Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfall auf dem Wege vom Richtfest. unter Alkoholeinwirkung. Bindungswirkung von Bescheiden eines Unfallversicherungsträgers
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Teilnahme an einem Richtfest, und damit auch der Weg zu und von dem Richtfest ist grundsätzlich unfallversichert.
2. Wenn sich nicht aufklären läßt, ob ein Versicherter bei einem Unfall infolge Trunkenheit verkehrsuntüchtig war und damit die Fahruntüchtigkeit infolge Alkoholeinwirkung die wesentliche Ursache des Unfall war, so geht die Nichterweislichkeit zu Lasten desjenigen, der sich auf die anspruchshindernde Tatsache beruft.
3. Zur Frage der Bindungswirkung des Bescheides eines Trägers der gesetzlichen UV für Ersatzansprüche nach RVO § 1509a.
Normenkette
RVO § 550 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 1509a Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 4. August 1965 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die klagende Berufsgenossenschaft verlangt von der beklagten Krankenkasse Ersatz der Aufwendungen, die ihr durch die stationäre Behandlung des beigeladenen Bauarbeiters J (J.) entstanden sind.
J., der aus der Ukraine stammt und seit 1942 in Deutschland ist, war Mitte 1959 bei einer Baufirma in D beschäftigt. Am Abend des 3. Juli 1959 fand auf einer Baustelle dieser Firma ein Richtfest statt. An ihm nahm J., der auf der Baustelle gearbeitete hatte, mit etwa 20 Arbeitskollegen teil. Das Richtfest begann gegen 18,00 Uhr und endete etwa um 24,00 Uhr. J. verließ schon gegen 19.45 Uhr das Fest. Auf dem Heimweg stürzte er von seinem Fahrrad und zog sich Verletzungen am rechten Schienbein zu. Wegen dieser Verletzungen begab er sich am 9. Juli 1959 zu dem Durchgangsarzt. Dieser stelle eine infizierte Schienbeinkantenverletzung rechts fest und nahm J. in berufsgenossenschaftliche Heilbehandlung. Die stationäre Behandlung im St. J-Stift in D erfolgte vom 9. Juli bis 17. August 1959.
Die klagende Berufsgenossenschaft lehnte mit Schreiben vom 1. September 1959, gerichtet an die beklagte Krankenkasse, die Übernahme der Behandlungskosten ab, weil es sich bei dem Unfall des J. um keinen Arbeitsunfall gehandelt habe. Denn J. hatte bei seiner Vernehmung am 30. Juli 1959 bei dem Versicherungsamt angegeben, er habe bei dem Richtfest vier Flaschen Exportbier und 15 bis 20 Glas Gin oder Weinbrand getrunken. Da er alkoholische Getränke nicht gut vertrage und er schon allerhand getrunken gehabt habe, habe er sich als einer der ersten von dem Richtfest entfernt. Infolge des genossenen Alkohols sei er sehr unsicher gefahren und unterwegs mit dem Fahrrad gestürzt. Auch die beklagte Krankenkasse lehnte dem Krankenhaus gegenüber die Kostenübernahme ab. Die Stadt D übernahm daher vorerst die Kosten.
Mit Schreiben vom 28. März 1962 machte nunmehr die Klägerin ihren Anspruch von 642,- DM (Transportkosten, Tagegeld und Pflegekosten) gegen die Beklagte geltend; diese lehnte wiederum ab. Darauf erteilte die Klägerin dem Beigeladenen den Bescheid vom 29. Mai 1962, mit dem sie Entschädigung für den Unfall ablehnte, weil alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls gewesen sei. Während die Klägerin den Bescheid mittels Einschreiben an J. am 22. Juni 1962 zustellte, übersandte sie der Beklagten formlos den Bescheid. Da die Beklagte auf wiederholte Mahnungen der Klägerin die Bezahlung des Betrages ablehnte, erhob die Klägerin Klage bei dem Sozialgericht (SG). Dieses hat die Beklagte zum Ersatz der Aufwendungen verurteilt, weil die Beklagte es versäumt habe, innerhalb der Verfahrensregeln des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Klage gegen den Bescheid vom 29. Mai 1962 zu erheben (Urteil vom 28. Mai 1964). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Bescheid der Klägerin vom 29. Mai 1962 sei im Verhältnis zur Beklagten kein Verwaltungsakt, der nach § 77 SGG Bindungswirkung erlangen könnte. Wenn es sich um Ansprüche eines Versicherungsträgers gegen einen anderen auf Ersatz handele, sei für den Erlaß eines Verwaltungsaktes kein Raum, vielmehr müsse der Klageweg beschritten werden. Die Klägerin könne sich daher nicht darauf berufen, daß die Beklagte den Bescheid vom 29. Mai 1962 nicht angefochten habe. Es komme für die Entscheidung darauf an, ob der Beigeladene am 3. Juli 1959 einen Arbeitsunfall erlitten habe. Die Teilnahme eines Bauarbeiters an einem Richtfest wie auch der Weg vom und zum Richtfest gehörten zu den vom Versichertenschutz erfaßten Tätigkeiten. Es fehlten hinreichende Anhaltspunkte, daß alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des Beigeladenen für den Eintritt des Unfalls rechtlich als allein wesentliche Ursache anzusehen sei. J. habe zwar vor dem Versicherungsamt den Genuß großer Mengen alkoholischer Getränke und die dadurch bedingte Fahrunsicherheit zugegeben. Es beständen aber Zweifel an der Richtigkeit der Angaben, weil der Beigeladene, wie der Senat sich überzeugt habe, der deutschen Sprache nicht mächtig sei und ohne Dolmetscher und nicht von einem der ukrainischen Sprache mächtigen Beamten vernommen worden sei. Diese Angaben habe der Beigeladene in der mündlichen Verhandlung klargestellt. Eine sichere Beurteilung der Verkehrstüchtigkeit wäre nur möglich, wenn eine Feststellung des Blutalkoholgehalts zur Zeit des Unfalls erfolgt wäre. Eine Vernehmung von Zeugen verspreche, worüber die Beteiligten sich einig seien, keine weitere Aufklärung des Sachverhalts. Diese Lücke wirke sich zum Nachteil der Klägerin aus. Der Unfall des Beigeladenen sei somit ein Arbeitsunfall, so daß die Klägerin von der Beklagten keinen Ersatz ihrer Aufwendungen verlangen könne. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Sie trägt vor: Es komme entgegen der Ansicht des LSG nicht auf die materiell-rechtliche Beurteilung des Unfalls an, weil der Ablehnungsbescheid vom 29. Mai 1962 an den Beigeladenen auch Rechtswirkungen gegenüber der Beklagten gehabt habe. Diese habe den Ablehnungsbescheid hingenommen und könne deshalb angesichts des Vertrauensverhältnisses zwischen den verschiedenen Trägern der Sozialversicherung wegen ihres Stillschweigens ihre ursprünglich geltend gemachten Forderungen aus § 1509 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) J. nicht mehr aufrechterhalten. Denn wenn die Beklagte die Ersatzansprüche nicht habe befriedigen wollen, so hätte sie gegen die Ablehnung der Erstattungsansprüche Klage nach § 54 Abs. 5 SGG erheben müssen. In der Sache selbst habe das LSG auf Grund der Aussage des J. zu Unrecht eine Lösung des Betriebszusammenhangs infolge alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit verneint. Es habe nicht berücksichtigt, daß J. praktisch eine Parteirolle spiele. Es hätte deshalb gemäß § 128 SGG die mit den früheren Erklärungen so sehr im Widerspruch stehenden, sechs Jahre später vor dem Senat abgegebenen nur mit der größten Vorsicht und dem größten Mißtrauen bewerten dürfen. Es sei auch zweifelhaft, daß J. kaum deutsch spreche, da er 1959 bereits 17 Jahre in Deutschland gelebt habe. Wenn das LSG trotzdem der ersten Aussage von 1959 nicht habe folgen wollen, so hätte es zumindest gemäß §§ 103, 106, 112 SGG den Bediensteten des Versicherungsamts, der die damalige Vernehmung durchgeführt habe, darüber hören müssen, ob J. damals der deutschen Sprache überhaupt nicht mächtig gewesen sei und nicht gewußt habe, was er als seine Aussage unterschrieben habe.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 4. August 1965 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Hannover vom 28. Mai 1964 zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Revision ist nicht begründet; denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf Ersatz ihrer Aufwendungen nach § 1509 a RVO gegen die Beklagte, weil es sich bei dem Unfall des J. um einen Arbeitsunfall gehandelt hat.
Wie der 2. Senat in seinem Urteil vom 14. Dezember 1965 (BSG 24, 155) ausgesprochen hat, hat der Bescheid eines Versicherungsträgers der gesetzlichen Unfallversicherung, durch den die Ansprüche des Verletzten abgelehnt worden sind, der Krankenkasse gegenüber für deren Ansprüche auf Ersatz ihrer Aufwendungen auch dann keine Bindungswirkung, wenn die Krankenkasse die Feststellung der Unfallentschädigung betrieben hat und der Bescheid auch ihr zugestellt worden ist. Der erkennende Senat hat sich diesem Urteil am 18. Juni 1968 in der Sache 3 RK 81/63 angeschlossen. Der Bescheid der Klägerin vom 29. Mai 1962 hat daher keine Bindungswirkung für evtl. Ersatzansprüche der klagenden Berufsgenossenschaft nach § 1509 a RVO. Daß die Beklagte gegen diesen Bescheid der Klägerin nicht sofort etwas unternommen hat, steht ihren Ansprüchen nicht entgegen. Es kommt daher darauf an, ob J. am 3. Juli 1959 einen Arbeitsunfall erlitten hat.
Wie sich aus BSG 21, 226 (Urteil des 2. Senats vom 31. Juli 1964) ergibt, ist die Teilnahme an einem Richtfest grundsätzlich unfallversichert, so daß ein Unfall bei diesem Anlaß ein Arbeitsunfall ist. Damit ist aber auch ein Unfall auf dem Wege zu und von dem Richtfest ein Arbeitsunfall (§ 543 RVO aF). Da J. den Unfall auf dem Rückweg vom Richtfest nach seiner Wohnung erlitten hat, stand er dabei unter Versicherungsschutz, es sei denn, daß wesentliche Ursache des Unfalls eine starke Trunkenheit gewesen wäre.
Das LSG hat hierzu festgestellt, es fehle an hinreichenden Anhaltspunkten für eine solche Annahme, auch wenn der Beigeladene bei seiner Vernehmung durch das Versicherungsamt den Genuß erheblicher Mengen alkoholischer Getränke und seine dadurch bedingte Unsicherheit, ein Fahrrad zu fahren, zugegeben habe. Diese Aussage könne nämlich nicht als ausschlaggebend angesehen werden, weil der Beigeladene nach der Überzeugung des Senats der deutschen Sprache nicht mächtig sei und damals nicht im Beisein eines Dolmetschers oder von einem der ukrainischen Sprache mächtigen Beamten vernommen worden sei.
Die von der Klägerin hiergegen erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch. Ob die frühere Aussage eines Zeugen und damit auch die eines Beteiligten wie des Beigeladenen glaubhaft ist oder nicht, hat das Tatsachengericht auf Grund seines persönlichen Eindrucks zu entscheiden. Wenn es dabei die früheren Aussagen des Beigeladenen nicht zu seiner Urteilsgrundlage gemacht hat, so kann dies nur dann beanstandet werden, wenn diese auf Verfahrensverstößen beruht. Dies ist zu verneinen. Zunächst war das LSG nicht gehalten, den vernehmenden Beamten des Versicherungsamts darüber zu hören, wie die Aussage zustande gekommen war und wie die Sprachkenntnisse des J. waren. Darüber konnte es sich selbst in der mündlichen Verhandlung durch die Vernehmung des J., die unter Zuziehung einer Dolmetscherin stattgefunden hat, einen Eindruck machen. Wenn das LSG zu dem Ergebnis gekommen ist, daß die Angaben des J. vor dem Versicherungsamt wegen der Bedenken gegen das Zustandekommen der Aussage (mangelnde deutsche Sprachkenntnisse, Vernehmung ohne Dolmetscher) nicht zur Urteilsgrundlage gemacht werden könnten, so hält es sich im Rahmen des § 128 SGG, wonach das Gericht auf Grund seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden hat. Eine weitere Aufklärung des Sachverhalts durch Vernehmung der Zeugen schied aus, worüber sich die Beteiligten vor dem LSG im klaren waren. Dies hat aber zur Folge, daß ein Arbeitsunfall anzunehmen ist. Denn wenn sich nicht aufklären läßt, ob ein Versicherter bei einem Unfall infolge Trunkenheit verkehrsuntüchtig war und daß damit die Fahruntüchtigkeit infolge Alkoholeinwirkung die wesentliche Ursache des Unfalls war, so geht diese Nichterweislichkeit zu Lasten desjenigen, der sich auf die anspruchshindernde Tatsache beruft (BSG 7, 249). Das ist aber im vorliegenden Fall die Klägerin.
Da somit ein Arbeitsunfall anzunehmen ist, hat die Klägerin die Kosten der Heilbehandlung zu tragen. Sie kann daher keinen Ersatz von der beklagten Krankenkasse fordern.
Die Revision muß daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Fundstellen