Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitragsentrichtung. Verfolgungsmaßnahmen. Volontärverhältnis eines Juden
Leitsatz (redaktionell)
Für die Anwendbarkeit des WGSVG § 14 Abs 2 genügt es nicht, daß für ein an sich versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis keine Beiträge zur Rentenversicherung abgeführt wurden. Die Unterlassung der Beitragsentrichtung muß vielmehr auf eine gegen bestimmte Personen, nämlich den Arbeitgeber oder den Arbeitnehmer, gerichtete Verfolgungsmaßnahme zurückzuführen sein; der allgemeine Verfolgungsdruck der damaligen Zeit gegen jüdische Mitbürger genügt nicht.
Orientierungssatz
Eine Zeit als Schlosser-Volontär in den Jahren 1935 bis 1937 kann nicht als fiktive Beitragszeit nach WGSVG § 14 Abs 2 angerechnet werden, wenn der Volontär nicht gegen Entgelt und damit nicht versicherungspflichtig beschäftigt war.
Normenkette
WGSVG § 14 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1970-12-22; RVO § 1226
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 16.05.1978; Aktenzeichen L 5 J 4/75) |
SG Berlin (Entscheidung vom 10.12.1974; Aktenzeichen S 34 J 841/74) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 19. Mai 1978 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung der Zeit vom 20. November 1935 bis 14. Dezember 1937 als fiktive Beitragszeit nach § 14 Abs 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I S 1846).
Der 1920 geborene Kläger ist Verfolgter iS des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) besuchte er in Berlin, seinem Geburtsort, zunächst die Volksschule, danach ein Gymnasium und von April 1934 bis Ende März 1935 eine jüdische Privatschule. Ausweislich des am 23. Dezember 1935 ausgestellten Arbeitsbuches und eines Originalzeugnisses war der Kläger während der streitigen Zeit im Betrieb des E M, Berlin-Neukölln (jetzt Berlin West) als "Schlosser-Volontär" beschäftigt; diese Stelle verließ er zum 14. Dezember 1937 wegen Ablaufs der polizeilichen Arbeitserlaubnis. Beiträge zur Rentenversicherung wurden nicht entrichtet. Die Beklagte hat durch Feststellungsbescheid vom 9. Februar 1967 die Anrechnung der streitigen Zeit nach den Vorschriften der Versicherungsunterlagen-Verordnung und des Fremdrentengesetzes (FRG) mit der Begründung abgelehnt, in der Zeit vom 20. November 1935 bis 14. Dezember 1937 habe kein Versicherungsverhältnis bestanden.
Den Antrag des Klägers auf Anerkennung der streitigen Zeit nach § 14 Abs 2 WGSVG lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 15. November 1973 ab mit der Begründung, auch in Verbindung mit § 3 WGSVG habe nicht glaubhaft gemacht werden können, daß die Beschäftigung als Schlosservolontär der Rentenversicherungspflicht unterlegen habe. Widerspruch (Bescheid vom 27. Februar 1974), Klage und Berufung des Klägers blieben erfolglos. In seinem Urteil vom 19. Mai 1978 führte das LSG ua aus, die Beschäftigung des Klägers als Schlosservolontär sei nicht entgeltlich gewesen und habe deswegen nicht der Versicherungspflicht unterlegen. Dem wechselhaften Vorbringen des Klägers über die Höhe des Entgelts (20,- RM wöchentlich bzw 50,- RM monatlich) sei kein entscheidender Beweiswert beizumessen. Aber auch bei Unterstellung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung scheitere eine Beitragsfiktion an der weiteren Voraussetzung des § 14 Abs 2 WGSVG, daß eine Beitragsentrichtung aus konkreten Verfolgungsgründen unterblieben sei. Das Volontariat des Klägers sei der Behörde, die das Arbeitsbuch ausgestellt habe, und der Arbeitserlaubnisbehörde bekannt gewesen; es gebe keine überzeugenden Gründe dafür, warum unter diesen Umständen eine Beitragsentrichtung zum Zweck der Nichtgefährdung des Klägers oder Arbeitgebers unterblieben sein sollte. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Urteil vom 26. Mai 1976 - 4 RJ 359/74 SozR 5070 § 14 Nr 4) beziehe sich auf jüdische Jugendliche, die in den nach 1933 von jüdischen Selbsthilfeorganisationen geschaffenen Ausbildungsbetrieben auf einen manuellen Beruf vorbereitet wurden und sei deshalb für den vorliegenden Fall nicht anwendbar.
Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Anwendung des § 14 Abs 2 WGSVG durch das LSG. Er trägt vor, er habe aus verfolgungsbedingten Gründen ein versicherungsfreies Volontärverhältnis begründen müssen, weil kein Betrieb bereit gewesen wäre, ihn wegen seiner jüdischen Abstammung als versicherungspflichtigen Lehrling zu beschäftigen und auszubilden. Demnach sei die Beitragsentrichtung aus verfolgungsbedingten Gründen unterblieben.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des LSG Berlin vom 19. Mai 1978 und des SG Berlin vom 10. Dezember 1974 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15. November 1973 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 1974 aufzuheben und festzustellen, daß für die Zeit vom 20. November 1935 bis 14. Dezember 1937 Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter nach § 14 Abs 2 WGSVG als entrichtet gelten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Die Voraussetzungen des § 14 Abs 2 WGSVG für die Anerkennung der streitigen Zeit sind nicht erfüllt. Der Kläger war nicht rentenversicherungspflichtig beschäftigt (§ 1226 RVO aF).
Es kommt nicht darauf an, daß der Kläger als Lehrling möglicherweise der Versicherungspflicht in der Arbeiterrentenversicherung unterlegen hätte, während er als Volontär nicht versicherungspflichtig war. Die Versicherungspflicht richtete sich gemäß § 1226 Reichsversicherungsordnung (RVO) aF nicht nach der Art oder der Bezeichnung eines Ausbildungsverhältnisses, sondern danach, ob ein Entgelt gewährt wurde (vgl im einzelnen BSG vom 26. Mai 1976 - 4 RJ 359/74 - SozR 5070 § 14 WGSVG Nr 4). Trotz der Bezeichnung "Volontär" hätte der Kläger der Versicherungspflicht unterlegen, wenn er ein "Arbeitsentgelt" bezogen hätte. So gesehen war die behauptete verfolgungsbedingte Bezeichnung des Ausbildungsverhältnisses nicht ursächlich für das Fehlen der Versicherungspflicht.
Die Bezeichnung "Volontär" für einen Beschäftigten wird indes nur gebraucht, wenn die Person zum Zweck ihrer Ausbildung unentgeltlich beschäftigt wird (vgl § 82 a Handelsgesetzbuch; siehe auch das Urteil des BSG vom 13.3.1979 - 1 RA 47/78 -). Davon wurde auch bei der Ausstellung von Arbeitsbüchern ausgegangen. Sie wurden außer für Arbeiter, Angestellte und Lehrlinge auch für Volontäre ausgestellt (1. Durchführungsverordnung vom 16.5.1935 zum Gesetz über die Einführung eines Arbeitsbuches vom 26.2.1935 (RGBl I S 311, 602); Sommer-Schelp, Arbeitseinsatz und Arbeitsrecht, 1939, Teil A II S 50: Volontäre werden, ohne in einem Lehrverhältnis zu stehen, zum Zweck ihrer Ausbildung ohne Entgelt beschäftigt). In diesem Zusammenhang ist auch die Bezeichnung des Klägers als "Schlosservolontär" im Arbeitsbuch zu verstehen. Dem entspricht, daß der Kläger nach den vom LSG getroffenen Feststellungen kein die Versicherungspflicht begründendes Entgelt bezogen hat.
Selbst wenn es dem Kläger aber seinerzeit gelungen wäre, ein handwerkliches Lehrverhältnis zu begründen, so wäre er damit nicht ohne weiteres versicherungspflichtig geworden. Die Entgeltlichkeit eines Beschäftigungsverhältnisses als Voraussetzung der Versicherungspflicht (§ 1226 RVO aF) wurde nach damaliger Rechtsauffassung verneint, wenn die Bezüge etwa unter dem jeweiligen Ortslohndrittel lagen. Dies war seinerzeit bei Lehrlingen, insbesondere in den ersten beiden Lehrjahren, häufig der Fall (vgl RVA EuM Bd 13 S 229). Es wäre daher zumindest äußerst fraglich gewesen, ob der Kläger während der streitigen Zeit als Lehrling nach den damaligen Gepflogenheiten eine Vergütung erhalten hätte, die Entgeltcharakter im Sinne der Sozialversicherung besaß.
Abgesehen davon, daß hier schon kein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vorlag, genügt es für die Anwendbarkeit des § 14 Abs 2 WGSVG nicht, daß für ein an sich versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis keine Beiträge zur Rentenversicherung abgeführt wurden. Die Unterlassung der Beitragsentrichtung muß vielmehr auf eine gegen ganz bestimmte Personen, nämlich den Arbeitgeber oder den Arbeitnehmer, gerichtete Verfolgungsmaßnahme zurückzuführen sein; der allgemeine Verfolgungsdruck der damaligen Zeit gegen jüdische Mitbürger genügt hierfür nicht (so BSG vom 27. März 1974 - 1 RA 197/73 - SozR 5070 § 14 WGSVG Nr 1). Nach den Feststellungen des LSG und seinem eigenen Vorbringen war der Kläger während der streitigen Zeit bei der Begründung des Volontärverhältnisses nicht gezielten Verfolgungsmaßnahmen, sondern nur dem allgemeinen Verfolgungsdruck als Jude ausgesetzt. Eine Unterlassung der Beitragsentrichtung wäre nicht auf eine konkrete Verfolgungsmaßnahme zurückzuführen, selbst wenn aufgrund eines dem Kläger arbeitsrechtlich geschuldeten und gezahlten Entgelts Versicherungspflicht bestanden hätte. Da die Existenz dieses Beschäftigungsverhältnisses behördlich bekannt war, wäre die Abführung von Beiträgen nicht mit einer besonderen Gefährdung verbunden gewesen (vgl BSG vom 27. März 1974 aaO).
Die vom Kläger angeführte Rechtsprechung des erkennenden Senats im Urteil vom 26. Mai 1976 - 4 RJ 359/74 - SozR 5070 § 14 WGSVG Nr 4 - kann hier zu keinem anderen Ergebnis führen. Diese Rechtsprechung bezieht sich auf die nach 1933 von jüdischen Selbsthilfeorganisationen geschaffenen Ausbildungsstätten. Dabei übte nach den vom LSG getroffenen Feststellungen die Geheime Staatspolizei (Gestapo) die Kontrolle über diese Betriebe in der Weise aus, daß andere an sich zuständige Stellen, wie die Arbeits- und Versicherungsämter, faktisch ausgeschaltet waren; hierdurch wurde entsprechend den Intentionen der Gestapo auch die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen verhindert, falls Versicherungspflicht bestanden haben sollte (vgl LSG NRW vom 1. Juli 1977 - L 3 J 28/74 - mit Anmerkung von Schmidinger in Sozialversicherung 1978, 270, 272). Unter diesen Bedingungen hat das Volontariat des Klägers während der streitigen Zeit gerade nicht stattgefunden. Vielmehr war der Kläger bei einem handwerklichen Gewerbebetrieb beschäftigt. Dieser Betrieb unterlag wie andere Betriebe der Kontrolle durch die zuständigen Sozialversicherungsträger und diese hätten die Anmeldung des Klägers und die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen veranlassen können, da das Beschäftigungsverhältnis des Klägers schon aufgrund der Ausstellung des Arbeitsbuches behördlich bekannt war.
Nach alledem sind die Voraussetzungen des § 14 Abs 2 WGSVG bei dem Ausbildungsverhältnis des Klägers als Volontär nicht erfüllt.
Andere Rechtsgrundlagen für eine Anrechnung der streitigen Zeit bestehen nicht. Insoweit liegt ein bindender Bescheid der Beklagten (9.2.1967) vor. Unberührt bleibt ein Anspruch des Klägers auf Entschädigung eines beruflichen Schadens nach dem BEG, zumal der Kläger vor Aufnahme seines Volontariates keine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt und deshalb keinen verfolgungsbedingten Schaden gerade in der Sozialversicherung erlitten hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen