Leitsatz (amtlich)
1. Lautet die Urteilsformel dahin, daß die Berufung zurückgewiesen wird, obwohl das Landessozialgericht nach den Entscheidungsgründen die Berufung als unzulässig angesehen hat und über den Anspruch nicht sachlich entscheiden wollte, so hat das Urteil nur die Bedeutung, daß die Berufung als unzulässig verworfen wird.
2. Ist die Berufung als unzulässig verworfen worden, obwohl das Berufungsgericht eine Sachentscheidung hätte treffen müssen, so leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel.
3. Eine Sache nach SGG § 215 Abs 7 von einem allgemeinen Verwaltungsgericht des ersten Rechtszuges auf das Landessozialgericht übergegangen, so ist nur nach den Vorschriften des SGG zu beurteilen, ob die Berufung statthaft ist. Sie ist daher auch dann statthaft, wenn die angefochtene Entscheidung des Oberversicherungsamts nach den früheren Vorschriften der RVO endgültig war.
Leitsatz (redaktionell)
Hat das LSG in der Urteilsformel die Berufung zurückgewiesen, dann kommt es bei der Beurteilung, ob der Berufungsrichter aus sachlichrechtlichen oder aus Verfahrensgründen die Berufung abgewiesen hat, nicht nur auf die in der Urteilsformel gebrauchten Worte, sondern auch auf den Sinn an, den er mit ihnen verbunden hat. Um diesen Sinn zu ermitteln, sind die Entscheidungsgründe mit heranzuziehen.
Normenkette
SGG § 158 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 215 Abs. 7 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 20. Juli 1954 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die im Jahre 1888 geborene Klägerin war von 1907 bis 1909 und von 1939 bis 1943 in der Invalidenversicherung pflichtversichert. Freiwillige Beiträge wurden nicht entrichtet.
Am 19. Juli 1950 beantragte sie bei der Beklagten die Feststellung, daß sie berechtigt sei, freiwillige Beiträge zu entrichten, da sie noch nicht invalide sei.
Die Beklagte erteilte am 21. Mai 1951 einen Bescheid, in welchem sie feststellte, daß die Klägerin nicht berechtigt sei, weitere Beiträge zu entrichten, da sie bereits invalide sei. Sie stützte sich auf das Gutachten ihres Vertrauensarztes Dr. ... vom 23. April 1951, in welchem das Vorliegen von Invalidität seit 1949 angenommen wird. Die Klägerin beantragte daraufhin die Entscheidung des Versicherungsamts nach § 1459 Reichsversicherungsordnung (RVO). Sie stützte ihren Antrag auf die Bescheinigung der praktischen Ärztin ..., in der angenommen wird, daß ihre Arbeitsfähigkeit nicht eingeschränkt sei. Auf Anfrage des Versicherungsamts teilte die Gemeindeverwaltung ... mit, daß die Klägerin noch sämtliche Arbeiten verrichten könne, die einer Frau zugemutet werden könnten, und daß sie während ihres Aufenthaltes in ... noch niemals erwerbsunfähig gewesen sei. Das Versicherungsamt holte ein Gutachten des Staatl. Gesundheitsamts Neumarkt ein. In dem von dem Leiter des Amtes, Medizinalrat Dr. ..., erstatteten Gutachten vom 5. Oktober 1951 wurde die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit mehr als 50 v. H. festgestellt und Invalidität angenommen. Der Vorsitzende des Versicherungsamtes entschied im Beschlußverfahren, daß die Klägerin nicht mehr berechtigt sei, freiwillige Beiträge zu entrichten und stützte seine Entscheidung auf die Gutachten des Vertrauensarztes Dr. ... sowie des Medizinalrats Dr. ....
Gegen die Entscheidung legte die Klägerin Beschwerde bei dem Oberversicherungsamt Landshut ein. Dieses holte ein weiteres Gutachten von Dr. ... ein, der ebenfalls das Vorliegen einer schon seit langer Zeit bestehenden Invalidität annahm, ohne den genauen Zeitpunkt des Beginns der Invalidität angeben zu können. Der Vorsitzende der Beschlußkammer des Oberversicherungsamts wies durch Entscheidung vom 10. September 1953 die Beschwerde der Klägerin zurück und bezeichnete diese Entscheidung als endgültig nach § 1459 Abs. 1 RVO.
Am 12. Oktober 1953 erhob die Klägerin gegen diese Entscheidung Anfechtungsklage bei dem Verwaltungsgericht Regensburg. Die Klage ging mit dem 1. Januar 1954 gemäß § 215 Abs. 7 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf das Bayerische Landessozialgericht in München als Berufung über. Dieses wies durch Urteil vom 20. Juli 1954 die Berufung der Klägerin mit der Begründung zurück, daß die Entscheidung des Oberversicherungsamts endgültig sei. Die Anfechtung dieses Urteils mit einer Klage bei dem Landesverwaltungsgericht sei rechtlich unzulässig gewesen, da es sich nicht um einen Verwaltungsakt, sondern um das Urteil eines besonderen Verwaltungsgerichts handele. Das Landessozialgericht glaubt auch nicht, daß § 215 Abs. 7, zweiter Halbsatz, dahin ausgelegt werden könne, daß die nach der Reichsversicherungsordnung schon vor dem 1. Januar 1954 rechtskräftigen Entscheidungen etwa deshalb noch einmal überprüft werden könnten, weil sie nach den jetzt geltenden Bestimmungen des Sozialgerichtsgesetzes nicht endgültig seien. Es könne nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber auch die bereits endgültigen Streitsachen noch auf die Landessozialgerichte habe übergehen lassen wollen.
Das Landessozialgericht hat die Revision gegen dieses Urteil nicht zugelassen.
Das Urteil wurde der Klägerin am 8. Oktober 1954 zugestellt. Sie hat hiergegen durch Rechtsanwalt D. unter Stellung eines Revisionsantrages am 5. November 1954 Revision eingelegt und diese am 1. Dezember 1954 begründet. Sie stützt sich darauf, daß ihre Klage bei dem Landessozialgericht statthaft gewesen sei, da die Oberversicherungsämter keine Gerichte gewesen seien und deren Urteile daher nur als Verwaltungsakte angesehen werden könnten. Sie bemängelt, daß das Landessozialgericht nicht die Frage der Invalidität erneut geprüft habe.
Sie beantragt,
das Urteil des Bayer. Landessozialgerichts in München vom 20. Juli 1954, die Entscheidung des Bayer. Oberversicherungsamts Landshut vom 10. September 1953, die Entscheidung des Staatlichen Versicherungsamts Neumarkt vom 17. November 1951 und die diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Verwaltungsakte aufzuheben und festzustellen, daß die Klägerin berechtigt sei, freiwillige Beiträge zur Invalidenversicherung zu entrichten sowie der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Sie hält die Ausführungen des Landessozialgerichts in dem angefochtenen Urteil für zutreffend.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist auch statthaft.
Entscheidungen der Landessozialgerichte in Sachen, die als Berufungen nach § 215 Abs. 7 SGG von den allgemeinen Verwaltungsgerichten des ersten Rechtszuges übergegangen sind, sind nicht endgültig, wie der erkennende Senat bereits anderweitig entschieden hat (Beschl. v. 14.9.1955 - 5 RKn 5/54 - in Sachen Keller ./. Bergbauberufsgenossenschaft), können vielmehr mit der Revision angefochten werden, falls diese nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 SGG statthaft ist. Die Revision ist in dem zur Entscheidung stehenden Fall nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Das Vorbringen der Klägerin ist dahin zu verstehen, daß sie das Verfahren des Landessozialgerichts rügt, weil das Landessozialgericht keine Sachprüfung vorgenommen, sondern die Berufung als unzulässig verworfen habe. Zwar könnte, wenn man den Wortlaut des Tenors des angefochtenen Urteils für sich betrachtet, angenommen werden, daß das Landessozialgericht eine Sachentscheidung getroffen habe, da es die Berufung zurückgewiesen hat. Es kommt aber bei der Beurteilung, ob der Berufungsrichter aus sachlich-rechtlichen oder aus Verfahrensgründen die Berufung abgewiesen hat, nicht nur auf die in der Urteilsformel gebrauchten Worte, sondern auch auf den Sinn an, den er mit ihnen verbunden hat. Um diesen Sinn zu ermitteln, sind die Entscheidungsgründe mitheranzuziehen (vgl. RGZ. 145 S. 46; Rosenberg, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 6. Aufl., § 129 II, 3). Aus diesen ergibt sich eindeutig, daß das Landessozialgericht die Berufung als unzulässig angesehen hat und überhaupt keine Sachentscheidung treffen wollte. Es hat zwar auf S. 7 des Urteils am Schluß des ersten Absatzes die sachlich-rechtliche Frage auch am Rande gestreift. Aus den Eingangsworten "Demgegenüber war nicht entscheidend ..." muß aber entnommen werden, daß es das Urteil nicht auf diese sachlich-rechtlichen Überlegungen stützen wollte. Nach alledem ist also trotz des Wortlauts der Urteilsformel davon auszugehen, daß das Berufungsgericht die Berufung in Wirklichkeit als unzulässig verworfen hat.
Das Landessozialgericht hätte allerdings eine Sachprüfung vornehmen und eine Sachentscheidung treffen müssen. Die Streitsache war bei Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes bei einem allgemeinen Verwaltungsgericht des ersten Rechtszuges rechtshängig; denn die Rechtshängigkeit tritt durch Erhebung der Klage ein. Es bedurfte keiner Untersuchung, ob der Rechtsweg vor dem Verwaltungsgericht zulässig war; denn die Unzulässigkeit des Rechtswegs steht dem Eintritt der Rechtshängigkeit nicht entgegen (vgl. Baumbach, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl., Anm. 2 zu § 263). Diese Streitsache ist also nach § 215 Abs. 7 SGG mit Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes auf das Berufungsgericht übergegangen. Da diese Vorschrift eine Ausnahme nicht vorsieht, kann der Ansicht des Landessozialgerichts, daß es nicht der Wille des Gesetzgebers sein könne, auch bereits endgültige und daher rechtskräftige Sachen auf die Landessozialgerichte übergehen zu lassen, nicht gefolgt werden. Das Berufungsgericht übersieht, daß über jede Klage, auch die unzulässige, entschieden werden muß.
Da zur Entscheidung über Rechtsstreitigkeiten im Sinne des § 51 SGG seit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes aber nur die Sozialgerichte zuständig sind und damit die Verwaltungsgerichte nicht mehr entscheiden können, mußte der Gesetzgeber - ohne Ausnahme - alle rechtshängigen Sachen dieser Art auf die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit überleiten, um die in jedem Fall erforderliche Entscheidung zu ermöglichen.
Nach § 215 Abs. 7, letzter Halbsatz SGG richtet sich die Zulässigkeit der Berufung nach dem Sozialgerichtsgesetz. Der 9. Senat des erkennenden Gerichts hat sich in seinem Urteil vom 20. September 1955 (- 9 RV 46/54 - in Sachen Leupold ./. Freistaat Bayern) mit den unter § 215 Abs. 3 SGG fallenden Rechtsstreitigkeiten befaßt und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß durch den Übergang einer unter Abs. 3 fallenden Sache ein nach altem Recht unzulässiges Rechtsmittel nicht zulässig wird, wenn es nach den Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes zulässig wäre, da eine entsprechende ausdrückliche Vorschrift fehle. Dieser Entscheidung ist beizutreten. Im Gegensatz zu Abs. 3 ist aber in Abs. 7 eine solche Vorschrift enthalten; denn es ist angeordnet, daß sich die Zulässigkeit der Berufung nach dem Sozialgerichtsgesetz richtet. Es bedarf hier keiner Untersuchung, ob der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang unter "Zulässigkeit" mehr als die "Statthaftigkeit" der Berufung versteht, jedenfalls muß die Statthaftigkeit nach den Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes beurteilt werden. Der klare Wortlaut des Gesetzes läßt keine Ausnahmen zu. Es kann daher auch nicht geltend gemacht werden, der Gesetzgeber habe doch wohl kaum gewollt, daß die Kläger, die sich mit der Rechtslage vor 1954 begnügt hätten, sich jetzt nur auf die Möglichkeit des § 214 Abs. 1 SGG beschränken müßten, während diejenigen, die nach altem Recht endgültige Entscheidungen der Oberversicherungsämter auf dem unzulässigen Rechtsweg der Verwaltungsgerichtsbarkeit angefochten hätten, in vollem Umfang Rechtsschutz genössen (vgl. dazu Rohwer-Kahlmann, Die Zulässigkeit von Berufung und Revision in Altfällen, in "Die Sozialgerichtsbarkeit", 2. Jahrg., Heft 8, S. 225). Es wird übersehen, daß sich diejenigen, die eine Klage vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten erhoben haben, - jedenfalls nach der Ansicht einer Reihe von Verwaltungsgerichten - einen vollen Rechtszug eröffnet hatten. Ob die Ansicht dieser Verwaltungsgerichte richtig war, ist unerheblich; ihre Ansicht war jedenfalls für die Verwaltungsstreitsachen maßgebend, da sie ja letztlich die Entscheidung zu treffen hatten. Wenn auch nicht mehr geklärt wurde, ob diese Ansicht durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigt worden wäre, konnte der Gesetzgeber des Sozialgerichtsgesetzes doch über diese faktisch vorhandene Rechtsstellung der Kläger nicht ohne weiteres hinweggehen. Hieraus ist zu verstehen, daß er glaubte, diesen Klägern bei Übergang ihrer Sachen auf die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit einen gleichwertigen Rechtszug eröffnen zu müssen. Gleichwertig konnte aber dieser Rechtszug nur sein, wenn er in wesentlich gleichem Umfang gewährt wurde, so daß eine Verschlechterung grundsätzlicher Art gegenüber der bisherigen Rechtslage nicht eintrat. Es mag sein, daß dem Gesetzgeber vor allem die zahlreichen Fälle aus dem Bezirk des Oberverwaltungsgerichts Münster Anlaß zu dieser Regelung gegeben haben und er nicht die Besonderheiten berücksichtigt hat, die in anderen Bezirken bestanden. Da er aber eine Ausnahmeregelung nicht vorgesehen hat, muß diese Vorschrift uneingeschränkt gelten.
Der erkennende Senat steht daher auf dem Standpunkt, daß die Berufung im vorliegenden Falle statthaft ist. Das Landessozialgericht hätte somit in eine sachliche Prüfung eintreten und eine Sachentscheidung treffen müssen. Das Urteilsverfahren des Landessozialgerichts leidet daher an einem wesentlichen Mangel, da es ein Prozeßurteil anstelle eines erforderlichen Sachurteils gefällt hat, ohne daß die Voraussetzungen des § 158 Abs. 1 SGG vorlagen.
Da das angefochtene Urteil anders hätte ausfallen können, wenn das Landessozialgericht in eine sachlich-rechtliche Nachprüfung eingetreten wäre, ist die Revision auch begründet. Zwar läßt das angefochtene Urteil in einer Randbemerkung erkennen, daß das Landessozialgericht den Anspruch auch materiell-rechtlich nicht als gegeben ansieht. Diese Bemerkung ist jedoch, wenn man ihr wegen der Fassung überhaupt eine Bedeutung beimessen will, nicht entscheidungserheblich, da eine Klage nicht zugleich aus prozeßrechtlichen und aus sachlich-rechtlichen Gründen abgewiesen werden kann. Beide Arten von Entscheidungen haben ganz verschiedene Bedeutungen. Wenn das Gericht das Rechtsmittel als unzulässig ansieht, darf es in eine Sachprüfung überhaupt nicht eintreten. Ausführungen, die das Berufungsgericht in einem Prozeßurteil zur Sache macht, sind daher nicht zulässig, somit in keiner Weise verbindlich und damit im Revisionsverfahren als nicht geschrieben zu behandeln (vgl. BGHZ. 11, S. 222).
Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden. Da das Landessozialgericht eine wirksame eigene materiell-rechtliche Sachfeststellung nicht getroffen hat, konnte der erkennende Senat nicht selbst in der Sache entscheiden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen