübung voraussetzt (Abgrenzung zu BVerwG vom 19.12.1984 - GrSen 1/84 = BVerwGE 70, 356 ff).
Normenkette
SGB 10 § § 48, 45 Abs 4 S 1, § 45 Abs 4 S 2; BGB § 211
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 24.09.1987; Aktenzeichen L 7 Ar 116/86) |
SG Oldenburg (Entscheidung vom 30.01.1986; Aktenzeichen S 4a Ar 1/84) |
Tatbestand
Streitig ist, ob die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) während des Berufungsverfahrens die angefochtene, auf § 48 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) gestützte Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 15. Januar 1983 bis zum 14. Januar 1984 durch eine Rücknahme der Leistungsbewilligung für die Zeit vom 7. Juli 1983 bis zum 14. Januar 1984 nach § 45 SGB 10 unter Ausübung des Rücknahmeermessens rechtswirksam zu ersetzen vermochte.
Die Klägerin bezog Arbeitslosengeld bis Januar 1983. Die von ihr beantragte Anschluß-Alhi wurde zunächst wegen anrechenbaren Einkommens ihres Vaters abgelehnt. Aufgrund der mit dem Widerspruch vorgelegten Unterlagen erkannte die beklagte BA, daß das Einkommen des Vaters keinen Anrechnungsbetrag rechtfertigte. Obwohl sie wußte, daß die Klägerin am 4. März 1983 geheiratet hatte und ihr Ehemann nach dem Bezug von Alhi ab 5. April 1983 wieder beschäftigt war, bewilligte sie der Klägerin Alhi für die Zeit vom 15. Januar 1983 bis zum 14. Januar 1984 (Bescheid vom 20. Juni 1983). Diese Bewilligung hob sie wenige Tage später für die Zeit ab 4. März 1983 gemäß § 48 SGB 10 auf, da aufgrund der Heirat eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eingetreten sei (Bescheid vom 23. Juni 1983; Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 1983).
Das Sozialgericht hat den Bescheid vom 23. Juni 1983 idF des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 1983 aufgehoben und die weitergehende Klage, mit der die Klägerin Alhi bis Oktober 1985 begehrte, wegen des Einkommens ihres Ehemannes abgewiesen (Urteil vom 30. Januar 1986).
Während des Berufungsverfahrens bewilligte die Beklagte Alhi für die Zeit vom 4. März bis zum 6. Juli 1983 und nahm mit gesondertem Bescheid vom 3. Juni 1986 die Bewilligung der Alhi gemäß § 45 SGB 10 ab 7. Juli 1983 zurück, weil das anzurechnende Einkommen den Leistungssatz übersteige und unter Berücksichtigung des nach § 45 SGB 10 auszuübenden Ermessens die Rücknahme der Alhi-Bewilligung geboten erscheine. Das Landessozialgericht (LSG) hat den Bescheid vom 3. Juni 1986, der als mit der Klage angefochten gelte und wegen der Alhi-Bewilligung für die Zeit vom 4. März bis 6. Juli 1983 allein noch Gegenstand des Berufungsverfahrens sei, aufgehoben (Urteil vom 24. September 1987), weil die einjährige Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10, die spätestens am 23. Juni 1983 begonnen habe, bei Erlaß des Bescheides vom 3. Juni 1986 bereits abgelaufen gewesen sei.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzung des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 3. Juni 1986 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Streitig ist der Bescheid vom 3. Juni 1986, nicht vom "30." Juni 1986, wie das angefochtene Urteil irrtümlich besagt, mit dem die Beklagte "die Entscheidung über die Bewilligung von Alhi" gemäß § 45 SGB 10 ab 7. Juli 1983 zurückgenommen hat. Damit ist weder der Bewilligungsbescheid noch der Zeitraum, für den dieser zurückgenommen werden sollte, ausdrücklich bezeichnet. Nach dem Gesamtzusammenhang ist der Bescheid jedoch dahin zu verstehen, daß der Bewilligungsbescheid vom 20. März 1983, mit dem Alhi für die Zeit vom 15. Januar 1983 bis zum 14. Januar 1984 bewilligt worden war, für die Zeit vom 7. Juli 1983 bis zum 14. Januar 1984 zurückgenommen werden sollte.
Im Bescheid heißt es abschließend: "Der Bescheid vom 23. Juni 1983 ist gemäß Urteil vom 30. Januar 1986 - Az.: S 4a Ar 1/84 - aufgehoben worden. An diese Stelle tritt obiger Bescheid vom 3. Juni 1986." Danach ist der Aufhebungsbescheid vom 23. Juni 1983 vorbehaltlos durch den Rücknahmebescheid vom 3. Juni 1986 ersetzt worden und nicht nur vorbehaltlich der Erfolglosigkeit der Berufung der Beklagten. Dieser Bescheid ist gemäß § 96 Abs 1, § 153 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden. Über ihn hat das LSG zutreffend kraft Klage entschieden.
Den Rücknahmebescheid vom 3. Juni 1986 hat das LSG zu Recht schon deswegen als rechtswidrig aufgehoben, weil die Rücknahmefrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 nicht gewahrt ist. Die Aufhebung der Alhi-Bewilligung ist an § 45 SGB 10 zu messen, wie die Beklagte in der Begründung des Rücknahmebescheides vom 3. Juni 1986 zutreffend erkannt hat, und nicht an § 48 SGB 10, auf den die Beklagte ihren ersten Aufhebungsbescheid vom 23. Juni 1983 zu Unrecht gestützt hatte. Die Alhi-Bewilligung für den streitigen Zeitraum war schon bei Erlaß des Bewilligungsbescheides iS des § 45 SGB 10 rechtswidrig und ist nicht erst durch eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 48 SGB 10 später rechtswidrig geworden. Für die Anwendung des § 48 SGB 10 genügt es nicht, daß die Alhi-Bewilligung zunächst für die Zeit vom 15. Januar 1983 bis zum 4. April 1983 rechtmäßig war und daß der von der streitigen Rücknahme betroffene Zeitraum (vom 7. Juli 1983 bis zum 14. Januar 1984) zeitlich nach dem Erlaß des Bewilligungsbescheides vom 20. Juni 1983 liegt. Bei Erlaß des Bewilligungsbescheides am 20. Juni 1983 war der Anspruch auf Alhi mit dem Zufluß des Arbeitsverdienstes aus der Arbeitsaufnahme des Ehegatten am 5. April 1983 entfallen. Die Alhi hätte am 20. Juni 1983 für die Folgezeit, insbesondere für die streitige Zeit vom 7. Juli 1983 bis zum 14. Januar 1984, nicht bewilligt werden dürfen.
Im streitigen Bescheid vom 3. Juni 1986 wurde die Alhi-Bewilligung iS des § 45 Abs 4 Satz 1 SGB 10 "mit Wirkung für die Vergangenheit" zurückgenommen, nämlich für die Zeit vom 7. Juli 1983 bis zum 14. Januar 1984. Das LSG hat die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 als nicht gewahrt angesehen. Die Beklagte habe spätestens bei Erteilung des Bescheides vom 23. Juni 1983 die den Fristbeginn auslösende Kenntnis gehabt. Der inzwischen rechtskräftig aufgehobene erste Aufhebungsbescheid sei für den Fristablauf ohne Bedeutung. Demgegenüber beruft sich die Beklagte auf eine in etwa zeitgleich mit dem Berufungsurteil ergangene Entscheidung des erkennenden Senats, daß die Jahresfrist auch dann gewahrt sei, wenn ein fristgemäßer erster Aufhebungsbescheid nach seiner rechtskräftigen Aufhebung "alsbald" durch einen zweiten Aufhebungsbescheid ersetzt werde, da das von der Jahresfrist geschützte Vertrauen in die Bindungswirkung des früheren Bescheides schon durch den ersten Änderungsbescheid erschüttert worden sei (BSGE 62, 103, 108 = SozR § 48 Nr 39).
Der Senat beantwortet nach nochmaliger Prüfung die angeführte Rechtsfrage dahin, daß die einjährige Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 auch für einen Rücknahmebescheid uneingeschränkt gilt, der an die Stelle eines denselben Gegenstand regelnden, zwar fristgemäß erteilten, aber wegen Rechtswidrigkeit aufgehobenen bzw aufzuhebenden früheren Aufhebungsbescheides oder Rücknahmebescheides tritt. Er gibt damit seine in der oben angeführten Entscheidung vertretene Rechtsauffassung (BSGE 62, 103, 108 = SozR 1300 § 48 Nr 39 und ebenso BSGE 63, 37, 43 = SozR 1300 § 45 Nr 34) auf.
Der Senat hat in den genannten Entscheidungen hervorgehoben, daß die Jahresfrist dem Vertrauensschutz diene und ein schutzwürdiges Vertrauen durch den ersten Aufhebungsbescheid erschüttert werde. Die Jahresfrist bewirkt jedoch, daß die Behörde ein Jahr nach Kenntnis von einem Rücknahmegrund das Recht verliert, den Verwaltungsakt aus diesem Grunde mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Diese zeitliche Begrenzung der Rücknahmebefugnis für die Vergangenheit dient der Rechtssicherheit.
Im allgemeinen mag es zwar zutreffen, bei den auf dem Rechtsgrundsatz der Verwirkung beruhenden Ausschlußfristen das Zeitmoment und die für die Schutzwürdigkeit des Vertrauens bedeutsamen Umstände als in etwa gleichwertig anzusehen. Bei der für die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit geltenden Jahresfrist ist jedoch von entscheidender Bedeutung, daß diese Frist nach § 45 Abs 4 Satz 1 SGB 10 allein für Fälle vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verhaltens des Begünstigten gilt, weil das Gesetz bei Schuldlosigkeit oder in Fällen einfacher Fahrlässigkeit eine rückwirkende Rücknahme nicht vorsieht. Die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 greift - anders als die des § 48 Abs 4 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) - selbst in Fällen der Drohung oder der arglistigen Täuschung ein. Sie betrifft damit gerade die Fallgestaltungen, in denen eine Verwirkung nur im Hinblick auf den Zeitablauf, nicht aber wegen des Verhaltens des Begünstigten in Betracht kommen kann. Das schließt es aus, der vertrauensmindernden Wirkung der ersten - rechtswidrigen - Rücknahme entscheidende Bedeutung beizumessen; es kommt vielmehr allein auf den Zeitablauf an.
Bei dieser eindeutigen zeitlichen Orientierung vermag die Jahresfrist der mit ihr erstrebten Rechtssicherheit aber nur dann wirksam zu dienen, wenn ihr Anwendungsbereich möglichst eindeutig und streitfrei bestimmt wird. Anders als die aufgegebene Rechtsauffassung vermeidet die jetzt vertretene deshalb auch Zweifel dahin, ob in Fällen des § 48 SGB 10 eine fehlerfreie Wiederholung schon während oder erst nach Abschluß eines hinsichtlich der ersten - fehlerhaften - Aufhebung anhängigen Gerichtsverfahrens zulässig ist (vgl hierzu die Urteile des 7. Senats des Bundessozialgerichts -BSG- vom 24. August 1988 - 7 RAr 53/86 -, BSGE 64, 36 = SozR 1300 § 48 Nr 2, vom 25. Oktober 1988 - 7 RAr 120/87 - und vom 23. November 1988 - 7 RAr 126/87 -). Endlich entspricht es dem Verfassungsgrundsatz eines effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG), Rechtsvorschriften im Zweifel so auszulegen, daß ein wegen Rechtswidrigkeit aufgehobener Verwaltungsakt für den Betroffenen auch mittelbar keine nachteiligen Folgen hat. Diesem Grundsatz würde die Annahme der Fristwahrung durch einen rechtswidrigen ersten Aufhebungs- oder Rücknahmebescheid zuwiderlaufen.
Demgegenüber kann die Revision nicht mit dem Hinweis durchdringen, wenn nach § 211 des Bürgerlichen Gesetzbuches durch eine später als unzulässig abgewiesene Klage die Verjährung eines Anspruchs unterbrochen werde, müsse auch ein später als verfahrensfehlerhaft aufgehobener Bescheid die Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 wahren. Verjährungsvorschriften sind nämlich auf Ausschlußfristen nur nach Maßgabe des besonderen Charakters der jeweils eingreifenden Ausschlußfrist anwendbar (vgl zur Anwendung der Wiedereinsetzung nach § 27 Abs 5 SGB 10 auf materielle Ausschlußfristen das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil des BSG vom 25. Oktober 1988 - 12 RK 22/87 -). In der Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 hat der Gesetzgeber bereits die Frage geregelt, inwieweit sich ein Irrtum der Behörde über das einzuschlagende Verfahren auf den Fristablauf auswirkt, worauf noch näher einzugehen ist. Das schließt einen Rückgriff auf § 211 BGB aus.
Der Senat weicht mit dieser Entscheidung nicht von der Rechtsprechung anderer Senate iS des § 42 SGG ab. Die aufgegebene Rechtsauffassung (BSGE 62, 103, 108) ist zwar in Fortführung einer Entscheidung des 9a-Senats (SozR 1300 Art 2 § 40 Nr 8) entwickelt worden. Mit dieser Entscheidung wurde eine Neufeststellung der einkommensabhängigen Versorgungsleistungen aufgehoben, da die Verwaltung die Soll-Vorschrift des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 nicht richtig angewandt habe. Die Unterschiede, daß die damalige Entscheidung einen nach dem Übergangsrecht zu beurteilenden Fall betraf, in dem bei Erlaß des Erstbescheids nach § 60a Bundesversorgungsgesetz die Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 noch nicht galt und der Zweitbescheid innerhalb eines Jahres nach Einführung dieser Bestimmung ergangen war, sind so gewichtig, daß eine Divergenz iS des § 42 SGB 10 ausscheidet. Im Urteil des 10. Senats vom 24. März 1983 (SozR 5870 § 2 Nr 30) betrifft der abschließende Satz, die Beklagte werde nunmehr das ihr eingeräumte Ermessen auszuüben haben, wobei nach dem Sachverhalt bereits zwei Jahre seit Kenntnis der Aufhebungsgründe vergangen waren, nicht die Begründung der Rückverweisung, sondern das nach der Rückverweisung einzuschlagende Verfahren und gehört damit nicht zu den tragenden Erwägungen. Auch den Urteilen des 7. Senats vom 17. April 1986 (7 RAr 127/84, Die Beiträge 1986, 254) und vom 29. September 1987 (7 RAr 22/86) ist ein Rechtssatz, daß der erste Rücknahmebescheid die Jahresfrist für einen zweiten wahre, nicht zu entnehmen. Beide Urteile lehnen zwar die gerichtliche Aufhebung eines Rücknahmebescheides allein wegen fehlender Ermessensausübung auch nach Ablauf der Jahresfrist wegen weiterhin bestehender Wiederholungsgefahr ab, lassen aber nicht erkennen, ob sie eine Wiederholung nur tatsächlich oder auch rechtlich für möglich halten. Soweit der 1. Senat im Urteil vom 15. Oktober 1987 (SozR 1300 § 45 Nr 32) und der 5. Senat im Urteil vom 13. Juli 1988 - 5/5b RJ 24/87 - entschieden haben, daß eine Aufhebung wegen fehlerhafter oder fehlender Ermessensausübung grundsätzlich zulässig sei, liegt dem wohl die Auffassung zugrunde, daß der mit der Dauer eines Gerichtsverfahrens regelmäßig verbundene Ablauf der Jahresfrist eine erneute Rücknahme ausschließt. Hierzu stellt der erkennende Senat klar, daß er - soweit es sich um die Rücknahme für die Vergangenheit, und zwar gerechnet ab Urteilserlaß handelt - auch an der Aussage in seinem Urteil vom 4. Februar 1988 (BSGE 63, 37) nicht mehr festhält, daß die Wiederholungsgefahr eine Aufhebung der Rücknahme wegen fehlender Ermessensausübung in der Regel nur beim Vorliegen der gesetzlichen Ermessensvoraussetzungen erlaube.
Die bei der Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte mit Wirkung für die Vergangenheit nach § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 zu beachtende Jahresfrist beginnt mit der "Kenntnis der Tatsachen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts für die Vergangenheit rechtfertigen".
Obwohl der Gesetzeswortlaut auf die Kenntnis der Tatsachen abhebt und nicht ausdrücklich die Kenntnis ihrer rechtlichen Bedeutung fordert, kommt nach Sinn und Zweck der Vorschrift auch eine ausdehnende, die Kenntnis der Rechtsfolgen einbeziehende Auslegung in Betracht, insbesondere wenn die Frist als Entscheidungsfrist verstanden wird, die nach dieser Zielsetzung erst mit der völligen Klärung der Sach- und Rechtslage beginnt. Dabei kann die Frage, ob auch die Kenntnis der Rechtsfolge zu fordern ist, hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes als Grundvoraussetzung der Rücknahme anders zu beantworten sein als hinsichtlich der übrigen Voraussetzungen der Rücknahme. Damit kann für den Fristbeginn maßgebend sein (1.) die Kenntnis der die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes begründenden Tatsachen, (2.) die Kenntnis aller die Rücknahme rechtfertigenden Tatschen, (3.) die Rechts- und Tatsachenkenntnis hinsichtlich der Grundvoraussetzung der Rücknahme (der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes), während hinsichtlich der übrigen Rücknahmevoraussetzungen die Tatsachenkenntnis genügt oder (4.) die Kenntnis aller Tatsachen, die die Rücknahme rechtfertigen, und ihrer rechtlichen Bedeutung. Die Fragestellung "Bearbeitungsfrist oder Entscheidungsfrist" betrifft nur die Zielsetzung der Vorschrift als einen Aspekt der Auslegung und erschließt damit nicht alle zu erwägenden Auslegungsmöglichkeiten.
Der vorliegende Sachverhalt zwingt nicht, sich für eine der Auslegungsmöglichkeiten 2. oder 3. zu entscheiden. Die Revision der Beklagten wäre nur begründet, wenn der weitesten Auslegungsmöglichkeit zu 4. (hinsichtlich aller Rücknahmevoraussetzungen volle Tatsachen- und Rechtskenntnis) zu folgen wäre. Nur dann wäre es erheblich, ob die Beklagte über die Pflicht zur Ermessensausübung irrte. Die von der Revision befürwortete Auslegung zu 4. ist indes ebenso wie die Auslegung zu 1., der das LSG gefolgt ist, abzulehnen. Ob der Auslegung zu 2. (nur Tatsachenkenntnis) oder zu 3. (hinsichtlich der Grundvoraussetzung auch Rechtskenntnis) zu folgen ist, läßt der Senat offen, so daß auch offen bleibt, ob diese Frage zum VwVfG anders als zum SGB 10 entschieden werden kann.
Gegen die Auslegung zu 1., daß die Frist schon mit Kenntnis der Tatsachen beginne, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes ergibt, hat sich der Große Senat des BVerwG in seinem Beschluß vom 19. Dezember 1984 zu der entsprechenden Fristbestimmung in § 48 Abs 4 Satz 1 VwVfG ausgesprochen (BVerwGE 70, 356 ff). Das BSG hat sich dem zur Jahresfrist des § 45 Abs 4 SGB 10 angeschlossen (BSGE 60, 239, 240 und BSGE 62, 103, 108), auch zur entsprechenden Anwendung der Jahresfrist nach § 48 SGB 10 (SozR 1300 § 48 Nr 47 S 132/133). Dafür spricht insbesondere der Gesetzeswortlaut. Dieser nennt im VwVfG die Voraussetzungen der Rücknahme, im SGB 10 die Voraussetzungen der Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit. Hätte der Gesetzgeber nicht auf die im SGB 10 und im VwVfG unterschiedlich umschriebenen Voraussetzungen für die Rücknahme abstellen wollen, sondern auf die in beiden Gesetzen einheitlich umschriebene Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes, so hätte er eine einheitliche Formulierung gewählt, zumal der Unterschied, daß die Jahresfrist nach dem SGB 10 nur die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit betrifft, während das VwVfG auch die Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft an die Frist bindet, die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes als Grundvoraussetzung der Rücknahme nicht berührt.
Abzulehnen ist auch die Auslegungsmöglichkeit zu 4., die hinsichtlich aller Voraussetzungen der Rücknahme neben der Tatsachenkenntnis die Kenntnis der jeweiligen Rechtsfolge verlangt. Selbst wenn entsprechend der dritten Auslegungsmöglichkeit die Kenntnis hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes Tatsachen und Rechtsfolge umfassen muß, kann dies unter Berücksichtigung der hierfür maßgebenden Überlegungen jedenfalls nicht auf die übrigen Voraussetzungen der Rücknahme im Sinne der Auslegung zu 4. übertragen werden. Mit dem Gesetzeswortlaut wäre es noch zu vereinbaren, die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes wie eine Tatsache zu behandeln, zumal das Gesetz auch in anderem Zusammenhang zwischen der rechtlichen und der tatsächlichen Rechtswidrigkeit (unrichtige Rechtsanwendung; unrichtiger Sachverhalt) eines Verwaltungsaktes nicht unterscheidet. Darauf weist das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang zu Recht hin (BVerwGE 70, 356, 359). Die im Gesetz angeordnete Unterscheidung zwischen Tatsachen und Rechtsfolgen wird in der 3. Auslegungsmöglichkeit nur hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes eingeschränkt, behält aber gleichwohl für die übrigen Voraussetzungen der Rücknahme ihre Bedeutung. Würde ein Rechtsanwendungsfehler auch hinsichtlich der übrigen Rücknahmevoraussetzungen den Fristbeginn ausschließen, so bliebe die im Gesetz angeordnete Beschränkung auf Tatsachen völlig unbeachtet. Hätte der Gesetzgeber das gewollt, so hätte er - kürzer - von der Kenntnis der Voraussetzungen der Rücknahme gesprochen.
Die entsprechende Fristvorschrift in § 48 Abs 4 VwVfG soll nach ihrer amtlichen Begründung nur die Fälle erfassen, in denen die Behörde durch tatsächliche Ereignisse auf die Rechtswidrigkeit eines konkreten Verwaltungsaktes hingewiesen wird, so daß allgemeine Hinweise ohne konkreten Fallbezug - wie zB das Bekanntwerden höchstrichterlicher Entscheidungen, die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit einer bestimmten Verwaltungspraxis oder einer bestimmten Parallelentscheidung - die Rücknahmefrist nicht in Lauf setzen (BT-Drucks 7/910, S 71; BVerwGE 70, 356, 361 f). Der Wille des Gesetzgebers, die Jahresfrist nicht mit dem Bekanntwerden höchstrichterlicher Entscheidungen beginnen zu lassen, beruht auf der Annahme, daß die Jahresfrist erst mit der Kenntnis der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes beginne. In diesem Zusammenhang deutet jedoch nichts darauf hin, daß der Gesetzgeber auch hinsichtlich der übrigen Voraussetzungen der Rücknahme bei Rechtsanwendungsfehlern den Fristbeginn ausschließen wollte.
Würden Rechtsanwendungsfehler auch hinsichtlich der übrigen Voraussetzungen der Rücknahme den Fristbeginn ausschließen, so bliebe für die Frist kaum ein Anwendungsbereich. Schon gegen die Auslegung zu 3. ist eingewandt worden, damit laufe die Jahresfrist leer, da die Behörde jederzeit Tatsachen, die bei der Ermessensausübung berücksichtigt werden durften, neu ermitteln könne (vgl Kopp, DVBl 1985, 525 ff und Schoch NVwZ 1985, 880 ff). Hätte der Gesetzgeber des SGB 10 die Jahresfrist des VwVfG noch weitergehend im Sinne der Auslegung zu 4. verstanden, so hätte er die Frist wegen des unbedeutenden Anwendungsbereichs entweder zur Rechtsvereinfachung überhaupt nicht in das SGB 10 übernommen, oder er hätte sie wegen der erstrebten Übereinstimmung unverändert, also auch für die Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft, in das SGB 10 übertragen.
An dieser Auslegung des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 ist der Senat durch die bereits angeführte Entscheidung des Großen Senats des BVerwG nicht gehindert. Diesem war die Rechtsfrage vorgelegt, ob § 48 Abs 4 Satz 1 VwVfG auch den Fall erfasse, daß die Behörde nachträglich erkennt, den beim Erlaß eines begünstigenden Verwaltungsakts vollständig bekannten Sachverhalt unzureichend berücksichtigt oder unrichtig gewürdigt und deswegen unrichtig entschieden zu haben (BVerwGE 70, 356, 357). Gefragt war, ob in diesen Fällen die Jahresfrist bereits mit dem Erlaß des zurückgenommenen Verwaltungsaktes beginnt. Dies hat der Große Senat des Bundesverwaltungsgerichts verneint (aaO S 365). Das wird damit begründet, daß der Fristbeginn neben der Kenntnis derjenigen Tatsachen, die die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsakts begründen, die Rechtswidrigkeit selbst umfassen müsse und überdies die Tatsachen, die die Rücknahme des Verwaltungsakts rechtfertigen. Insoweit stimmt die vom Senat erörterte Auslegungsmöglichkeit zu 3. zum Fristbeginn mit der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts überein. Hinsichtlich der übrigen Voraussetzungen der Rücknahme läßt auch der Große Senat des Bundesverwaltungsgerichts die Kenntnis der Tatschen genügen. Die Entscheidung verlangt neben der Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsakts nicht die Kenntnis der übrigen Voraussetzungen der Rücknahmeentscheidung, sondern - jeweils ausdrücklich - die Kenntnis sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung erheblicher "Tatsachen" (aaO S 362), ein gewichtiges Anzeichen dafür, daß das Bundesverwaltungsgericht keinen weitergehenden Rechtssatz aufstellen wollte.
Gleichwohl soll vieles dafür sprechen, daß nach Auffassung des Großen Senats des BVerwG die fristauslösende Entscheidungsreife nach einer gerichtlichen Aufhebung eines fristgemäßen Rücknahme oder Widerrufsbescheides wegen unzureichender Ermessensausübung erst nach Kenntnis der Entscheidungsgründe gegeben sei, weil erst sie der Behörde im Sinne des angeführten Beschlusses "vollständige Kenntnis" über die für die Rücknahme- oder Widerrufsentscheidung erheblichen Tatsachen verschaffe (BVerwG vom 20. Mai 1988 - 7 B 79/88 - DÖV 1988, 975; ähnlich BSG SozR 1300 § 48 Nr 47 S 133). Ein solcher Rechtssatz ist indes der Entscheidung des Großen Senats des BVerwG jedenfalls nicht mit der für eine Divergenzanrufung erforderlichen Deutlichkeit zu entnehmen. Lediglich das zur Begründung verwandte Argument, es handele sich um eine Entscheidungsfrist und nicht um eine Bearbeitungsfrist (aaO S 363), könnte in diesem Sinne zu verstehen sein. Dieses trägt indes nicht die Entscheidung des Großen Senats, sondern wird nur unterstützend herangezogen. Die Entscheidung stützt sich in erster Linie auf den Gesetzeswortlaut, der zwar für die dort getroffene Entscheidung spricht, daß die Kenntnis der Tatsachen nicht ausreicht, die die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes ergeben, der aber einem weitergehenden Rechtssatz, daß auch hinsichtlich der übrigen Rücknahmevoraussetzungen die Kenntnis der Rechtsfolge erforderlich sei, widersprechen würde. Eine Divergenz scheidet daher schon deshalb aus, weil der Entscheidung zu § 48 VwVfG ein abweichender Rechtssatz nicht zu entnehmen ist. Damit kann offenbleiben, ob beide Vorschriften einer unterschiedlichen Auslegung zugänglich sind (vgl hierzu einerseits SozR 1300 § 48 Nr 47 und andererseits Dörr Komp 1986, 97, 103; Hendler JuS 1985, 947, 950; Buriahnek JA 1985, 518, 519; Frehse ZfS 1988, 225).
Ob der vom BVerwG zu § 48 Abs 4 VwVfG geäußerten Rechtsauffassung, die Kenntnis der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes müsse die Kenntnis der Tatsachen und der Rechtsfolge umfassen (Auslegungsmöglichkeit 3.), auch zu § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 zu folgen ist, kann beim vorliegenden Sachverhalt offenbleiben. Die Beklagte hatte nämlich diese Kenntnis. Der Senat sieht deshalb von einer abschließenden Beurteilung ab. Die Rechtssicherheit wird dadurch nicht wesentlich betroffen. Denn es ist zweifelhaft, ob überhaupt Fälle denkbar sind, in denen diese Frage fallentscheidend wird. Das BVerwG wollte in denjenigen Fällen die Rücknahme nicht an der Jahresfrist scheitern lassen, in denen der Behörde der Sachverhalt schon bei Erlaß des begünstigenden Verwaltungsaktes bekannt war, die Rechtswidrigkeit aber erst später nach Bildung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung oder aufgrund einer Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung bekannt wurde. In diesen Fällen scheitert im Bereich des SGB 10 eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit in aller Regel schon am Fehlen grober Fahrlässigkeit auf Seiten des Bürgers, so daß es auf die Frist nicht mehr ankommt. Die Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft ist nach dem SGB 10 frei von dieser Frist möglich, so daß die Auslegung der Fristvorschrift auch hier nicht entscheidungserheblich werden kann. In der Praxis wird die Frist nur auf Sachverhalte anzuwenden sein, in denen sie nach der Auslegung zu 2. mit der Kenntnis der Tatsachen beginnt, die die Rücknahme rechtfertigen.
Auch wenn der Senat damit der Rechtsauffassung des LSG insofern nicht gefolgt ist, als er für den Beginn der Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 neben der Kenntnis der Tatsachen, welche die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsakts begründen, auch die Kenntnis der Tatsachen verlangt, die die Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsakts rechtfertigen, reichen die mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG doch aus, um das der Klage stattgebende Urteil zu bestätigen. Danach wußte die Beklagte bereits vor dem 2. Juni 1985 - nämlich spätestens seit dem 23. Juni 1983 -, daß der zurückgenommene Bewilligungsbescheid vom 20. Juni 1983 bei seinem Erlaß wegen Nichtberücksichtigung der Eheschließung der Klägerin und des anzurechnenden Einkommens des Ehemanns so nicht hätte ergehen dürfen und damit rechtswidrig war. Ebenso waren ihr die Tatsachen zur Vertrauensabwägung und zur Ermessensausübung, die nach dem Rücknahmebescheid vom 3. Juni 1986 die Rücknahme rechtfertigen sollten, bereits vor dem 2. Juni 1985 bekannt. Die Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 war mithin bei Erlaß des Rücknahmebescheides am 3. Juni 1986 abgelaufen. Dieser Bescheid ist vom LSG daher zu Recht aufgehoben worden, weshalb die Revision der Beklagten zurückzuweisen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen