Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtliches Gehör. unterbliebener Aufruf der Sache
Leitsatz (redaktionell)
Findet in einem Verfahren vor dem SG eine mündliche Verhandlung statt, so begründet der Anspruch auf rechtliches Gehör nach § 62 SGG das Recht des Beteiligten zur Äußerung in dieser Verhandlung.
Orientierungssatz
1. Das rechtliche Gehör eines Beteiligten ist verletzt, wenn die Sache nicht oder nicht ordnungsgemäß aufgerufen worden ist und er deshalb an der mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen hat.
2. Die Anforderungen an die Art und Weise des Aufrufens einer Sache hängen von dem Umständen ab. Besteht eine Gewohnheit, außerhalb des Sitzungsraumes auf den Aufruf zu warten, so bedarf es des deutlich hörbaren und verständlichen Aufrufs auch außerhalb des Raumes; dasselbe gilt für den Fall, daß das Gericht durch Bereitstellen von Warteräumen oder Sitzgelegenheiten dazu einlädt, dort den Aufruf der Sache abzuwarten (vgl BVerfG 1976-10-05 2 BvR 558/75 = BVerfGE 42, 364, 370).
Normenkette
SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 112 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
SG Stuttgart (Entscheidung vom 06.07.1979; Aktenzeichen S 3 U 449/78) |
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 06.06.1979; Aktenzeichen L 7 U 1550/79) |
Tatbestand
Der im Jahre 1933 geborene Kläger (von Beruf Gipser) zog sich bei einem Arbeitsunfall am 6. Dezember 1974 einen offenen kompletten Unterschenkelbruch links zu. Die Beklagte gewährte ihm eine Verletztenrente, zuletzt als Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH. Durch Bescheid vom 27. Januar 1978 entzog sie die Rente, da die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch Unfallfolgen nicht mehr in rentenberechtigendem Grade gemindert sei.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) auf Antrag des Klägers gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten (vom 2. August 1978) mit ergänzender Stellungnahme (vom 8. Juni 1979) von Dres R/V eingeholt, die die Auffassung vertraten, die MdE betrage weiterhin 30 vH. Die Beklagte legte ein Gutachten von Dr N vom 20. Februar 1979 vor, in dem dieser seine vor Erteilung des Entziehungsbescheides geäußerte Auffassung, die MdE betrage sei Januar 1978 nur noch 15 vH, nach nochmaliger Untersuchung des Klägers bekräftigte. Das SG hat die auf Weitergewährung der Rente gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 6. Juli 1979). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 6. Dezember 1979). Es hat ausgeführt, aus dem Vergleich der von Dr N vor Erteilung des Dauerrentenbescheides und danach - im August 1977 und Januar 1978 - erhobenen Befunde ergebe sich, daß eine MdE in rentenberechtigendem Maße nicht mehr bestehe. Seit Januar 1978 liege als Unfallfolge nur noch eine geringfügige Bewegungseinschränkung im linken oberen Sprunggelenk vor, außerdem eine reizlose Narbenbildung am linken Unterschenkel mit leichter Umfangsvermehrung.
Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision rügt der Kläger die Verletzung des rechtlichen Gehörs. Das LSG habe über die Berufung ohne seine Anwesenheit mündlich verhandelt und das Urteil verkündet, obwohl er pünktlich zum angesetzten Termin erschienen sei und mit seinem Prozeßbevollmächtigten und zwei Begleitpersonen im Vorraum vor dem Gerichtssaal gewartet habe. Die Sache sei jedoch nicht aufgerufen worden. Er habe, wie in der Berufungsbegründung angekündigt, durch Augenscheinseinnahme des von dem Unfall betroffenen linken Unterschenkels Beweis dafür erbringen wollen, daß der vom SG auf seinen Antrag zugezogene Sachverständige Dr V zutreffend eine wesentliche Besserung verneint habe.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Stuttgart
vom 6. Juli 1979 und des Landessozialgerichts
Baden-Württemberg vom 6. Dezember 1979 sowie den
Bescheid der Beklagten vom 27. Januar 1978 aufzuheben,
hilfsweise,
die Sache an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zu verwerfen,
hilfsweise,
sie zurückzuweisen.
Sie trägt vor, entgegen der Behauptung des Klägers sei davon auszugehen, daß die Sache vor der mündlichen Verhandlung aufgerufen worden sei. Unabhängig davon habe der Kläger nicht dargelegt, inwiefern das Urteil des LSG auf dem behaupteten Mangel beruhe.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Zutreffend hat der Kläger als wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens gerügt, ihm sei infolge des unterbliebenen Aufrufs der Sache außerhalb des Sitzungssaales das rechtliche Gehör nicht gewährt worden.
Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren (§ 62 SGG). Die Anhörung kann zwar auch schriftlich geschehen (§ 62 Halbsatz 2 SGG). Findet jedoch - wie hier vor dem LSG - eine mündliche Verhandlung statt, begründet der Anspruch auf rechtliches Gehör das Recht des Beteiligten zur Äußerung in dieser Verhandlung (BVerfGE 42, 364, 370).
Um dem Beteiligten die Wahrnehmung dieses Rechts zu gewährleisten, wird vom Vorsitzenden des Spruchkörpers Ort und Zeit des Termins dem Beteiligten vorher mitgeteilt (§ 110 Abs 1 Satz 1 SGG) und zu Beginn der mündlichen Verhandlung die Sache aufgerufen (§ 112 Abs 1 Satz 2 SGG). Durch den Aufruf der Sache wird den Beteiligten bekannt gemacht, daß nunmehr in die mündliche Verhandlung eingetreten werde. Das Gericht kommt damit seiner Pflicht nach, die anwesenden Beteiligten effektiv in die Lage zu versetzen, den Termin auch tatsächlich wahrzunehmen (s BVerfG aaO S 371). Das rechtliche Gehör eines Beteiligten ist daher verletzt, wenn die Sache nicht oder nicht ordnungsgemäß aufgerufen worden ist und er deshalb an der mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen hat. Die Anforderungen an die Art und Weise des Aufrufens einer Sache hängen von den Umständen ab. Besteht eine Gewohnheit, außerhalb des Sitzungsraumes auf den Aufruf zu warten, so bedarf es des deutlich hörbaren und verständlichen Aufrufs auch außerhalb des Raumes; dasselbe gilt für den Fall, daß das Gericht durch Bereitstellen von Warteräumen oder Sitzgelegenheiten dazu einlädt, dort den Aufruf der Sache abzuwarten (s BVerfG aaO S 370). So lagen die Verhältnisse hier. Dadurch, daß die Sache außerhalb des Sitzungssaales nicht oder nicht ordnungsgemäß aufgerufen worden ist, obwohl dies nach der Sachlage erforderlich gewesen wäre, ist das rechtliche Gehör des Klägers verletzt.
In der Niederschrift über die Sitzung des LSG vom 6. Dezember 1979 ist in dem formularmäßigen Vordruck festgestellt, daß die Verhandlung um 11.00 Uhr begonnen habe und "nach Aufruf der Sache" für die Beklagte deren namentlich bezeichneter Vertreter erschienen sei. Die für die Feststellung der Anwesenheit des Klägers vorgesehene Zeile ist nicht ausgefüllt. Nach der Urteilsformel und der Unterschrift des Vorsitzenden - von der Hinzuziehung eines Urkundsbeamten für die Protokollführung wurde abgesehen - ist in der Niederschrift, ebenfalls vom Vorsitzenden unterzeichnet, ferner vermerkt, daß nachträglich der Kläger, sein Bevollmächtigter, dessen Begleiterin G und Herr R erschienen seien und übereinstimmend erklärt hätten, um 11.00 Uhr vor dem Gerichtssaal gewesen zu sein. Der Vorsitzende des 7. Senats des LSG hat auf Anfrage des erkennenden Senats im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers in seiner dienstlichen Äußerung vom 29. Dezember 1980 ausgeführt, die Sachen würden regelmäßig durch Lautsprecher auch vor dem Gerichtssaal aufgerufen; ob dies auch im vorliegenden Fall geschehen sei, könne er nicht mit Sicherheit sagen. Dem Inhalt der schriftlichen Äußerung des Oberverwaltungsrats Presti vom 24. Februar 1981 ist nicht mit der erforderlichen Klarheit zu entnehmen, daß ein für die außerhalb eines Gerichtssaals wartenden Beteiligten verständlicher Aufruf erfolgt ist. Der - nicht gestrichene - Vordruck in der Sitzungsniederschrift sagt nichts darüber aus, daß ein Aufruf innerhalb des Sitzungssaales für die draußen Wartenden verständlich war. Der Feststellung im Sitzungsprotokoll über das nachträgliche Erscheinen des Klägers und der Begleitpersonen und über deren Erklärungen ist - auch im weiteren Akteninhalt des LSG - kein weiterer Vermerk des Gerichts gefolgt, aus dem sich berechtigte Zweifel an der im Revisionsverfahren an Eidesstatt versicherten Darstellung des Klägers herleiten lassen und die Gewißheit eines ordnungsgemäßen Aufrufs außerhalb des Gerichtssaales begründen kann. Es muß nach allem davon ausgegangen werden, daß die Sache außerhalb des Gerichtssaales nicht für den Kläger verständlich aufgerufen worden ist.
Ein solcher Aufruf war aber zusätzlich zu einem Aufruf in der mündlichen Verhandlung hier schon deshalb erforderlich, weil das Gericht damit rechnen mußte, daß ein zum Termin geladener Beteiligter vor dem Gerichtssaal wartete. Dem entspricht auch die Gepflogenheit des in der Sache zuständigen Senats des LSG, die Sachen regelmäßig durch Lautsprecher auch vor dem Saal aufzurufen.
Dem Kläger ist nicht entgegenzuhalten, er habe keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen, um sich das rechtliche Gehör zu verschaffen. Nach den insoweit übereinstimmenden Angaben des Klägers und der Beklagten hatten sich die Richter des LSG bereits zur Beratung in dieser Sache zurückgezogen, als der Kläger den Sitzungssaal betrat. Der Kläger hätte zwar die Möglichkeit gehabt, das Gericht zum Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung zu veranlassen. Durch ein Mißverständnis zwischen dem Bevollmächtigten des Klägers und dem im Sitzungssaal anwesenden Vertreter der Beklagten ist jedoch auf seiten des Klägers schuldlos der Eindruck entstanden, daß über seine Sache noch nicht verhandelt worden sei.
Die Möglichkeit, daß das LSG in der mündlichen Verhandlung mit Beteiligten des Klägers - nach Sachvortrag und gegebenenfalls nach Augenscheineinnahme des verletzten Beines - zugunsten des Klägers entschieden hätte, kann nicht ausgeschlossen werden. Da das Revisionsgericht die danach erforderliche erneute Beweiswürdigung nicht vornehmen und tatsächliche Feststellungen nicht selbst treffen darf, konnte dem Hauptantrag des Klägers nicht stattgegeben werden. Die Sache ist vielmehr entsprechend dem Hilfsantrag des Klägers zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen