Entscheidungsstichwort (Thema)
Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. geändertes Sprachverhalten. Übergangszeit
Orientierungssatz
Für die Dauer der Übergangsfrist, in der die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis auch nach dem Zeitpunkt bestehen bleibt, von dem an der Gebrauch des Deutschen im persönlichen Lebensbereich nicht mehr überwiegt, können neben den subjektiven, persönlichen Gründen auch die objektiven Lebensverhältnisse erheblich sein, sofern sie durch die Verfolgung bzw Vertreibung wesentlich geprägt worden sind (Anschluß an BSG vom 19.4.1990 - 1 RA 105/88 = SozR 3 - 5070 § 20 Nr 1).
Normenkette
WGSVG § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2, § 20 Abs 1 S 1 Fassung: 1989-12-18
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 12.07.1988; Aktenzeichen L 2 An 100/87) |
SG Berlin (Entscheidung vom 08.04.1987; Aktenzeichen S 4 An 1441/85) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Herstellung einer Versicherungsunterlage für Beitrags- bzw Beschäftigungszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG).
Der 1922 in A /Bukowina (Rumänien) geborene ledige Kläger ist als rassisch Verfolgter iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt. 1964 ist er von Rumänien über Italien in die USA ausgewandert, deren Staatsangehöriger er seit 1970 ist.
Nach seinen Angaben hat er von 1929 bis 1933 jeweils in C /Rumänien die deutsche Privatvolksschule "M ", anschließend bis 1937 das Lyzeum Nr 3 und danach bis 1940 die Technische Fachschule besucht. Von Juli 1940 bis Juli 1941 sei er als Techniker bei der Trikotagenfabrik H beschäftigt gewesen. Nach der bis März 1944 dauernden Verfolgung sei er zunächst arbeitslos gewesen. Von Juli 1947 bis Juli 1964 habe er, wie von den rumänischen Behörden bestätigt worden ist, als Techniker-Ingenieur im Forstbetrieb P gearbeitet. Seine Muttersprache sei Deutsch, seine Umgangssprache bei Verfolgungsbeginn Deutsch und ein wenig Rumänisch gewesen, heute Deutsch und Englisch. Er sei von seinen aus Österreich/Ungarn stammenden Eltern im deutschen Geist erzogen worden und beherrsche Deutsch in Wort und Schrift.
Die auf Veranlassung der Beklagten durch den deutschen Honorarkonsul in Minneapolis/USA durchgeführte Sprachprüfung kam zu dem Ergebnis, es sei durchaus glaubhaft, daß Deutsch die Muttersprache des Klägers und nach wie vor Umgangssprache der Familie ist.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 13. September 1983 die Anerkennung der vom Kläger in Rumänien zurückgelegten Beitrags- und Beschäftigungszeiten ab, da dieser kein anerkannter Vertriebener sei und diesem Personenkreis auch nicht nach § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) gleichgestellt werden könne. Es sei weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht, daß ein Nötigungszusammenhang zwischen dem Verlassen Rumäniens und seinem Deutschtum bestanden habe. Den Widerspruch des Klägers wies sie zurück (Widerspruchsbescheid vom 10. April 1985). Es sei nicht wahrscheinlich, daß der Kläger, der in einem rein rumänischsprachigen Gebiet gelebt habe, im Zeitpunkt der Auswanderung im persönlichen Bereich die deutsche Sprache überwiegend verwendet habe.
Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 8. April 1987; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 12. Juli 1988). Das LSG hat im wesentlichen ausgeführt, der Kläger könne nicht nach § 20 WGSVG einem anerkannten Vertriebenen gleichgestellt werden. Hierfür sei erforderlich, daß er beim Verlassen Rumäniens noch dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) angehört habe. Es bestünden aber bereits erhebliche Zweifel, daß Deutsch seine Muttersprache sei. Es spreche viel dafür, daß er jiddischer Muttersprache gewesen sei. Selbst wenn der Kläger bis zur Verfolgung die deutsche Sprache im persönlichen Bereich verwendet habe, habe er sich später vom dSK gelöst. Seit 1947 habe er in einem rumänischsprachigen Gebiet gewohnt und deshalb nicht mehr die Möglichkeit gehabt, Deutsch im persönlichen Bereich zu sprechen. Er habe zwar mehrfach versucht, in ein deutschsprachiges Gebiet versetzt zu werden. Diesen Versetzungswünschen sei aber aufgrund der Nationalitätenpolitik des rumänischen Staates nicht entsprochen worden.
Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Er trägt zunächst vor, die angefochtene Entscheidung sei verfahrensfehlerhaft zustandegekommen. Es verstoße gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs, wenn das Gericht trotz der entgegenstehenden Aussage eines Sprachprüfers ohne entsprechenden Hinweis davon ausgehe, daß nicht Deutsch, sondern Jiddisch seine Muttersprache gewesen sei. Das LSG hätte sich insoweit auch gedrängt fühlen müssen, seine Lebensgefährtin über seinen Sprachgebrauch zu hören. Ein Verfahrensmangel liege auch darin, daß das LSG ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen seine Schriftproben ausgewertet und ohne Anhörung eines Sachverständigen statistische Angaben berücksichtigt habe. Die gebotene weitere Sachaufklärung hätte ergeben, daß er dem dSK angehört habe. Unter Verstoß gegen materielles Recht sei seine Zugehörigkeit zum dSK im Zeitpunkt der Auswanderung verneint worden. Er, der Kläger, habe sich zwar von 1947 bis 1964 in P , einem rumänischsprachigen Gebiet, aufgehalten. Dies sei aber durch die Verfolgung bedingt gewesen. Die Deportation der Bukowiner Juden habe zum Verlust der in einem bestimmten Gebiet lebenden sozialen Großgruppe geführt, die auch nach Beendigung der Deportation nicht habe wiederhergestellt werden können. Die dadurch verursachten irregulären Lebensverhältnisse hätten seine sprachliche Vereinsamung nach sich gezogen. Deshalb müsse § 19 Abs 2a WGSVG verfassungskonform dahin ausgelegt werden, daß die Anforderungen an die Zugehörigkeit zum dSK im Zeitpunkt der Anwendung geringer sein müßten. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zum Vertriebenenrecht sei es für die Voraussetzungen der §§ 20, 19 Abs 2a WGSVG ausreichend, daß die Zugehörigkeit zum dSK vor Beginn der allgemeinen Verfolgungs- und/bzw Vertreibungsmaßnahmen gelegen habe. Die Anforderungen, Deutsch noch im Zeitpunkt des Verlassens des Heimatgebietes ohne Rücksicht auf die allgemeinen - verfolgungs- oder vertreibungsbedingt geprägten - Lebensverhältnisse zumindest im persönlichen Lebensbereich gesprochen zu haben, sei mit der zulässigen Anwendung des Vertriebenenrechts unvereinbar.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. Juli 1988 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet. Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts reichen für eine abschließende Sachentscheidung nicht aus (§ 170 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG).
Nach § 11 Abs 2 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) sind auf Antrag des Versicherten (Beschäftigten) auch außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens nach Maßgabe des FRG Versicherungsunterlagen für Zeiten herzustellen, die nach dem FRG anrechenbar sind. Da der Kläger nicht zum Personenkreis des § 1 FRG gehört und der zum 1. Juli 1990 in Kraft getretene § 17a FRG (Art 15 Abschn A Nr 4 iVm Art 85 Abs 6 des Rentenreformgesetzes 1992 - RRG 1992 - vom 18. Dezember 1989 - BGBl I S 2261) im Verhältnis zu § 20 WGSVG nachrangig ist, könnten Versicherungs- bzw Beschäftigungszeiten, die vom Kläger in Rumänien zurückgelegt sein können, nach den §§ 15, 16 FRG nur dann nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen, wenn die Voraussetzungen des § 20 WGSVG erfüllt sind. Nach dessen Satz 1 (ab 1. Januar 1990 Abs 1 Satz 1 - vgl Art 21 Nr 4c iVm Art 85 Abs 5 RRG 1992) stehen bei Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen iS des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) "vertriebene Verfolgte" gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Die Anwendung des FRG auf den Kläger, dessen Verfolgteneigenschaft iS des § 1 BEG festgestellt worden ist, hängt demnach davon ab, ob er "vertrieben" worden ist, jedoch lediglich mangels Bekenntnisses zum deutschen Volkstum nicht als Vertriebener anerkannt werden kann. Nach § 1 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 BVFG ist Vertriebener auch, wer "als deutscher Volkszugehöriger" nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen Rumänien verlassen hat. Deutscher Volkszugehöriger iS des BVFG ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird (§ 6 BVFG). Dazu bestimmt § 20 Satz 2 (seit 1. Januar 1990: Abs 1 Satz 2) WGSVG, daß § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2 WGSVG entsprechend gilt. Nach dieser Vorschrift genügt es, soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, daß der Verfolgte im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört hat.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kommt dem Gebrauch der deutschen Sprache für die Zugehörigkeit zum dSK eine "im Regelfall" ausschlaggebende Bedeutung zu (vgl BSG SozR 5070 § 20 Nr 13; BSGE 50, 279 = SozR 5070 § 20 Nr 3; SozR aaO Nr 2, 4, 5, jeweils mwN). Denn wer eine Sprache im persönlichen Bereich ständig gebraucht, gehört nicht nur diesem Sprach-, sondern auch dem durch die Sprache vermittelten Kulturkreis an, weil sie ihm den Zugang zu dessen Weltbild und Denkwelt erschließt. Die Zugehörigkeit zum dSK ergibt sich daher "im Regelfall" aus dem zumindest überwiegenden Gebrauch des Deutschen im persönlichen Lebensbereich (so BSGE 50, 279, 281 = SozR aaO Nr 3 S 8), der in erster Linie die Sphäre von Ehe und Familie, aber auch den Freundeskreis umfaßt. Dies gilt sowohl für die Begründung als auch für die Fortdauer der Zugehörigkeit zum dSK. Es genügt nicht, daß Deutsch die Muttersprache gewesen ist. Auch die - als solche "unverlierbare" - Muttersprache kann nicht für alle Zeiten den Verbleib im dSK begründen. Für die Fortdauer der Zugehörigkeit zum dSK ist grundsätzlich der tatsächliche Gebrauch der deutschen Sprache im persönlichen Lebensbereich unerläßlich (BSGE 50, 281). Eine freiwillige, nicht verfolgungs- oder vertreibungsbedingte Abkehr von der überwiegenden Verwendung der deutschen Sprache im persönlichen Bereich zieht danach den Verlust der Zugehörigkeit zum dSK nach sich (vgl zu allem: Urteile des Senats vom 28. Juni 1990 - 4 RA 40/88 - und vom 16. August 1990 - 4 RA 18/89).
Eine generelle Ausnahme von dem Erfordernis der weiteren Zugehörigkeit zum dSK und damit auch von der Notwendigkeit, die deutsche Sprache im persönlichen Bereich überwiegend zu verwenden, hat die Rechtsprechung jedoch für den Fall angenommen, daß ein vertriebener Verfolgter sich vom deutschen Volkstum wegen der Verfolgungsmaßnahmen abgekehrt hatte, da insoweit ein Festhalten am bzw ein Wiederzuwenden zum deutschen Volkstum nicht verlangt werden könne. Ausreichend sei vielmehr insoweit, daß die Zugehörigkeit zum dSK bis zum Beginn der individuellen oder allgemeinen Verfolgungsmaßnahme bestanden habe (vgl Urteil vom 19. April 1990 - 1 RA 105/88 - zur Veröffentlichung vorgesehen; BSG SozR 5070 § 20 Nr 2 S 5; Nr 9, S 32; s auch Giessler, Das Bundesentschädigungsgesetz, 1. Teil, 1981, S 83 f mwN).
Ausgehend von diesen Grundsätzen der Rechtsprechung des BSG reichen die Feststellung des Berufungsgerichts weder für die Zuerkennung des geltend gemachten Anspruchs (dem Grunde nach) noch für dessen Ablehnung aus. Das LSG hat es - von seinem Rechtsstandpunkt aus zutreffend - letztlich offengelassen, ob der Kläger überhaupt dem dSK angehört hatte. Nach seiner Auffassung bestehen erhebliche Zweifel daran, daß Deutsch die Muttersprache des Klägers gewesen sei. Angesichts dessen, daß der Kläger nach seinen Angaben bis heute die deutsche Sprache im täglichen Umgang verwende, seien die bei der Sprachprüfung im Jahre 1980 zutage getretenen Fehler in Satzstellung, Grammatik und Rechtschreibung unerklärlich. Sie ließen nur den Schluß zu, daß nicht Deutsch, sondern Jiddisch die Muttersprache des Klägers gewesen sei.
Zweifel an der ursprünglichen Zugehörigkeit des Klägers zum dSK, seien sie auch noch so gravierend, tragen jedoch allein eine entsprechende Feststellung nicht. So läßt denn auch das Berufungsgericht diese Frage im Ergebnis dahinstehen und leitet zum tragenden Teil seiner Begründung über, der Kläger habe jedenfalls seine Zugehörigkeit zum dSK schon etliche Jahre vor der Auswanderung aus Rumänien verloren gehabt. Auf die vom Kläger geltend gemachten Verfahrensrügen der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) und des Verstoßes gegen das sog Verwertungsverbot des § 128 Abs 2 SGG, wonach das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten, kommt es, soweit sie sich auf die ursprüngliche Zugehörigkeit zum dSK beziehen, nach allem nicht an.
Zur Begründung des Verlustes der dSK-Zugehörigkeit führt das LSG aus, es sei nicht überwiegend wahrscheinlich, daß der Kläger nach dem Krieg in Rumänien im persönlichen Bereich die deutsche Sprache noch in nennenswertem Ausmaß verwendet habe. Er habe in P , einer rein rumänischsprachigen Gegend, gelebt. Es könne daher nicht als überwiegend wahrscheinlich angesehen werden, daß er dort einen deutschsprachigen Bekanntenkreis gehabt habe, so daß davon auszugehen sei, daß er Rumänisch sprechende Freunde und Bekannte gehabt habe. Zwar habe er sich mehrfach vergeblich um seine Versetzung in ein deutschsprachiges Gebiet bemüht. Es beruhe jedoch auf der Nationalitätenpolitik des rumänischen Staates und stelle sich somit nicht als Folge der Verfolgung dar, daß diesem Wunsch nicht entsprochen worden sei. Auch unter Berücksichtigung einer Übergangszeit habe er damit die Zugehörigkeit zum dSK bereits vor der Auswanderung verloren gehabt.
Diese Begründung trägt unter Berücksichtigung der neueren, nach der Entscheidung des LSG ergangenen Rechtsprechung des BSG die Ablehnung des Anspruchs des Klägers aus § 20 Abs 1 Satz 2 WGSVG (in der seit dem 1. Januar 1990 geltenden Fassung) iVm § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2 WGSVG nicht. Auch derjenige nämlich, der die deutsche Sprache als Muttersprache erlernt und gesprochen hat und sie nach Beendigung der Verfolgungsmaßnahmen zunächst weiterhin in seinem persönlichen Lebensbereich verwendet, verliert die Zugehörigkeit zum dSK nicht bereits unmittelbar mit dem Zeitpunkt, von dem an der Gebrauch des Deutschen im persönlichen Lebensbereich nicht mehr überwiegt; die Zugehörigkeit bleibt in diesem Fall vielmehr regelmäßig noch für eine Übergangszeit erhalten (BSGE 50, 282 = SozR aaO Nr 3 S 9; Nr 13 S 48; Urteil vom 19. April 1990 - 1 RA 105/88). Dabei hängt die Dauer der Übergangszeit von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles ab.
Im Anschluß an die aufgezeigten Grundsätze der bisherigen Rechtsprechung hat der 1. Senat des BSG nunmehr entschieden (Urteil vom 19. April 1990, aaO), daß für die Dauer der Übergangsfrist neben den subjektiven, persönlichen Gründen auch die objektiven Lebensverhältnisse erheblich sein können, sofern sie durch die Verfolgung bzw Vertreibung wesentlich geprägt worden sind. Es kann danach für den Fortbestand der Zugehörigkeit eines Verfolgten zum dSK nicht ohne Bedeutung sein, wenn der Verfolgte aufgrund solcher Lebensverhältnisse objektiv außerstande war, auch im persönlichen Lebensbereich seine deutsche Muttersprache zu gebrauchen. Eine Indizwirkung für eine "freiwillige" Abwendung vom dSK kommt dem Sprachverhalten - auch im persönlichen Bereich - um so weniger zu, je mehr die objektiven, durch die Verfolgung bzw Vertreibung geprägten Lebensverhältnisse einen Wechsel der Sprache erzwungen oder jedenfalls den Gebrauch des Deutschen nachhaltig behindert haben. Ein unter solchen Bedingungen geändertes Sprachverhalten läßt Rückschlüsse auf eine Abwendung vom dSK, die neben der Integration in einen anderen Sprach- und Kulturkreis auch die Akzeptanz einer solchen neuen Identität voraussetzt, nicht ohne weiteres und insbesondere nicht allein deshalb zu, weil auch persönliche Gründe mitgewirkt haben. Da dem Verlust der eigenen, mit der Muttersprache erworbenen Identität unter derartigen Bedingungen erhebliche innere Hemmnisse entgegenstehen, würde in solchen Fällen der Prozeß der Ablösung vom dSK im Regelfall eine längere Übergangszeit in Anspruch nehmen als in Fällen, in denen die Abwendung vom dSK bereits unter "regulären" Lebensverhältnissen in der Zeit vor der Verfolgung eingeleitet worden ist.
Der Senat schließt sich - wie schon in den Urteilen vom 28. Juni 1990 und 16. August 1990 - der Entscheidung des 1. Senats an. Auch nach seiner Auffassung kann offenbleiben, ob - wie von der Revision vertreten - in bestimmten Fällen nach geltendem Recht generell eine Ausnahme von dem Erfordernis, dem dSK auch noch im Zeitpunkt der Auswanderung angehören zu müssen, geboten ist. Gegen eine derartige Auslegung des § 20 Abs 1 WGSVG iVm § 19 Abs 2a WGSVG könnte nicht zuletzt die - neue - Regelung des § 17a FRG sprechen, die gerade diejenigen Verfolgten erfassen soll, die in der Zeit bis zur Ausreise aus ihren Heimatgebieten die Zugehörigkeit zum dSK verloren haben (vgl Bericht des BT-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks 11/5530, S 65 zu Nr 3a).
Verfolgungs- bzw vertreibungsbedingte Umstände, die sich auf Beginn und Dauer der Übergangsfrist zur Distanzierung vom dSK auswirken würden, können nach den bisher vom LSG getroffenen Feststellungen jedenfalls nicht ausgeschlossen werden. Das LSG wird in diesem Zusammenhang unter Berücksichtigung aller dafür in Betracht kommenden Umstände die bisher offengelassene Frage zu beantworten haben, ob der Kläger ursprünglich dem dSK angehört, er also vor Beginn der Verfolgung im persönlichen Lebensbereich überwiegend Deutsch gesprochen hat. Sollte das der Fall gewesen sein, wird weiter aufzuklären sein, aus welchen Gründen er im Jahre 1947 eine Tätigkeit in einem rein rumänischsprachigem Gebiet aufgenommen hat, worin möglicherweise der Beginn einer Distanzierung vom dSK zu sehen sein könnte. Hinsichtlich des Bekannten- und Freundeskreises in P wird zu erörtern sein, ob - wie vom Kläger angegeben - und ggf wie lange er aus deutschsprachigen Personen bestand. Auch hieraus könnten sich Anhaltspunkte für den Zeitpunkt einer Distanzierung vom dSK ergeben. Schließlich wird aufzuklären sein, ob und mit welchen konkreten Schritten und ggf bis zu welchem Zeitpunkt der Kläger versucht hat, in ein deutschsprachiges Gebiet versetzt zu werden, was wiederum Rückschlüsse für oder gegen eine Distanzierung vom dSK zulassen könnte. Hinsichtlich der möglichen Dauer der - aufgrund aller tatsächlichen Umstände zu bemessenden - Übergangsfrist wird das LSG die Urteile des Senats vom 28. Juni 1990 - 4 RA 40/88, wonach eine Übergangsfrist von 13 1/2 Jahren in Betracht zu ziehen war, sowie vom 16. August 1990 - 4 RA 18/89 - zu beachten haben. Nach der letztgenannten Entscheidung ist ein Zeitraum von 24 Jahren zwischen dem Beginn der Distanzierung vom dSK und der Auswanderung aus dem Vertreibungsgebiet absolut zu lang, um noch als Übergangszeit angesehen zu werden. Hinsichtlich des Rechtszustandes ab dem 1. Juli 1990 wird zu prüfen sein, ob der Kläger die Voraussetzung des § 17a FRG idF des Art 15 Abschn A Nr 4 RRG 1992 erfüllt.
Die Revision des Klägers hatte iS der Zurückverweisung der Streitsache an das LSG Erfolg, wobei das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.
Fundstellen