Leitsatz (amtlich)

Zur Rückforderung und Aufrechnung überzahlten Krankengeldes.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. In der Krankenversicherung werden die Leistungen in der Regel "schlicht", dh ohne einen Verwaltungsakt gewährt; die KK sind daher nicht gehindert, ein irrtümlich zu hoch festgesetztes Krankengeld mit Wirkung für die Zukunft zu berichtigen.

2. Eine Rückforderung von zu Unrecht gewährten Geldleistungen ist nur unter Beachtung des Grundsatzes von Treu und Glauben zulässig; danach scheidet eine Rückforderung von Krankengeld regelmäßig dann aus, wenn die unrechtmäßige Zahlung auf einem Verschulden der Krankenversicherung beruht und der Versicherte die Überzahlung beim Leistungsempfang nicht erkennen konnte.

 

Normenkette

RVO § 223 Abs. 2 Nr. 4 Fassung: 1911-07-19; BGB § 242 Fassung: 1896-08-18

 

Tenor

Die Sprungrevision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 7. November 1967 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der bei der früheren Ruhrknappschaft - Rechtsvorgängerin der Beklagten - gegen Krankheit pflichtversicherte Kläger bezog vom 7. April 1965 ab Krankengeld. Infolge eines Ablesefehlers wurden ihm für die Zeit vom 1. Mai bis zum 3. September 1965 insgesamt 344,05 DM zuviel ausgezahlt. Diesen Betrag hielt die Knappschaft an den laufenden Krankengeldzahlungen für die Zeit vom 4. September bis 5. November 1965 ein. Auf seine hiergegen erhobenen Einwendungen erteilte sie ihm einen mit Rechtsmittelbelehrung versehenen Bescheid, mit dem sie eine Auszahlung der einbehaltenen Beträge unter Hinweis auf die vorherige Überzahlung ablehnte. Der Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen.

Das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen hat - dem Antrag des Klägers entsprechend - die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Knappschaft zur Zahlung von 344,05 DM verurteilt. Aus dem Fehlen einer besonderen Regelung über zu Unrecht gezahltes Krankengeld könne nicht der Schluß gezogen werden, daß ein Rückforderungsrecht auf jeden Fall bestehe. Vielmehr sei hier auf die einschränkende rentenrechtliche Regelung des § 1301 der Reichsversicherungsordnung (RVO) entsprechend anzuwenden. Auch im Recht der Krankenversicherung dürfe der Versicherte auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns des Versicherungsträgers vertrauen und werde geschützt, wenn er sich dementsprechend einrichte. Im vorliegenden Fall sei die Überzahlung allein durch das fehlerhafte Verhalten der Knappschaft eingetreten. Auch habe der Kläger die Überzahlung nicht erkennen können. Bei dieser Sachlage müsse aus dem Grundsatz des § 1301 RVO ein Rückforderungsanspruch verneint werden. Da nur mit einer vollwirksamen Forderung aufgerechnet werden könne, habe der Kläger Anspruch auf das ungekürzte Krankengeld für die Zeit vom 4. September bis 5. November 1965. Die Knappschaft sei daher verpflichtet, den daran einbehaltenen Betrag von 344,05 DM dem Kläger auszuzahlen. Das SG hat die Berufung zugelassen.

Mit der im Einverständnis des Klägers eingelegten Sprungrevision wendet sich die Beklagte gegen die entsprechende Anwendung der sich aus § 1301 RVO ergebenden Grundsätze in der Krankenversicherung. Nach § 223 Abs. 2 Nr. 4 RVO dürften die Ansprüche des Berechtigten auf zu Unrecht gezahlte Kassenleistungen aufgerechnet werden. Dazu gehörten auch Beträge, die infolge eines geschäftlichen Versehens eines Kassenorgans oder Kassenangestellten ohne rechtlichen Grund gezahlt wurden. Die allgemeinen Voraussetzungen der Aufrechnung - Gleichartigkeit, Gegenseitigkeit und Fälligkeit der Forderung - seien im vorliegenden Fall erfüllt, die Aufrechnung daher rechtmäßig. Ein Rückgriff auf entsprechende Vorschriften der Rentenversicherung sei hier nicht angebracht, zumal hinsichtlich der Umstände der Leistungsgewährung zwischen der Rentenversicherung und der Krankenversicherung ein erheblicher Unterschied bestehe, der eine entsprechende Anwendung der Vorschriften über die Rückforderung überzahlter Leistungen verbiete. Während nämlich die Leistungen der Rentenversicherungsträger nach eingehender Prüfung der Anspruchsberechtigung durch förmlichen Bescheid gewährt würden, erfolge die Leistungsgewährung der Krankenversicherung im Kassenraum ohne Förmlichkeit "über den Tisch hinweg". Die Leistung werde hier, wie auch der Versicherte aus den Umständen erkennen müsse, unter dem Vorbehalt späterer, genauer Überprüfung gewährt; sie sei daher auch kein Verwaltungsakt. Rückforderung und Aufrechnung stellten im vorliegenden Fall auch keinen Verstoß gegen Treu und Glauben dar. Die Berichtigung der Leistungshöhe sei unverzüglich nach Aufdeckung des Ablesefehlers erfolgt. Insgesamt habe der Kläger alles erhalten, was ihm an Krankengeld für die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit vom 6. April bis zum 4. November 1965 zustehe; eine weitergehende Forderung stehe ihm daher nicht zu.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig. Zwar habe die Knappschaft, nachdem sie zunächst ihrer Verpflichtung in richtiger Höhe nachgekommen sei, unstreitig wegen der Ablesefehler an sieben Zahltagen den Betrag von insgesamt 344,05 DM zuviel gezahlt. Der Rückforderungsanspruch und damit die Aufrechnung seien aber nach Treu und Glauben ausgeschlossen. Das Krankengeld diene der Existenzsicherung und werde sofort verbraucht. Deshalb verstoße eine spätere Rückforderung bei eindeutigem Verschulden des Versicherungsträgers gegen Treu und Glauben.

II

Die Sprungrevision ist nach § 161 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, weil das SG die an sich nach § 144 Nr. 2 SGG nicht zulässige Berufung gemäß § 150 Nr. 1 SGG zugelassen und der Kläger eingewilligt hat.

Die Revision ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Knappschaft zu Recht zur Zahlung des an den Krankengeldzahlungen für die Zeit vom 4. September bis zum 5. November 1965 einbehaltenen Betrages von 344,05 DM verurteilt, weil diese Einbehaltung rechtswidrig war.

Die Beklagte geht zu Unrecht davon aus, die Einbehaltung des überzahlten Betrages rechtfertige sich bereits aus § 223 Abs. 2 RVO, der die Aufrechnung von Ansprüchen des Berechtigten "auf zu Unrecht gezahlte Kassenleistungen" zuläßt. Da eine Aufrechnung stets eine Forderung voraussetzt, müßte es dort richtiger heißen: "auf Rückforderungsansprüche aus zu Unrecht gezahlten Kassenleistungen". Die genannte Vorschrift begründet keinen solchen Anspruch der Kasse, sondern bietet nur - dem Umfang nach durch Abs. 3 beschränkt - einen Weg zu ihrer Realisierung. Richtig ist allerdings, daß die Knappschaft ihre Fehlberechnung nach Entdeckung des Fehlers berichtigen durfte, und zwar sowohl deshalb, weil die "schlichte" Gewährung des Krankengeldes "am Schalter" keinen der Bindungswirkung nach § 77 SGG fähigen Verwaltungsakt darstellt (vgl. BSG 25, 280), als auch deshalb, weil es sich um die im Rahmen des § 138 SGG zulässige Berichtigung eines Ablesefehlers handelt (vgl. BSG 15, 96). Die sich hiernach ergebende Überzahlung ist also sachlich wie förmlich eine zu Unrecht gezahlte Leistung. Eine solche Leistung kann aber nur zurückgefordert werden, soweit dem keine gesetzlichen Vorschriften oder allgemeinen Rechtsgrundsätze entgegenstehen. Eine besondere Vorschrift über die Rückforderung überzahlter Leistungen gibt es für das Gebiet der gesetzlichen Krankenversicherung nicht. Doch gilt auch hier der Grundsatz von Treu und Glauben, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes. Im Recht der Rentenversicherung ist dieser Grundsatz in der seit dem 1. Juli 1965 geltenden Fassung des § 1301 RVO (§ 93 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes - RKG -) konkretisiert worden; wie der Senat bereits in einer früheren Entscheidung (BSG 23, 259, 262) ausgesprochen hat, handelt es sich dabei um die authentische Interpretation dessen, was im wesentlichen auch vorher schon durch entsprechende Anwendung des § 242 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) Rechtens war. Auf dem G biet der Krankenversicherung hatte bereits das Reichsversicherungsamt unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben entschieden, daß ein Versicherter, der ohne sein Verschulden zu Unrecht Barleistungen (Krankengeld) erhalten hat, zur Rückgewähr nicht verpflichtet ist soweit er die Bereicherung gutgläubig verbraucht hat (GE 5555, AN 1944, 105). Eine entsprechende Auffassung hat auch das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 5. März 1968 - 1 AZR 229/67 - vertreten.

Die Einwendungen der Beklagten gegenüber einer Einschränkung des Rechts auf Rückforderung überzahlter Leistungen greifen demgegenüber nach Ansicht des Senats nicht durch. Der besonderen Situation des Krankenversicherungsträgers bei der Leistungsgewährung - sofortige Leistung "über den Tisch hinweg" ohne die Möglichkeit sorgfältiger Prüfung - wird bereits dadurch Rechnung getragen, daß er an diese "schlicht" gewährten Leistungen nicht gebunden ist (vgl. BSG 25, 280). Der Empfänger von Leistungen der Krankenversicherung kann sich nicht wie der Rentenempfänger darauf verlassen, daß ihm die Leistungen bis zu einer Änderung der Verhältnisse weitergewährt wird; ein so weitgehender Vertrauensschutz wäre nach Umständen und Form der Leistungsgewährung nicht gerechtfertigt. Dagegen kann ihm der Schutz des Vertrauens darauf, redlich empfangene Kassenleistungen ohne Besorgnis einer Rückzahlungsverpflichtung verbrauchen zu dürfen, grundsätzlich nicht versagt werden. Insoweit ist es auch bei Abwägung der beiderseitigen Interessenlage dem Versicherungsträger zuzumuten, die Folgen von in seinem Verantwortungsbereich aufgetretenen Fehlern zu tragen.

Nach § 1301 RVO (§ 93 Abs. 2 RKG) darf der Versicherungsträger der Rentenversicherung eine Leistung nur zurückfordern, wenn ihn für die Überzahlung kein Verschulden trifft, und nur insoweit der Leistungsempfänger bei Empfang wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand, und soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Lage des Empfängers vertretbar ist. Ob eine so weitgehende Einschränkung des Rückforderungsrechts auch bei überzahlten Leistungen aus der Krankenversicherung geboten ist, kann allerdings zweifelhaft erscheinen. Die Frage, ob § 1301 RVO hier vollinhaltlich entsprechend anzuwenden ist, braucht aber im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden. Die Überzahlung beruht hier ausschließlich auf einem Verschulden im Bereich des Versicherungsträgers und der Kläger konnte, wie das SG festgestellt hat, die Überzahlung beim Leistungsempfang auch nicht erkennen. Auch handelte es sich nicht um eine so erhebliche Überzahlung, daß sie eine fortdauernde Bereicherung des Klägers bewirkt haben könnte. Schließlich hat sich auch die Überzahlung auf sieben Zahltermine in vier Monaten erstreckt, bevor die Knappschaft den Fehler entdeckte und richtigstellte. Bei dieser Sachlage muß jedenfalls das Vertrauen des Klägers auf die Rechtmäßigkeit der empfangenen Leistung als schutzwürdig und die Rückforderung als Treu und Glauben nicht entsprechend angesehen werden. War aber die Rückforderung unzulässig, so war auch die Einbehaltung des überzahlten Betrages an den Leistungen für die Folgezeit rechtswidrig. Der Kläger hat daher Anspruch auf diese ihm zu Unrecht vorenthaltenen Leistungsteile. Daß er damit - was die Beklagte beanstandet - für die Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit insgesamt mehr erhält, als ihm bei richtiger Berechnung zugestanden hätte, hat seine rechtlich wesentliche Ursache nicht in seinem Anspruch auf volle Auszahlung des späteren Krankengeldes, sondern in der von der Knappschaft verschuldeten und von ihr zu vertretenen Überzahlung für die voraufgegangene Zeit.

Die Revision war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669435

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