Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosenhilfe. Bedürftigkeit. Einkommensanrechnung. eheähnliche Gemeinschaft

 

Orientierungssatz

§ 138 Abs 1 Nr 2 AFG ist in verfassungskonformer Auslegung dahin zu ergänzen, daß ihr Regelungsgehalt sich auch schon vor dem Inkrafttreten des § 137 Abs 2a AFG (1.1.1986) auf Partner eheähnlicher Gemeinschaften erstreckt (vgl BSG vom 14.7.1988 11/7 RAr 53/87 = SozR 4100 § 138 Nr 20).

 

Normenkette

AFG § 138 Abs 1 Nr 2, § 137 Abs 2a Fassung: 1985-12-20, § 139 S 1, § 139 S 2

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 10.11.1987; Aktenzeichen L 7 Ar 307/86)

SG Braunschweig (Entscheidung vom 20.08.1986; Aktenzeichen S 7 Ar 152/85)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob bei der Bedürftigkeitsprüfung nach § 138 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) das Einkommen des mit dem Arbeitslosen in eheähnlicher Gemeinschaft lebenden Partners auf die Arbeitslosenhilfe (Alhi) anzurechnen ist.

Die 1959 geborene Klägerin war zuletzt als Lernschwester und Kinderkrankenschwester beschäftigt. Im Anschluß an das bis zum 10. März 1985 gezahlte Arbeitslosengeld (Alg) beantragte sie die Gewährung von Alhi und gab dabei an, sie lebe mit B. - mit dem sie zwischenzeitlich verheiratet ist - in einer eheähnlichen Gemeinschaft. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 5. Juni 1985 den Antrag mit der Begründung ab, die Klägerin müsse sich das Einkommen des mit ihr in eheähnlicher Gemeinschaft zusammenlebenden Partners anrechnen lassen. Der wöchentliche Anrechnungsbetrag übersteige den der Klägerin ohne Anrechnung zustehenden Alhi-Wochensatz, so daß ihre Bedürftigkeit fehle. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27. Juni 1985).

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 11. Mai bis 27. Dezember 1985 Alhi "ohne Anrechnung des Einkommens des Partners B. zu gewähren". Die Beklagte hat Berufung eingelegt und unter Berücksichtigung der erhöhten Freibeträge mit Änderungsbescheid vom 16. Oktober 1986 der Klägerin Alhi ab 11. Mai 1985 in Höhe von 33,24 DM wöchentlich bewilligt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß der Bescheid der Beklagten vom 16. Oktober 1986 aufgehoben wurde, und die Revision zugelassen.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 138 Abs 1 Nr 2 AFG. Das AFG enthalte im Regelungskomplex der Bedürftigkeitsprüfung (§§ 137, 138 Abs 1) für die Zeit vor dem 1. Januar 1986 eine unbeabsichtigte Lücke, die durch analoge Anwendung des § 138 Abs 1 Nr 2 AFG auf eheähnliche Gemeinschaften zu schließen sei. Sie verweist auf Entscheidungen des 7. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24. März 1988. Allerdings sei der Rechtsstreit noch nicht für eine abschließende Entscheidung reif. Denn das LSG habe - entsprechend seiner Rechtsauffassung - dahingestellt sein lassen, ob die Klägerin in dem streitigen Zeitraum mit B. in eheähnlicher Gemeinschaft gelebt habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 10. November 1987 aufzuheben und den Rechtsstreit zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

als unbegründet zurückzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 10. November 1987 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Die Klägerin macht geltend, das LSG sei zu Unrecht von der Zulässigkeit der Berufung ausgegangen. Denn es liege ein Höhenstreit iS des § 147 SGG vor. Die Beklagte habe zunächst gegen das erstinstanzliche Urteil uneingeschränkt Berufung eingelegt und zu diesem Zeitpunkt den Änderungsbescheid vom 16. Oktober 1986 noch nicht erteilt. Sie dürfe aber nicht willkürlich durch den Zeitpunkt der Erteilung des Bewilligungsbescheides die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Berufung steuern. Die angefochtenen Bescheide seien aber auch rechtswidrig, weil sie in der streitigen Zeit nicht in einer eheähnlichen Gemeinschaft gelebt habe.

Die Klägerin ist auf das Urteil des erkennenden Senats vom 14. Juli 1988 - 11/7 RAr 47/87 - hingewiesen worden.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist iS der Zurückverweisung begründet. Die von den Vorinstanzen ausgesprochene Verurteilung der Beklagten zur Zahlung der Alhi ohne Anrechnung des Einkommens des B. kann nicht mit der Begründung aufrechterhalten werden, im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung bei der Alhi dürfe das Einkommen der mit dem Arbeitslosen in eheähnlicher Gemeinschaft lebenden Person nicht berücksichtigt werden. Ob das Urteil des LSG mit einer anderen Begründung Bestand haben kann, hängt von weiteren Ermittlungen und Feststellungen ab.

Das LSG hat zu Recht die Zulässigkeit der Berufung bejaht. Als sie eingelegt wurde, betraf sie schlechthin den Anspruch auf Gewährung von Alhi. Durch die spätere Beschränkung der Berufung ist sie nicht nach § 147 SGG unstatthaft geworden.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (SozR § 146 Nr 9 zu § 146 SGG; 1500 § 149 Nr 3 mwN) richtet sich die Zulässigkeit eines Rechtsmittels regelmäßig nach dem Zeitpunkt seiner Einlegung. Spätere Verminderungen der Beschwer sind nur dann von Bedeutung, wenn sie auf einer willkürlichen Beschränkung des Rechtsmittels beruhen. Diese Ausnahme ist nötig, um einer Umgehung der Voraussetzungen für die Statthaftigkeit des Rechtsmittels vorzubeugen, und gerechtfertigt, weil ein Rechtsmittelkläger, der seine Beschwer erst später freiwillig vermindert, keine günstigere Behandlung verlangen darf als der, der das Rechtsmittel schon bei der Einlegung beschränkt.

Zutreffend hat das LSG festgestellt, daß die Beklagte die Berufung nicht willkürlich eingeschränkt hat, sondern sich die Berufungsbeschränkung aus der Tatsache der Gewährung von Alhi zwangsläufig ergeben hat. Der Änderungsbescheid vom 16. Oktober 1986 war das Ergebnis einer Überprüfung der Sach- und Rechtslage, bei der die Beklagte die teilweise Begründetheit des Alhi-Anspruchs erkannt hat. Überzeugt sich aber ein Versicherungsträger aufgrund einer erneuten Überprüfung der Sach- und Rechtslage, daß er eine Leistung zu Unrecht - teilweise - versagt hat, so steht es nicht in seinem freien Belieben und damit in seiner Willkür, ob er nunmehr dem Leistungsbegehren - teilweise - entsprechen will, der Versicherungsträger ist vielmehr dazu verpflichtet (vgl BSG SozR 1500 § 144 Nr 24 mwN). Der Ausschluß einer die Zulässigkeit des Rechtsmittels beeinflussenden Willkür verlangt allerdings noch, daß die zur Beschränkung führenden Umstände erst nach der Einlegung des Rechtsmittels eingetreten oder dem Rechtsmittelkläger erkennbar geworden sind. Auch dies ist hier der Fall. Denn die Beklagte hat die in Rede stehende Überprüfung erst nach der Berufungseinlegung (1. Oktober 1986) vorgenommen und damit ihre dem Bescheid vom 16. Oktober 1986 zugrunde liegende und für die Berufungsbeschränkung ausschlaggebende Überzeugung erst nach diesem Zeitpunkt gebildet. Ob sie dieselbe Überzeugung schon früher hätte gewinnen können, ist unerheblich. Darauf käme es allenfalls an, wenn sie die Überprüfung, um den Berufungsausschließungsgrund des § 147 SGG zu umgehen, verzögert hätte. Hierfür fehlt nach den Feststellungen des LSG jedoch jeder Anhalt.

Die Rüge einer Verletzung des Verfahrensrechts ist hiernach unbegründet.

In der Sache kann das Urteil des LSG keinen Bestand haben.

Die Beklagte hat bei der Bemessung des Alhi-Anspruchs als entscheidungserhebliche Umstände angesehen, daß zum einen die Klägerin mit B. in eheähnlicher Gemeinschaft lebe und zum anderen - neben der Berücksichtigung ihres Unterhaltsanspruchs gegenüber ihrem Vater - das Einkommen ihres Partners in analoger Anwendung des § 138 AFG auf ihre Alhi anzurechnen sei. Ob die erste - eine tatsächliche - Voraussetzung vorgelegen hat, ist vom LSG nicht festgestellt worden, weil es die zweite Voraussetzung aus Rechtsgründen - jedoch zu Unrecht - verneint hat.

Nach § 138 Abs 1 Nr 2 AFG ist im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung das Einkommen des von dem Arbeitslosen nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten als Einkommen des Arbeitslosen zu berücksichtigen. Die Vorschrift ist in verfassungskonformer Auslegung dahin zu ergänzen, daß ihr Regelungsgehalt sich auch schon vor dem Inkrafttreten des § 137 Abs 2a AFG (1. Januar 1986) auf Partner eheähnlicher Gemeinschaften erstreckte. Dies hat der 7. Senat des BSG mit Urteil vom 24. März 1988 (BSG SozR 4100 § 138 Nr 17) entschieden. Dem eingehend begründeten Urteil hat sich der erkennende Senat nach eigener Prüfung mit Urteilen vom 14. Juli 1988 (- 11/7 RAr 47/87 - = VdK Mitt 1988 Nrn 12, 29; - 11/7 RAr 51/87 - = SozSich 1989, 156; - 11/7 RAr 53/87 - = SozR 4100 § 138 Nr 20) angeschlossen.

Grundlage der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichbehandlung von verheirateten und nicht verheirateten Paaren im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung ist, daß diese in gleichartiger Weise zusammenleben und wirtschaften. Diese Gleichbehandlung hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Beschluß vom 10. Juli 1984 (BVerfGE 67, 186 = SozR 4100 § 139 Nr 1) für erforderlich gehalten. Dem steht nicht entgegen, daß die Entscheidung des BVerfG die ausschließlich Ehegatten betreffende Regelung des § 139 Satz 1 und 2 AFG aF zum Gegenstand hatte. Denn das BVerfG hat sich in dieser Entscheidung gerade auch mit § 138 Abs 1 AFG auseinandergesetzt und ausgeführt "Wortlaut und Sinn des § 138 Abs 1 AFG lassen auch nicht zu, die verfassungsrechtlich gebotene Gleichstellung durch eine verfassungskonforme Auslegung dieser Norm herbeizuführen". Mit dem rückwirkenden Wegfall des § 139 Satz 1 und 2 AFG entfiel die darin enthaltene Diskriminierung der Ehe gegenüber eheähnlichen Lebensgemeinschaften, die bis dahin durch die Möglichkeiten der Einkommensanrechnung nach § 138 Abs 1 AFG nicht ausgeglichen werden konnte, und es trat die vom BVerfG geforderte Folge gleichmäßiger Berücksichtigung von Einkünften des Arbeitslosen sowohl im Falle der nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten als auch im Falle unverheiratet zusammenlebender Personen ein. Daß diese Gleichbehandlung beider Lebensgemeinschaften dem Gleichheitsgrundsatz des Art 3 Abs 1 Grundgesetz entspricht, hat der 7. Senat des BSG bereits im Urteil vom 24. März 1988 (aaO) mit überzeugender Begründung ausgeführt. Darauf nimmt der erkennende Senat Bezug.

Das LSG hat nicht festgestellt, ob die Klägerin mit B. in eheähnlicher Gemeinschaft zusammengelebt hat. Eine eheähnliche Gemeinschaft ist gegeben, wenn zwei miteinander nicht verheiratete Personen, zwischen denen die Ehe rechtlich möglich wäre, wie ein nicht getrennt lebendes Ehepaar in gemeinsamer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft leben, also einen gemeinsamen Haushalt so führen, wie es für zusammenlebende Ehegatten typisch ist. Dieser Definition im bereits genannten Urteil des 7. Senats hat sich der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 14. Juli 1988 (- 11/7 RAr 47/87 - aaO) ebenfalls angeschlossen.

Zur Feststellung, ob dies auf die Klägerin und ihren Partner in der zu beurteilenden Zeit zutraf, war die Sache an das LSG zurückzuverweisen, das in seiner neuen Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben wird.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665939

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