Leitsatz (amtlich)

Einer Person iS der BVFG §§ 1-4, die in den Jahren 1945 und 1946 4 bis 6 Jahre alt war und für die vorher keine freiwilligen Beiträge entrichtet worden sind, kann die pauschale Ersatzzeit des RKG § 51 Nr 6 (RVO § 1251 Abs 1 Nr 6) nicht angerechnet werden (Anschluß an BSG 1970-05-13 4 RJ 301/68 = SozR Nr 44 zu § 1251 RVO).

 

Normenkette

RKG § 51 Nr. 6 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1957-02-23; BVFG §§ 1-4

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Mai 1967 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Streitig ist unter den Beteiligten, ob die Wartezeit für die Gewährung einer Bergmanns- oder Knappschaftsrente erfüllt ist oder als erfüllt gilt.

Der am 5. September 1940 geborene Kläger war vom 17. April 1956 bis zum 16. Oktober 1957 Kokereiarbeiter in Oberschlesien. Dort erlitt er im Oktober 1956 einen Unfall, der zum Verlust des rechten Mittelfußes führte.

Im Dezember 1957 kam der Kläger in die Bundesrepublik. Er bezieht hier wegen des im Oktober 1956 erlittenen Unfalls eine Unfallrente von der Bergbau-Berufsgenossenschaft von 30 v. H. der Vollrente. Im Juli 1958 nahm er eine versicherungspflichtige Tätigkeit außerhalb des Bergbaus auf, arbeitete aber vom 31. Juli 1959 an wieder in knappschaftlichen Betrieben. Nach einer Erkrankung an endogener Psychose (paranoide Schizophrenie) beantragte sein Vater als Vormund am 10. September 1962, ihm die Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 29. Mai 1963 eine Rentengewährung ab, weil die Wartezeit von 60 Monaten nicht erfüllt sei. Der Kläger habe einschließlich der Tätigkeit als Kokereiarbeiter in Oberschlesien nur eine Beitragszeit von insgesamt 46 Monaten zurückgelegt. Da die Erwerbsunfähigkeit nicht infolge des erlittenen Arbeitsunfalls eingetreten sei, könne die Wartezeit auch nicht nach § 52 Nr. 1 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) als erfüllt gelten. Widerspruch und Klage waren erfolglos.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. September 1962 zu zahlen. Es sei zwar richtig, daß die Beitragszeit des Klägers auch dann nicht die erforderlichen 60 Monate umfasse, wenn man die in Oberschlesien zurückgelegte Beschäftigungszeit voll und nicht nur zu fünf Sechsteln anrechne. Jedoch seien nach den §§ 51 Nr. 6 RKG, 1251 Abs. 1 Nr. 6 Reichsversicherungsordnung (RVO) die Zeit vom 1. Januar 1945 bis zum 31. Dezember 1946 sowie außerhalb dieses Zeitraumes liegende Zeiten der Vertreibung, Flucht, Umsiedlung oder Aussiedlung und einer anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit als Ersatzzeiten anzurechnen, weil der Kläger Heimatvertriebener im Sinne der §§ 1 bis 4 des Vertriebenengesetzes sei. Wenn auch die Berücksichtigung der Zeit der Vertreibung und der anschließenden unverschuldeten Arbeitslosigkeit noch nicht zur Erfüllung der Wartezeit ausreiche, so sei diese doch mit den 24 Monaten für die Zeit vom 1. Januar 1945 bis zum 31. Dezember 1946 erfüllt. Es komme nicht darauf an, ob der Kläger schon damals eine versicherungspflichtige Tätigkeit habe ausüben können. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.

Mit der Revision rügt die Beklagte die unrichtige Anwendung der §§ 50 Abs. 3 Satz 2 Buchstabe a, 51 Nr. 6 RKG. Sie ist der Ansicht, daß die Zeit vom 1. Januar 1945 bis zum 31. Dezember 1946 nicht als Ersatzzeit angerechnet werden könne, weil der Kläger bei Beginn dieses Zeitraumes erst vier und bei seiner Beendigung erst sechs Jahre alt gewesen sei. Außerdem habe er erst am 17. April 1956, also nicht innerhalb von drei Jahren nach Beendigung dieser Ersatzzeit, eine knappschaftlich versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen. Schließlich könne die in § 50 Abs. 3 Satz 2 Buchst. a RKG getroffene Ausnahmeregelung schon deshalb nicht angewendet werden, weil der Kläger bereits vor der im Dezember 1957 erfolgten Vertreibung (Flucht, Umsiedlung oder Aussiedlung) versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) Duisburg vom 9. März 1965 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die zulässige Revision der Beklagten ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden muß.

Für die Zeit der Vertreibung (Flucht, Umsiedlung oder Aussiedlung) und einer anschließenden unverschuldeten Arbeitslosigkeit könnte möglicherweise noch die Zeit von Dezember 1957 bis Juni 1958 mit 7 Monaten als Ersatzzeit anerkannt werden (§ 50 Abs. 3 i. V. m. § 51 Nr. 6 RKG, § 1251 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 2 RVO). Damit wäre aber die Wartezeit von 60 Monaten (§ 49 Abs. 1 RKG) auch dann noch nicht erfüllt, wenn man die Zeit der Tätigkeit als Kokereiarbeiter in Oberschlesien (17. April 1956 bis zum 16. Oktober 1957) ungekürzt als Versicherungszeit anrechnen würde.

Die Erfüllung der Wartezeit hängt demnach davon ab, ob die Zeit vom 1. Januar 1945 bis zum 31. Dezember 1946 als Ersatzzeit anerkannt werden kann. Der Beklagten ist nicht darin beizupflichten, daß die Möglichkeit einer solchen Anerkennung schon daran scheitert, daß vor dem 1. Januar 1945 für den Kläger noch keine Versicherung bestanden und er nach dem 31. Dezember 1946 nicht innerhalb von drei Jahren eine versicherungspflichtige Tätigkeit oder Beschäftigung aufgenommen hat. Wie der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bereits entschieden hat (BSG 19, 109, 112), beginnt in den Fällen einer Vertreibung (Flucht, Umsiedlung oder Aussiedlung) nach dem 31. Dezember 1946 die Dreijahresfrist für die Anrechnung der pauschalen Ersatzzeit des § 51 Nr. 6 RKG (§ 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO) nicht schon am 1. Januar 1947 sondern erst mit der Beendigung der Vertreibung (Flucht, Umsiedlung oder Aussiedlung) zu laufen. Dieser Auffassung steht auch der Wortlaut der §§ 50 Abs. 3 Satz 2 Buchst. a und 51 Nr. 6 RKG und des § 1251 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 2 Satz 2 Buchst. a RVO nicht entgegen, wenn man die in den jeweiligen Nummern 6 genannten Zeiten, nämlich die Zeit vom 1. Januar 1945 bis zum 31. Dezember 1946 und eine spätere Vertreibungszeit, als eine Ersatzzeit ansieht. Auch die Tatsache, daß der Kläger zwischenzeitlich vor der Vertreibung (Flucht, Umsiedlung oder Aussiedlung) in Polen vom 17. April 1956 bis zum 16. Oktober 1957 versicherungspflichtig tätig war, schließt die Anwendung der Ausnahmeregelung des § 50 Abs. 3 Satz 2 Buchst. a RKG (Dreijahresfrist) nicht aus.

Dennoch kann dem Kläger, der am 5. September 1945 erst das fünfte Lebensjahr vollendete und der vor dem 1. Januar 1945 noch nicht versichert war, die pauschale Ersatzzeit des § 51 Nr. 6 RKG und des § 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO nicht angerechnet werden. Ersatzzeiten sollen Beitragszeiten ersetzen. Der Vertriebene (Flüchtling, Um- oder Ausgesiedelte) soll dadurch, daß er den außergewöhnlichen Umständen der Vertreibung, Flucht oder Aussiedlung unterworfen war, keinen rentenversicherungsrechtlichen Schaden erleiden. Die Zeit vom 1. Januar 1945 bis zum 31. Dezember 1946 wird diesem Personenkreis als pauschale Ersatzzeit stets voll angerechnet, auch wenn die Zeit zwischen dem Verlust des Wohnsitzes im Vertreibungsland und der Wohnsitznahme im Bundesgebiet oder in Mitteldeutschland von kürzerer Dauer gewesen ist, weil dann, wenn von diesen Personen in diesem Zeitraum keine Beiträge erbracht worden sind, in der Regel davon ausgegangen werden kann, daß die Beitragsleistung wegen der Fluchtereignisse oder einer anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit unterblieben ist. Der Nachweis dieses ursächlichen Zusammenhangs wird zur Vermeidung von Beweisschwierigkeiten für die Hauptvertreibungsjahre 1945 und 1946 nicht verlangt. Diese gesetzliche Regelung würde jedoch zweckwidrig angewendet werden, wenn sie auch für den Kläger, der am 5. September 1945 erst das fünfte Lebensjahr vollendete und für den daher in den Jahren 1945 und 1946 mit aller Wahrscheinlichkeit keine Beiträge entrichtet worden wären, gelten würde. Wenn mit aller Wahrscheinlichkeit für diese Jahre ohnehin keine Beiträge erbracht worden wären, dann können insoweit auch keine Beitragszeiten durch Ersatzzeiten ersetzt werden. In der Rechtsprechung des BSG hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß die rechtliche Möglichkeit gültiger Beitragsentrichtung die Voraussetzung für die Berücksichtigung von Ersatzzeiten ist (BSG 26, 274, 275). Ohne die Kriegsereignisse wäre es zwar im Vertreibungsgebiet des Klägers in den Jahren 1945/1946 theoretisch möglich gewesen, eine Selbstversicherung für den Kläger durchzuführen (§ 1243 RVO aF; vgl. hierzu BSG 3, 201), jedoch ist diese damals praktisch nicht vorkommende, nur theoretische Möglichkeit gültiger Beitragsentrichtung dem Fall gleichzustellen, daß eine gültige Beitragsentrichtung rechtlich überhaupt nicht möglich war. Es kann nicht Sinn einer pauschalen Regelung sein, einen Ausgleich für einen rentenversicherungsrechtlichen Schaden zu bringen, der allenfalls theoretisch denkbar, aber mit einer fast an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten ist, weil ohnehin keine Beiträge erbracht worden wären. Eine theoretische Versicherungsmöglichkeit, die in den in Betracht kommenden Jahren für fünf- bis sechsjährige Kinder praktisch nie genutzt wurde, weil sie gar nicht in das Bewußtsein der Bevölkerung eingedrungen war, muß außer Betracht bleiben (vgl. auch Urteil des 4. Senats des BSG vom 13. Mai 1970 - 4 RJ 301/68 - SozR Nr. 44 zu § 1251 RVO).

Die Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 26. Mai 1965 - 4 RJ 527/63 - (SozR Nr. 12 zu § 1251 RVO) betrifft einen anderen Sachverhalt und berührt daher den vorliegenden Rechtsstreit nicht. Nach dieser Entscheidung steht einer Anrechnung von Zeiten der Freiheitsentziehung (§ 43 Bundesentschädigungsgesetz) als Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO nicht entgegen, daß der Versicherte zur Zeit der Verfolgung erst 12 Jahre alt war. Der Fall, daß einem Zwölfjährigen aus Verfolgungsgründen die Freiheit entzogen wird, unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht so grundlegend von dem hier zu entscheidenden Fall, daß sich daraus - auch in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht - unterschiedliche Ergebnisse ergeben können.

Das LSG brauchte nach seiner Rechtsauffassung nicht mehr darüber zu entscheiden, ob die Voraussetzungen des § 52 Nr. 1 RKG für eine fiktive Erfüllung der Wartezeit für eine Bergmanns- oder Knappschaftsrente erfüllt sind. Es hat daher auch zu den hierzu vom SG gemachten Ausführungen und zu dem Ergebnis der vom SG hierzu erhobenen Beweise keine Stellung genommen. Nach der Entscheidung des erkennenden Senats bleibt aber - zumal die Berufung auch darauf gestützt wird - noch zu prüfen, ob der Kläger infolge seines Arbeitsunfalles vermindert bergmännisch berufsfähig oder berufsunfähig geworden ist und daher die Wartezeit für eine Bergmannsrente oder eine Knappschaftsrente als erfüllt gilt; jedoch konnte der Senat als Revisionsgericht die hierzu erforderlichen Feststellungen nicht treffen. Daher mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669729

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