Entscheidungsstichwort (Thema)
Lohnsteuerklassenwechsel von Ehegatten zur Erhöhung des Arbeitslosengeldes
Leitsatz (amtlich)
Die Einschränkung des § 330 Abs 1 SGB 3 gilt nicht in Rechtsbehelfsverfahren gegen nicht bestandskräftige Verwaltungsakte.
Leitsatz (redaktionell)
Auch die Wahl einer Lohnsteuerklassenkombination mit der nicht der günstigste, aber ein geringerer gemeinsamer Lohnsteuerabzug erreicht wird, ist gemäß § 137 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB III zu berücksichtigen.
Normenkette
SGB X § 44 Abs. 1 S. 1, § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, Abs. 2; SGB III § 330 Abs. 1, 3, § 137 Abs. 4 S. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 27. Juni 2003 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt höheres Arbeitslosengeld (Alg) ab 1. April 1999 nach einem Steuerklassenwechsel.
Der im Jahre 1947 geborene Kläger ist verheiratet. Zu Beginn des Jahres 1999 war auf seiner Lohnsteuerkarte die Lohnsteuerklasse V, bei seiner Ehefrau die Lohnsteuerklasse III eingetragen. Die Beklagte bewilligte dem Kläger Alg ab dem 2. März 1999 in Höhe von 256,27 DM wöchentlich. Dabei legte sie ein monatliches Bruttoentgelt von 3.673,37 DM und die Leistungsgruppe D (Lohnsteuerklasse V) zu Grunde (Bewilligungsbescheid vom 8. März 1999).
Zum 1. April 1999 erfolgte eine Änderung der Lohnsteuerklassen. Nunmehr wurde für den Kläger die Lohnsteuerklasse III, für seine Ehefrau die Lohnsteuerklasse V eingetragen. Die Ehefrau des Klägers erhielt im April 1999 Bezüge in Höhe von 3.085,60 DM (“gesamt brutto”) bzw 2.832,57 DM (“Steuer-brutto”). Der Kläger richtete am 14. Juni 1999 ein Schreiben an die Beklagte, in dem er auf die Änderung der Lohnsteuerklasse zum 1. April 1999 hinwies. Er bat, rückwirkend zum Änderungszeitpunkt die nunmehr zutreffende Eingruppierung bei der Berechnung anzuwenden. Er beantrage Abänderung des Bescheides. Sollte den Anträgen nicht stattgegeben werden, sei dieses Schreiben als Widerspruch zu bewerten. Die Beklagte wertete dieses Schreiben als Widerspruch gegen den Alg-Bewilligungsbescheid vom 8. März 1999 und gleichzeitig als Überprüfungsantrag gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Den Widerspruch wies sie als unzulässig (verfristet) zurück (Widerspruchsbescheid vom 28. Juli 1999).
Durch Bescheid vom 7. Juli 1999 lehnte die Beklagte den Antrag auf Überprüfung der Entscheidung vom 8. März 1999 ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies sie durch Bescheid vom 29. Juli 1999 zurück. Angesichts des Verdienstes der Ehefrau im April 1999 entsprächen die ab April eingetragenen Lohnsteuerklassen nicht dem Verhältnis der monatlichen Arbeitsentgelte gemäß § 137 Abs 4 Nr 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III), weshalb eine Änderung des Bewilligungsbescheides gemäß § 44 SGB X zu Recht abgelehnt worden sei.
Der Kläger hat gegen die genannten Bescheide am 5. August 1999 Klage zum Sozialgericht (SG) Wiesbaden erhoben, das das Begehren als zwei getrennte Klagen behandelt hat. Die Klage gegen den Bescheid vom 8. März 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 1999 (verfristeter Widerspruch vom 14. Juni 1999) hat es durch Gerichtsbescheid vom 29. November 1999 (S 11 AL 737/99) abgewiesen. Hiergegen wurde keine Berufung eingelegt.
Auf die vorliegende Klage gegen den Bescheid vom 7. Juli 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juli 1999 hat das SG durch Gerichtsbescheid vom 6. März 2000 die soeben genannten Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Bewilligungsbescheid über Alg vom 8. März 1999 abzuändern und dem Kläger ab 1. April 1999 Alg nach Leistungsgruppe C zu bewilligen. Hinsichtlich des Leistungszeitraums vom 2. März 1999 bis 31. März 1999 hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, für April 1999 sei auf Seiten des Klägers von 3.673,37 DM und auf Seiten seiner Ehefrau von 2.832,57 DM an Einkommen auszugehen. Gemäß § 137 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB III sei auf das Verhältnis der beiden Einkommen der Grundsatz steuerlicher Zweckmäßigkeit anzuwenden. Die Steuerklasse V für den höher verdienenden Ehegatten sei immer unzweckmäßig. Da der Kläger vorliegend der höher verdienende sei, habe er seine bisherige Steuerklasse in eine ihm günstigere Steuerklasse ändern dürfen. Die von ihm gewählte Steuerklasse III sei günstiger als die bisherige Steuerklasse V. Dem stehe auch nicht entgegen, dass vorliegend die Steuerklassenkombination IV/IV noch günstiger wäre als die Steuerklassenkombination III/V.
Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. Nachdem das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte auf das Urteil des erkennenden Senats vom 4. September 2001 (B 7 AL 84/00 R) hingewiesen hatte, nach der ein zweckmäßiger Lohnsteuerklassenwechsel iS des § 137 Abs 4 Nr 1 SGB III auch dann vorliegt, wenn die neu gewählte Lohnsteuerklassenkombination nicht zum geringsten, aber zu einem geringeren Lohnsteuerabzug führe, hat die Beklagte ausgeführt, sie sei nicht verpflichtet, ihre Bewilligungsentscheidung entsprechend dieser neuen Rechtsprechung zu ändern. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sei lediglich eine Überprüfung im Rahmen des § 44 SGB X. Auf Grund der in § 330 Abs 1 SGB III getroffenen Sonderregelung sei die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 4. September 2001 als Entstehung einer ständigen Rechtsprechung anzusehen. Erst ab dem Zeitpunkt der Zustellung dieses Urteils seien entgegenstehende Bescheide, die auf der früheren Rechtsansicht beruhen, zu ändern.
Das LSG hat durch Urteil vom 27. Juni 2003 die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die Beklagte gehe nunmehr selbst davon aus, dass die Wahl der Lohnsteuerklasse III durch den Kläger zum 1. April 1999 zumindest günstiger und damit iS des § 137 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB III zu berücksichtigen gewesen sei. Entgegen der Auffassung der Beklagten stehe einer Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit auch nicht § 330 Abs 1 SGB III entgegen. Die Rechtsprechung zu § 137 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB III habe sich durch das Urteil des BSG vom 4. September 2001 nicht geändert. Der Regelungsgehalt des am 1. Januar 1998 in Kraft getretenen § 137 Abs 4 SGB III weiche wesentlich vom Regelungsgegenstand des früheren § 113 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) ab. Die frühere – auch von der Beklagten zitierte Rechtsprechung des BSG – sei nicht mehr maßgebend. Der in der zitierten Entscheidung formulierte Grundsatz, dass ein zweckmäßiger Lohnsteuerklassenwechsel auch dann vorliege, wenn die neu gewählte Lohnsteuerklassenkombination nicht zum geringsten, aber zu einem geringeren Lohnsteuerabzug führe, stelle deshalb keine Änderung der Rechtsprechung dar, vielmehr handele es sich um eine erstmalige Konkretisierung einer gesetzlichen Neuregelung. Die Rechtsauffassung der Beklagten hätte im Übrigen die nicht zu rechtfertigende Konsequenz, dass Betroffene dann günstiger stünden, wenn die Rechtslage durch eine höchstrichterliche Entscheidung noch nicht geklärt sei, eine andere – von der Praxis der Arbeitsämter abweichende – Auslegung mithin nicht vorliege. Für solche Antragsteller greife § 44 Abs 1 SGB X ohne weiteres ein. Ein Betroffener, der sich zudem auch auf ein Urteil des BSG stützen könne, wäre demgegenüber von den Rechtsvorteilen dieser Norm ausgeschlossen.
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision. Sie rügt eine Verletzung des § 330 Abs 1 SGB III. Im vorliegenden Fall finde § 44 SGB X und nicht § 48 SGB X Anwendung. Über den Antrag des Klägers, wegen der Änderung der Lohnsteuerklasse ab 1. April 1999 höheres Alg zu erhalten, sei bereits durch den Gerichtsbescheid des SG vom 29. November 1999 rechtskräftig entschieden worden. Dies folge auch aus dem Antrag, den der Kläger in dem dortigen Rechtsstreit gestellt habe. Denn dieser habe beantragt, den Bescheid vom 8. März 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 1999 aufzuheben “und die Arbeitslosenunterstützung des Klägers nach Lohnsteuerklasse III vorzunehmen”. Mithin stehe § 330 Abs 1 SGB III einer Aufhebung der angefochtenen Bescheide im Wege des Zugunstenverfahrens gemäß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X entgegen. Der Verwaltungsakt beruhe auf einer Rechtsnorm, die nach seinem Erlass in ständiger Rechtsprechung anders als durch das Arbeitsamt ausgelegt worden sei. Das LSG habe das Urteil des 11. Senats des BSG vom 29. Juni 2000 (SozR 3-4100 § 152 Nr 9) nicht berücksichtigt. Nach dieser Entscheidung werde nicht vorausgesetzt, dass eine Änderung der Rechtsprechung des Revisionsgerichts stattgefunden habe, die Rechtsfrage mithin in den Entscheidungen des Gerichts bisher anders beurteilt worden sei. Eine “ständige Rechtsprechung” iS des § 330 Abs 1 SGB III sei auch dann zu bejahen, wenn die Auslegung einer Rechtsnorm erstmals höchstrichterlich klargestellt worden sei. Eine ständige Rechtsprechung iS des § 152 Abs 1 AFG könne nach dem genannten Urteil des BSG bereits dann vorliegen, wenn nur eine Entscheidung des BSG ergangen sei. Voraussetzung sei, dass mit diesem Urteil eine Klarstellung der Rechtslage erfolgt sei, wobei die Rechtsnorm, auf der der Verwaltungsakt beruhe, nach dessen Erlass anders als durch die Bundesagentur für Arbeit (BA) ausgelegt worden sein müsse. Es genüge somit auch eine höchstrichterliche Klarstellung der Rechtslage gegenüber einer abweichenden Auslegung der Norm durch die Verwaltung. Der zu korrigierenden Entscheidung müsse ursprünglich eine generelle und grundsätzlich in allen gleich gelagerten Fällen praktizierte Handhabung der maßgeblichen Vorschrift durch die Verwaltung zu Grunde gelegen haben. Die von ihr – der Beklagten – bei Erlass des Bewilligungsbescheides vom 8. März 1999 vertretene Rechtsauffassung habe der damaligen Fassung der zu § 137 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB III ergangenen und erst am 28. März 2002 geänderten Sammelanweisungen entsprochen. Es sei auch nicht nachvollziehbar, dass § 330 Abs 1 SGB III gegen Art 3 Abs 1 Grundgesetz verstoße. Die Norm wirke sich vielmehr in ähnlicher Weise aus wie eine Stichtagsregelung, die als zeitliche Differenzierung in der Form der Typisierung grundsätzlich hinzunehmen sei, sofern sie sich als notwendig erweise, am gegebenen Sachverhalt orientiere und sachlich vertretbar sei. Entstanden sei die ständige Rechtsprechung zu § 137 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB III also erst mit der Zustellung des Urteils des BSG vom 4. September 2001, sodass der hier im Streit stehende Zeitraum (1. April 1999 bis 31. Dezember 1999) gänzlich vor der Entstehung der ständigen Rechtsprechung liege.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 27. Juni 2003 sowie den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Wiesbaden vom 6. März 2000 aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er beruft sich auf den Inhalt des angefochtenen Urteils. Ergänzend trägt er vor, über den Antrag des Klägers sei gemäß § 48 SGB X zu entscheiden. Doch selbst wenn es sich um einen Fall des § 44 SGB X handele, so erlaube der von der Beklagten vorgetragene Sachverhalt keine Anwendung des § 330 Abs 1 SGB III, denn die Regelung des § 137 Abs 4 Satz 1 SGB III sei bereits vor der Entscheidung des BSG eindeutig gewesen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Die Entscheidung des LSG beruht zwar möglicherweise auf einer Verletzung des § 330 Abs 1 SGB III (§ 330 Abs 1 SGB III idF des AFRG vom 24. März 1997 – BGBl I 594) iVm § 44 SGB X, stellt sich jedoch gemäß § 170 Abs 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) aus anderen Gründen als richtig dar. Der Kläger hat einen Antrag gemäß § 48 Abs 1 SGB X an die Beklagte gerichtet, den die Beklagte unzutreffender Weise als Antrag nach § 44 Abs 1 SGB X behandelt hat (vgl hierzu unter 1.). Dieser Antrag war auch begründet, weil zum 1. April 1999 mit dem Wechsel der Lohnsteuerklasse eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten ist, die zu Gunsten des Klägers zu berücksichtigen war (hierzu unter 2.). Auch die Norm des § 48 Abs 2 SGB X steht einer Berücksichtigung der Änderung der Verhältnisse mit Wirkung ab 1. April 1999 nicht entgegen (vgl unter 3.).
Der Antrag des Klägers ist gemäß § 48 Abs 1 SGB X iVm § 330 Abs 3 SGB III (Abs 3 ebenfalls idF des AFRG, aaO) zu beurteilen. Der Kläger richtete am 14. Juni 1999 ein Schreiben an die Beklagte, in dem er auf die Änderung der Lohnsteuerklasse (Wechsel in Lohnsteuerklasse III) zum 1. April 1999 hinwies. Er beantragte dabei ausdrücklich die Abänderung des Bewilligungsbescheides über Alg vom 8. März 1999 rückwirkend zum Änderungszeitpunkt 1. April 1999. Der Kläger hat mithin bereits formal gerade nicht Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 8. März 1999 von Anfang an gemäß § 44 SGB X beantragt, sondern dessen Änderung, weil eine Änderung in seinen Verhältnissen eingetreten war. Die rechtliche Bedeutung dieses Antrags hat die Beklagte verkannt, soweit sie den Antrag von vornherein als Antrag gemäß § 44 SGB X bzw als (verfristeten) Widerspruch gegen den ursprünglichen Bewilligungsbescheid vom 8. März 1999 behandelt hat. Auch aus der prozessualen Vorgehensweise des SG Wiesbaden nach der Klageerhebung am 5. August 1999 kann nichts anderes zu Lasten des Klägers folgen. Das SG hat die einheitlich erhobene Klage des Klägers getrennt und lediglich hinsichtlich der Verfristetheit des Widerspruchs vom 14. Juni 1999 (Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 1999) die Klage durch Gerichtsbescheid vom 29. November 1999 abgewiesen (Az: S 11 AL 737/99). Der Gerichtsbescheid vom 29. November 1999 befasst sich dabei ausschließlich mit der Frage, ob der “Widerspruch” des Klägers vom 14. Juni 1999 verfristet war, was das SG zutreffenderweise bejaht hat. Eine materiell-rechtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Höhe des dem Kläger zustehenden Alg ab 1. März 1999 bzw ab 1. April 1999 wird in dem Gerichtsbescheid jedoch gerade nicht getroffen. Weder aus der Entscheidungsformel (Tenor) noch aus den Entscheidungsgründen dieses Gerichtsbescheides kann mithin abgeleitet werden, über den Antrag des Klägers gemäß § 48 SGB X ab 1. April 1999 sei bereits bestands- bzw rechtskräftig entschieden worden. Soweit die Beklagte hierzu auf die Antragstellung durch den Kläger im Prozess hinweist – “Arbeitslosenunterstützung nach der Steuerklasse III vorzunehmen” – hat das SG über diesen Antrag inhaltlich in dem Gerichtsbescheid gerade nicht befunden. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass das SG diesen Antrag von sich aus für den Gerichtsbescheid formuliert hat, sodass dem Kläger aus der prozessrechtlichen Vorgehensweise des SG – Aufspaltung der ursprünglich einheitlich erhobenen Klage und Formulierung eines Antrags “für” den Kläger im Gerichtsbescheid – nicht der Nachteil erwachsen darf, dass bereits über “seinen Antrag” durch Gerichtsbescheid materiell-rechtlich entschieden worden sei.
Soweit die Beklagte schließlich in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, § 44 Abs 1 SGB X iVm § 330 Abs 1 SGB III finde im vorliegenden Falle Anwendung, weil der Wortlaut des § 44 Abs 1 SGB X nahe lege (“auch nachdem er unanfechtbar geworden ist”), dass für jeden Fall der Überprüfung – auch nicht bestandskräftiger Bescheide – § 44 SGB X einschlägig sei, so verkennt sie die Tragweite des § 44 Abs 1 SGB X. Würde man dieser Rechtsansicht beitreten, so würde sich jeder Rechtsbehelf gegen einen nicht begünstigenden Verwaltungsakt als Verfahren gemäß § 44 SGB X darstellen. Zwar ist nach dem Wortlaut des § 44 Abs 1 SGB X nicht Voraussetzung des Zugunstenverfahrens, dass der rechtswidrige Verwaltungsakt bereits unanfechtbar ist. Wenn die Rechtsbehelfsfristen noch laufen, wird das Verfahren nach § 44 SGB X im Regelfall aber nicht benötigt (vgl Kasseler Komm-Steinwedel § 44 SGB X RdNr 8). Etwas anderes kann auch nicht gelten – wie die Beklagte offenbar meint – wenn über die Anwendbarkeit des § 44 Abs 1 SGB X oder des § 48 SGB X zugleich über den Zugang zu § 330 Abs 1 oder Abs 3 SGB III mitentschieden wird.
- Der Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 8. März 1999 war ab 1. April 1999 teilweise rechtswidrig geworden und gemäß § 48 Abs 1 SGB X iVm § 330 Abs 3 SGB III zu ändern, weil eine wesentliche Änderung zu Gunsten des Betroffenen eingetreten ist (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X). Die wesentliche Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Bewilligungsbescheid vom 8. März 1999 bestand darin, dass der Kläger zum 1. April 1999 in Lohnsteuerklasse III gewechselt war. Dieser Wechsel der Lohnsteuerklasse war gemäß § 137 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB III (ebenfalls idF des AFRG, aaO) zu Gunsten des Klägers zu berücksichtigen. Haben Ehegatten die Lohnsteuerklassen gewechselt, so werden die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen von dem Tage an berücksichtigt, an dem sie wirksam werden, wenn die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen dem Verhältnis der monatlichen Arbeitsentgelte beider Ehegatten entsprechen (§ 137 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB III). Der Senat hat entschieden, dass gemäß § 137 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB III arbeitsförderungsrechtlich beachtlich auch die Wahl einer Lohnsteuerklassenkombination ist, mit der ein geringerer gemeinsamer Lohnsteuerabzug erreicht wird. Die Ehegatten müssen mithin nicht die günstigste Lohnsteuerklassenkombination gemäß § 137 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB III wählen, es genügt bereits die Wahl einer günstigeren Kombination (vgl Urteil vom 4. September 2001, BSGE 88, 299 = SozR 3-4300 § 137 Nr 1). Die Wahl der Lohnsteuerklasse III durch den Kläger zum 1. April 1999 war daher gemäß § 137 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB III zu berücksichtigen, da die neue Lohnsteuerklassenkombination zumindest günstiger, wenn auch nicht die günstigste war. Dass die Rechtsprechung des Senats im vorliegenden Fall dazu führt, dass der Kläger arbeitsförderungsrechtlich sogar besser steht (Lohnsteuerklasse III) als die steuerrechtlich – typisierend – zweckmäßigste Lösung (IV/IV), ist im Rahmen des § 137 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB III hinzunehmen und Konsequenz des Urteils des Senats vom 4. September 2001 (aaO). Die Beklagte hat sich unter Berufung auf § 330 Abs 1 SGB III iVm § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X im Übrigen auch lediglich dagegen gewandt, dass der Kläger sich überhaupt auf dieses Urteil vom 4. September 2001 berufen könne.
- Gegen eine Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X mit Wirkung zum 1. April 1999 kann auch nicht die Norm des § 48 Abs 2 SGB X ins Feld geführt werden. Das BSG hat bereits mehrfach entschieden (vgl zuletzt BSGE 78, 109, 114 ff = SozR 3-1300 § 48 Nr 48; vgl auch BSGE 57, 209 = SozR 1300 § 44 Nr 13; BSGE 58, 27, 33 = SozR 1300 § 44 Nr 16), dass § 48 Abs 2 SGB X lediglich klarstelle, dass ein Verwaltungsakt jedenfalls mit Wirkung für die Zukunft einer geänderten höchstrichterlichen Rechtsprechung anzupassen sei, wenn sich dies zu Gunsten des Berechtigten auswirke. Die Anwendung der durch die höchstrichterliche Rechtsprechung geläuterten Rechtsauffassung für die Vergangenheit verbiete § 48 Abs 2 SGB X hingegen gerade nicht. Die Vorschrift steht daher einer Rücknahme oder Aufhebung eines Verwaltungsakts für die Vergangenheit nicht entgegen, wie sie gemäß § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X iVm § 330 Abs 3 SGB III im vorliegenden Fall vorgesehen ist. § 48 Abs 2 SGB X ist nicht im Sinn einer Sonderregelung zu verstehen, die bei Änderung der Rechtsprechung eine Aufhebung des Verwaltungsakts nur mit Wirkung für die Zukunft vorsieht, was sich im Einzelnen aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Norm ergibt (vgl BSGE 78, 109, 115 mwN = SozR 3-1300 § 48 Nr 48).
- Die Rüge der Beklagten, das Urteil des LSG verkenne den Regelungsbereich der Sonderregelung des § 330 Abs 1 SGB III, greift nicht durch, weil es sich vorliegend nicht um einen Fall des § 44 SGB X handelt; nur dann käme § 330 Abs 1 SGB III zum Zuge, der die Rechtsfolgen des § 44 SGB X modifiziert: Liegen die in § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen, nicht begünstigenden Verwaltungsakts vor, weil er auf einer Rechtsnorm beruht, die in ständiger Rechtsprechung anders als durch das Arbeitsamt ausgelegt worden ist, so ist der Verwaltungsakt, wenn er unanfechtbar geworden ist, nur mit Wirkung für die Zeit nach dem Entstehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen. Es kann offen bleiben, ob durch die Entscheidung des Senats vom 4. September 2001 (aaO) bereits eine “ständige Rechtsprechung” iS des § 330 Abs 1 SGB III entstanden war (vgl insoweit BSG SozR 3-4100 § 152 Nr 10; vgl hierzu auch Eicher in Hennig, SGB III, § 330 RdNr 18 ff mwN). Im Hinblick auf die vorliegende Fallkonstellation – der Kläger erhält im Rahmen des § 137 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB III sogar Alg nach Leistungsgruppe C, obwohl die Lohnsteuerklasse IV die zweckmäßigste Kombination gewesen wäre –, ist dies zweifelhaft. Jedenfalls scheint die Beklagte aus der Entscheidung des Senats vom 4. September 2001 gerade nicht die genannte Folgerung abzuleiten, sodass eine ständige Rechtsprechung iS des § 330 Abs 1 SGB III mithin – gestützt auf ihre Akzeptanz bei der BA – noch nicht entstanden sein könnte. Letztlich wirkt sich diese Frage hier jedoch nicht aus, weil § 330 Abs 1 SGB III im Rahmen des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X nicht eingreift.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
BFH/NV Beilage 2005, 154 |
FA 2005, 32 |
NZS 2005, 549 |
SozR 4-4300 § 330, Nr. 2 |
ArbRB 2004, 261 |
BFH/NV-Beilage 2005, 154 |
info-also 2005, 32 |