Leitsatz (redaktionell)
Bei der Anwendung der RVO § 619 Fassung: 1924-12-15, RVO § 627 Fassung: 1963-04-30 genügt es, daß eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht.
Normenkette
RVO § 619 Fassung: 1924-12-15, § 627 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Oktober 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist unter den Beteiligten, ob die beklagte Berufsgenossenschaft davon überzeugt zu sein hat, daß sie es im Jahre 1960 zu Unrecht abgelehnt hat, eine Tbc-Erkrankung des Klägers als Folge eines Arbeitsunfalles zu entschädigen.
Der Kläger, seinerzeit Meßgehilfe auf einer Schachtanlage, fiel im November 1949 bei Vermessungsarbeiten an einem Kanal ins Wasser. Er zog sich zunächst eine starke Erkältung zu. Nachdem beim Kläger im April 1950 blutiger Auswurf aufgetreten war, wurde im Mai 1950 eine ausgedehnte Lungentuberkulose festgestellt, die in der Folge zu wiederholten längeren stationären Behandlungen, zu einer Lungenoperation und insgesamt zu dem schweren Krankheitsbefund entsprechenden bleibenden Gesundheitsstörungen führte.
Einen ersten Antrag des Klägers auf Anerkennung dieser Gesundheitsstörungen als Folge des Arbeitsunfalles vom November 1949 hatte die Beklagte bereits mit einem Bescheid vom 26. September 1960 abgelehnt. Sie hatte sich dabei auf ein Gutachten der Dres. D und P von der Medizinischen Klinik der berufsgenossenschaftlichen Krankenanstalten B in B vom 5. Mai 1960 gestützt. Darin heißt es, die Unterkühlung durch den Arbeitsunfall vom November 1949 könne die Infektionskrankheit Lungen-Tbc nicht verursacht, sondern allenfalls eine frühere, durch Primärinfektion hervorgerufene Tbc reaktiviert haben. Die vorhandenen Röntgenaufnahmen ließen aber eine solche Primärinfektion nicht nachweisen; daher sei eine Aktivierung eines solchen alten Prozesses "nicht mit genügender Sicherheit wahrscheinlich".
Am 13. Mai 1971 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Bezug auf eine Äußerung des Chefarztes des St.-J Hospitals D Prof. Dr. Dr. H eine Überprüfung der ablehnenden Entscheidung vom Jahre 1960.
Mit dem streitigen Bescheid vom 25. August 1971, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 19. November 1971, lehnte die Beklagte eine Neufeststellung des vom Kläger erhobenen Entschädigungsanspruches ab. In der Begründung heißt es, die Darlegungen des Prof. H vom 7. Juni 1971 reichten nicht aus anzunehmen, daß die frühere Rentenablehnung unberechtigt gewesen sei.
Auf die Klage des Klägers hat das Sozialgericht (SG) Dortmund diesen Bescheid der Beklagten aufgehoben. In der Begründung hat sich das Gericht auf ein Gutachten des Prof. H vom 16. Juni 1972 sowie auf eine von der Beklagten überreichte Stellungnahme des Chefarztes des Krankenhauses B für die Grafschaft M Prof. Dr. W vom 15. Februar 1973 gestützt, in welchen die Beweisführung der Gutachter der Beklagten D. D und P angegriffen und ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Arbeitsunfall und Lungen-Tbc als wahrscheinlich bezeichnet wird. Die Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) mit der angefochtenen Entscheidung vom 14. Oktober 1975 mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte die Entschädigung aus Anlaß des Arbeitsunfalles vom 14. November 1949 zugunsten des Klägers neu festzustellen habe. Dieser Entscheidung hat das Gericht zusätzlich ein von ihm eingeholtes Gutachten des Prof. W vom 3. Juli 1975 zugrunde gelegt. In ihm wird das Gutachten der D. D und P erneut als fehlerhaft bezeichnet und eine kausale Verknüpfung zwischen angeschuldigtem Unfall und Tbc für sehr wahrscheinlich erachtet.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beklagten. Zur Begründung führt sie aus, nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) müsse der Versicherungsträger im Sinne des § 627 der Reichsversicherungsordnung (RVO) von der Unrichtigkeit eines Ablehnungsbescheides nur dann überzeugt sein, wenn es offensichtlich, d. h. für jeden ohne weiteres erkennbar, sei, daß eine andere tatsächliche oder rechtliche Würdigung als unvertretbar ohne weiteres ausscheide. Es müsse jede auch fernliegende Möglichkeit ausscheiden, daß ein tatsächlicher Vorgang sich anders ereignet habe oder eine als vorliegend angenommene Tatsache in Wirklichkeit nicht vorliege. Im vorliegenden Fall habe das Berufungsgericht in Übereinstimmung mit dem Gutachter Prof. W festgestellt, daß nicht jede auch fernliegende Möglichkeit ausgeschlossen werden könne, daß die beim Kläger im Mai 1950 festgestellte Lungen-Tbc sich nicht auch unabhängig von dem Unfallereignis im Jahre 1949 entwickelt haben könne. Das Berufungsgericht hätte deshalb gemäß der Rechtsprechung des BSG zur Bestätigung der Ablehnung einer Neufeststellung kommen müssen. Folge man dagegen der Auffassung des Berufungsgerichts, wonach schon das Fehlen ernsthafter Zweifel an einem anderen Kausalverlauf eine Neufeststellung rechtfertigen würde, wäre nicht zu verhindern, daß streitige Kausalfragen bei voraufgegangener negativer Entscheidung des Versicherungsträgers vom Versicherten oder anderen Berechtigten immer wieder zur Überprüfung gestellt werden könnten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Oktober 1975 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 15. Januar 1975 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte mit ihrer Revision kostenpflichtig abzuweisen.
Er weist darauf hin, daß für die Überzeugung des Gerichts zum Kausalzusammenhang die hinreichende Wahrscheinlichkeit genüge. Dies müsse auch bei der Prüfung der Vertretbarkeit der Überzeugung des Versicherungsträgers berücksichtigt werden. Im vorliegenden Fall sei ohne ernsthaften Zweifel die Wahrscheinlichkeit einer ursächlichen Verknüpfung zwischen Arbeitsunfall und Tbc gegeben. Das folge aus den Gutachten der Prof. Dr. H und Dr. W.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet.
Nach § 627 RVO idF des ab 1. Juli 1963 geltenden Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 hat der Träger der Unfallversicherung eine Leistung neu festzustellen, wenn er sich bei erneuter Prüfung davon überzeugt, daß er diese Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. Zutreffend hat das LSG herausgestellt, daß nach dem bis zum Inkrafttreten des UVNG geltenden § 619 RVO aF trotz des unterschiedlichen Wortlauts inhaltlich keine von § 627 RVO nF abweichende Rechtslage gegolten hat (vgl. dazu BSGE 19, 38 = SozR Nr. 1 zu § 619 RVO aF).
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG muß im Streitfall das Gericht der Sozialgerichtsbarkeit in der Lage sein nachzuprüfen, ob der Versicherungsträger als überzeugt im Sinne der §§ 619 RVO aF, 627 RVO nF zu gelten hat. Das Gericht darf und muß den Versicherungsträger in diesem Sinne für überzeugt ansehen, wenn die Unrechtmäßigkeit der vom Versicherten beanstandeten Rentenablehnung so offensichtlich ist, daß der Versicherungsträger dies bei der erneuten Prüfung hätte erkennen müssen (BSGE 19, 38, 44 = SozR Nr. 1 zu § 619 RVO aF; SozR Nr. 4 zu § 627 RVO nF). In diesem Falle ist das Gericht berechtigt und verpflichtet, den Versicherungsträger zum Erlaß eines die Leistung neu feststellenden Bescheides zu verurteilen (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alternative 3 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Im vorliegenden Fall hat das LSG die Beklagte zu Recht entsprechend verurteilt. Das ergeben die folgenden Überlegungen:
Für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall (§ 548 RVO) und der körperlichen Schädigung (§ 581 RVO) - haftungsausfüllende Kausalität - muß nach gesicherter Rechtsprechung und einhelligem Schrifttum hinreichende Wahrscheinlichkeit bestehen. Dies bedeutet, daß im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung die bloße Möglichkeit des Kausalzusammenhangs nicht genügt, andererseits aber auch die gesteigerte Wahrscheinlichkeit, insbesondere die an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit, nicht gefordert werden darf (vgl. dazu die Nachweise bei Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. II, S. 480 o I). Da die §§ 619 RVO aF, 627 RVO nF offenkundig darauf abzielen, das materielle Recht auch gegen die Rechtsverbindlichkeit des nicht oder erfolglos angefochtenen Leistungsbescheides (§ 77 SGG) durchzusetzen, kann die Anwendung der genannten Bestimmungen nicht dazu führen, daß für die Bejahung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Arbeitsunfall und Körperschaden eine gesteigerte Wahrscheinlichkeit verlangt wird, wie sie das materielle Recht - zu dem das Verwaltungsverfahrensrecht gehört - gar nicht fordert. Der Versicherungsträger muß demnach bereits dann im Sinne der genannten Vorschriften von der Kausalität zwischen Arbeitsunfall und körperlicher Beeinträchtigung als überzeugt gelten, wenn die Umstände des konkreten Falles hinreichend für die Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhangs sprechen.
Es ist nach alledem rechtlich nicht haltbar, wenn die Beklagte meint, im vorliegenden Falle reiche wegen der Anwendbarkeit der §§ 619 RVO aF, 627 RVO nF "die sonst übliche Wahrscheinlichkeit nicht aus; vielmehr (müsse) ein so hoher Grad von Wahrscheinlichkeit vorliegen, daß er nach der Lebenserfahrung praktisch der Gewißheit gleichkommt" (Schriftsatz der Beklagten an das Sozialgericht Dortmund vom 1. August 1973). Von der allein zu fordernden Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhangs ist die Beklagte nach diesem ihrem eigenen Vorbringen dagegen überzeugt. Schon deshalb ist das Urteil des LSG, das feststellt, daß die Beklagte von der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs als überzeugt zu gelten hat, nicht zu beanstanden.
Abgesehen hiervon hat die Beklagte aber auch nicht behauptet, daß sich das LSG seine auf Grund der vorliegenden ärztlichen Gutachten gewonnene Überzeugung, die Beklagte hätte die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Arbeitsunfall und Körperschäden des Klägers als gegeben ansehen müssen, verfahrensfehlerhaft unter Überschreitung des Rechts auf freie Würdigung der Beweise (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) gebildet habe. Mangels einer Verfahrensrüge der Beklagten ist der Senat daher an die in diesem Zusammenhang getroffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG gebunden (§ 163 SGG). Das gilt insbesondere auch für die entscheidende Feststellung des LSG, die durch den Arbeitsunfall bewirkte Unterkühlung sei auf eine bereits durch Primärinfektion hervorgerufene inaktive Lungen-Tbc des Klägers getroffen. Das LSG hat hierzu unter Berufung auf die ärztlichen Sachverständigen festgestellt, daß es sich ohne Zweifel so verhalte. Mangels eines Angriffs der Beklagten läßt sich auch diese Feststellung nicht beanstanden.
Da nach den ebenfalls nicht bekämpften Feststellungen des LSG die tbc-bedingten bleibenden Gesundheitsstörungen des Klägers zweifelsfrei ein rentenberechtigendes Ausmaß erreichen (§ 581 RVO), ist auch nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht die Beklagte zur Erteilung eines Leistungsbescheides dem Grund nach verurteilt hat.
Das angefochtene Urteil trifft nach allem zu. Die Revision der Beklagten hiergegen war als unbegründet zurückzuweisen und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger auch die Kosten der Rechtsverfolgung in der Revisionsinstanz zu erstatten (§ 193 SGG).
Fundstellen