Leitsatz (amtlich)

1. Hat das LSG sein Urteil auf eine Haupt- und eine Hilfsbegründung gestützt, von denen jede die Entscheidung trägt, so steht der Zulassung der Revision nach SGG § 162 Abs 1 Nr 1 nicht entgegen, daß nur in der Hilfsbegründung über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung entschieden worden ist.

2. Zur Frage, ob und wie ein bei Aufnahme des "bisherigen Berufs" bereits bestehendes Leiden bei einer späteren Entscheidung über die Berufsunfähigkeit zu berücksichtigen ist.

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03; RKG § 46 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Mai 1964 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Streitig ist, ob dem Kläger die Gesamtleistung wegen Berufsunfähigkeit (§ 46 Reichsknappschaftsgesetz - RKG -, § 1246 Reichsversicherungsordnung - RVO -) zusteht.

Der am 1. Dezember 1907 geborene Kläger war seit April 1925 im Bergbau als Tagesarbeiter, Schlepper im Schichtlohn, Gedingeschlepper, Lehrhauer und - vom 24. Mai 1937 bis zum 7. April 1953 - als Hauer beschäftigt. Vom 8. April 1953 bis zum 26. September 1955 war er als Ausbauhelfer und ab 27. September 1955 als Tagesarbeiter tätig. Vom 11. April 1925 bis zum 30. Juni 1926 gehörte der Kläger der Invalidenversicherung an, anschließend war er knappschaftlich versichert. Seit dem 8. April 1953 erhält er die Knappschaftsrente nach § 3 der Verordnung über die Neuregelung der Rentenversicherung im Bergbau vom 4. Oktober 1942 (RGBl I 569) i.V.m. § 35 RKG aF, die zum 1. Januar 1957 als Bergmannsrente umgestellt wurde.

Am 25. November 1959 beantragte der Kläger die Gewährung der Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit nach § 46 RKG. Die Ärzte Dr. L, Dr. M und Dr. E stellten ein mäßiges Lungenemphysem mit Zeichen einer chronischen Bronchitis und eine leichte bis mäßige Innenohrschwerhörigkeit beider Ohren fest und waren der Ansicht, daß der Kläger noch unter Tage als 2. Schachtanschläger, Blindschachtanschläger, Grubenlokführer auf elektrischen und Druckluftmaschinen, Maschinist an Blindschächten ohne Seilfahrt, 2. Maschinist und Maschinenwärter, Abnehmer, Rangierer, Bremser, Telefonist unter Tage, Bahnreiniger, Bandreiniger, Schmierer und Weichensteller arbeiten könne. Die Beklagte lehnte daraufhin den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 15. März 1960 ab. Der gegen diesen Bescheid gerichtete Widerspruch wurde zurückgewiesen.

Das Sozialgericht (SG) hat Dr. K als medizinischen Sachverständigen gehört, der in seinem Gutachten vom 3. Mai 1961 unter Verwertung des Zusatzgutachtens des Augenarztes Dr. Sch vom 28. April 1961 den Kläger für fähig gehalten hat, unter und über Tage leichte bis mittelschwere Arbeiten als Bahnreiniger, Bandreiniger, Lampenstubenarbeiter, Magazinarbeiter, Markenausgeber, Platzreiniger und Kauenwärter zu verrichten. Das SG hat die Beklagte durch Urteil vom 28. Juli 1961 verurteilt, dem Kläger vom 1. November 1959 an die Gesamtleistung wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Das Landessozialgericht (LSG) hat auf Antrag des Klägers ein schriftliches Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. A eingeholt. Dieser kommt zu dem Ergebnis, daß der Kläger an einer örtlich begrenzten Spondylose der mittleren Lendenwirbelsäule bei geringer Drehverschiebung derselben leidet und der Verdacht auf einen Meniskusschaden im linken Kniegelenk besteht; er sei aber noch in der Lage, mittelschwere Tätigkeiten auszuüben. Ein weiteres Gutachten wurde von den Ärzten Dres. W und Z erstattet. Diese meinen, es läge auf chirurgischem Gebiet keine Minderung der Leistungsfähigkeit vor, der Kläger könne eine Reihe von Tätigkeiten der Lohngruppen IV und V unter Tage verrichten; er sei allerdings seinem Alter entsprechend verbraucht. Man solle ihn aber wegen seines geistigen Zustandes nicht mit einer verantwortungsvollen Tätigkeit betrauen. In der mündlichen Verhandlung wurde Prof. Dr. P als medizinischer und Bergassessor a.D. Geschäftsführer L als technischer Sachverständiger gehört. Prof. Dr. P hat Veränderungen der Wirbelsäule und eine chronische Bronchitis festgestellt und ausgeführt, der Kläger sei noch in der Lage, unter Tage die Tätigkeiten eines Bahnreinigers, Bandreinigers, Bremsers und Weichenstellers zu verrichten; über Tage könne er wegen seiner Primitivität keine mit höherer Verantwortung verbundenen Arbeiten verrichten. Er könne aber noch als Transportarbeiter und Bergeklauber arbeiten. Dr. S hat in einer von der Beklagten überreichten ärztlichen Stellungnahme vom 10. Januar 1963 die Auffassung vertreten, daß der Kläger verantwortungsvollen Tätigkeiten nicht gewachsen sei und hat sich hierbei auf ein Gutachten des Dr. R, Chefarzt der Nervenabteilung des Knappschaftskrankenhauses Bottrop, vom 7. September 1953 gestützt. Dr. S hält den Kläger aber noch für fähig, als Bergeklauber und Transportarbeiter tätig zu sein. Das LSG hat durch Urteil vom 21. Mai 1964 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Revision wurde zugelassen.

Das LSG ist der Auffassung, daß der Kläger keinen Anspruch auf Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit hat, da er nicht berufsunfähig nach § 46 Abs. 2 RKG sei. Es geht davon aus, daß der Hauerberuf der Hauptberuf des Klägers ist. Nach den ärztlichen Gutachten sei der Kläger gesundheitlich noch in der Lage, gewisse leichte Arbeiten der Lohngruppen IV und V unter Tage der Lohnordnung für den Steinkohlenbergbau im rheinisch-westfälischen Steinkohlenrevier, wie die des Bahnreinigers, Bandreinigers, Abnehmers, Ankneblers , Bremsers und Weichenstellers, auszuüben. Darüber hinaus sei er aber nach seinen körperlichen Kräften auch noch in der Lage, leichte Tätigkeiten höherer Lohngruppen unter Tage, wie die eines 2. Schachtanschlägers, Blindschachtanschlägers, Grubenlokführers, Maschinisten und Maschinenwärters, sowie Tätigkeiten höherer Lohngruppen über Tage, wie die des 2. Maschinisten, des Tafelführers, des Stellwerkwärters, Verwiegers usw., zu verrichten. Die ärztlichen Sachverständigen hätten die Fähigkeit des Klägers zur Verrichtung verantwortungsvollerer Tätigkeiten zwar verneint, doch sei dies nur mit Rücksicht auf die besondere Persönlichkeitsstruktur des Klägers, die eine Übertragung verantwortungsvoller Tätigkeiten nicht zulasse, geschehen. Dieser Ansicht könne aber nicht gefolgt werden. Die Sachverständigen hätten nicht genügend berücksichtigt, daß der Kläger nach einer 4 1/2jährigen Tätigkeit als Gedingeschlepper und Lehrhauer die Hauerprüfung abgelegt und danach ohne wesentliche Fehlzeiten nahezu 16 Jahre als Hauer gearbeitet habe. Wenn man bedenke, daß einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Gedingeschleppern und Lehrhauern der Aufstieg zum Hauer verschlossen bleibe, weil sie diesen Anforderungen nicht gewachsen seien, könne die Wesenseigentümlichkeit des Klägers nicht derart sein, daß er nicht auch zur Ausübung der genannten Tätigkeiten in der Lage sei.

Sollte jedoch die Auffassung zutreffen, daß der Kläger wegen seiner Wesenseigentümlichkeiten zu diesen Tätigkeiten unfähig sei, wäre ein Rentenanspruch dennoch nicht gegeben. Denn ein Versicherungsfall könnte nicht durch Umstände ausgelöst werden, für die die Rentenversicherung ihrem Wesen nach nicht einzustehen brauche. Diese gewähre keinen Schutz gegen charakterliche Fehler, sonstige Wesenseigentümlichkeiten und Mängel in der Persönlichkeitsstruktur, die nicht durch körperliche oder geistige Schädigungen verursacht sind, die aber eine Beschäftigung des Versicherten mit bestimmten Arbeiten ausschlössen oder doch untunlich erscheinen ließen. Die Wesensart des Klägers könne deshalb nicht zur Begründung des Versicherungsfalls herangezogen werden.

Im übrigen seien körperliche Fehler und sonstige Gesundheitsstörungen, die schon bei Eintritt in die Versicherung bestanden und seither unverändert vorgelegen hätten, versicherungsrechtlich ohne Bedeutung. Da die Wesenseigentümlichkeit des Klägers bereits bei seinem Eintritt in die Rentenversicherung und seither unverändert bestanden habe, könne sie nicht den Versicherungsfall begründen. Zwar seien andere Gesundheitsstörungen hinzugetreten. Diese hinderten den Kläger aber nicht, die genannten Verweisungstätigkeiten zu verrichten.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt. Er ist der Auffassung, daß er berufsunfähig im Sinne des § 46 Abs. 2 RKG, § 1246 Abs. 2 RVO ist und daß ihm daher die Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht. Im einzelnen rügt er, das Berufungsgericht habe zu Unrecht angenommen, er sei mit geistigen Schäden, Wesenseigentümlichkeiten und Mängeln in seiner Persönlichkeitsstruktur, die nicht durch körperliche und geistige Schädigungen verursacht, sondern anlagebedingt seien, in die knappschaftliche Rentenversicherung eingetreten. Allein schon der Umstand, daß er die Berufsentwicklung zum Hauer durchlaufen und die Hauerprüfung bestanden habe, beweise, daß solche Schwächen nicht vorgelegen haben könnten. Wäre er schon zur Zeit seiner Hauertätigkeit mit geistigen Mängeln behaftet gewesen, wie es jetzt der Fall sei, hätte er nie Vollhauer sein können. Fest stehe weiter, daß er vom 13. Dezember 1952 an wegen allgemeiner Schwäche arbeitsunfähig krank gewesen sei und seit dem 8. April 1953 nur noch als Ausbauhelfer habe beschäftigt werden können. Die Betriebsleitung habe eingesehen, daß die arthrotischen Veränderungen der Wirbelsäule einen Arbeitsplatzwechsel auf Tätigkeiten der Lohngruppen IV und V über Tage notwendig machten. Da solche Tätigkeiten für einen Hauer einen sozialen Abstieg bedeuteten, sei er berufsunfähig. Selbst die Vertrauensärzte der Beklagten hätten ihn nicht mehr für fähig gehalten, andere als Hilfsarbeitertätigkeiten in den Lohngruppen IV und V über Tage zu verrichten. Sein Gesundheitszustand habe sich nicht gebessert, sondern verschlechtert. Wenn er schon im Jahre 1957 nur noch fähig gewesen sei, Tätigkeiten der Lohngruppen IV und V zu verrichten, dann stehe fest, daß er jetzt - in höherem Alter und bei zunehmender Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes - erst recht nicht mehr in der Lage sei, eine höher entlohnte Tätigkeit auszuführen.

Er beantragt,

das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 21. Mai 1964 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Berufunfähigkeit als Gesamtleistung ab 1. November 1959 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, daß die Revision des Klägers nicht statthaft sei. Zwar habe das LSG die Revision zugelassen, doch seien keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung erkennbar. Es sei außerdem zweifelhaft, ob die Revisionsbegründung dem Erfordernis des § 164 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entspreche.

Falls die Revision jedoch nicht als unzulässig angesehen werden sollte, sei sie unbegründet. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts sei der Kläger, dessen Hauptberuf der des Hauers ist, noch in der Lage, unter Tage als Bahn- und Bandreiniger, Abnehmer, Bremser, Anknebler und Weichensteller sowie über Tage als Tafelführer, Verwieger und Stellwerkswärter zu arbeiten. An diese tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts gegen die begründete Revisionsrügen nicht vorgebracht worden seien, sei das Revisionsgericht nach § 163 SGG gebunden. Danach sei Berufsunfähigkeit im Sinne von § 46 Abs. 2 RKG, § 1246 Abs. 2 RVO nicht gegeben.

II

Die Revision des Klägers ist entgegen der Auffassung der Beklagten nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft, da das LSG sie zugelassen hat. An die Zulassung der Revision ist das Revisionsgericht grundsätzlich gebunden. Ob dies ausnahmsweise dann nicht der Fall wäre, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung offensichtlich nicht gegeben sind, kann dahinstehen. Denn hier ist ein solcher Ausnahmefall nicht gegeben. Streitig sind in materiell-rechtlicher Hinsicht u.a. die grundsätzlichen Rechtsfragen, ob "Wesenseigentümlichkeiten" des Versicherten bei Anwendung des § 46 Abs. 2 RKG, § 1246 Abs. 2 RVO zu berücksichtigen sind und ob Krankheiten, andere Gebrechen oder Schwäche der geistigen oder körperlichen Kräfte des Versicherten bei Beurteilung der Berufsfähigkeit dann außer Betracht bleiben müssen, wenn sie beim Eintritt des Versicherten in die Rentenversicherung oder zumindest bei Aufnahme des "bisherigen Berufs" bereits bestanden haben. Es ist zwar richtig, daß das Berufungsgericht über diese grundsätzlichen Rechtsfragen nur hilfsweise entschieden hat. Aber auch in einem solchen Fall kann die Zulassung der Revision nicht als offensichtlich unzulässig angesehen werden, weil es immerhin auf die Entscheidung dieser grundsätzlichen Rechtsfragen ankommen kann.

Auch der Ansicht der Beklagten, die Revisionsbegründung des Klägers entspreche nicht den Voraussetzungen des § 164 Abs. 2 SGG, kann nicht beigetreten werden. Da es sich um eine zugelassene Revision handelt, kommt es bei der Frage, ob die Revision ordnungsgemäß begründet worden ist, nicht darauf an, ob die Verfahrensrügen ordnungsgemäß erhoben worden sind, wenn, wie hier, eine materielle Rüge ordnungsgemäß erhoben ist. Nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG muß die Revisionsbegründung, soweit es sich nicht um Verfahrensrügen handelt, nur die verletzte Rechtsnorm bezeichnen. Diese Rechtsnorm braucht nicht nach Paragraphen bezeichnet zu sein, es genügt vielmehr, wenn sie aus dem Zusammenhang der Revisionsbegründung mit genügender Sicherheit entnommen werden kann. Im vorliegenden Fall ist aber unzweifelhaft, daß der Kläger § 46 Abs. 2 RKG und § 1246 Abs. 2 RVO als verletzt ansieht.

Die danach zulässige Revision des Klägers ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist. Die Rüge des Klägers, das Berufungsgericht habe mit seiner Feststellung, daß er nach seinen körperlichen Kräften noch in der Lage sei, die Tätigkeiten des 2. Schachtanschlägers, Blindschachtanschlägers, Grubenlokführers, Maschinisten, Maschinenwärters unter Tage sowie des 2. Maschinisten, Tafelführers, Stellwerkwärters und Verwiegers über Tage zu verrichten, § 128 SGG verletzt, greift zwar nicht durch; denn diese Feststellung verstößt weder gegen Denkgesetze noch gegen allgemeine Erfahrungssätze, noch läßt sie wesentlichen Prozeßstoff außer acht. Da der Kläger nach den ärztlichen Gutachten auf Grund seiner körperlichen Tauglichkeit nicht gehindert ist, Tätigkeiten der Lohngruppen IV und V unter Tage zu verrichten, durfte das Berufungsgericht, ohne gegen § 128 SGG zu verstoßen, annehmen, daß er körperlich auch noch in der Lage ist, zumindest einige der obengenannten Tätigkeiten der höheren Lohngruppe zu verrichten; denn jedenfalls sind einige dieser Tätigkeiten nicht körperlich schwerer als einige Tätigkeiten der Lohngruppen IV und V unter und über Tage der Lohnordnung für den rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau.

Der Kläger greift jedoch darüber hinaus die Feststellung des Berufungsgerichts, daß er noch fähig sei, diese Tätigkeiten zu verrichten, auch insoweit an, als dieses angenommen hat, er sei trotz seiner "Persönlichkeitsstruktur", - nach seinen "Wesenseigentümlichkeiten" - noch in der Lage, diese Tätigkeiten auszuüben, weil er die Hauerprüfung bestanden und als Hauer gearbeitet habe. Diese Rüge greift durch. Das LSG hat bei seiner Feststellung nicht genügend berücksichtigt, daß der Kläger seit Ablegung der Hauerprüfung wesentlich älter geworden ist. Wenn schon einem Versicherten in höherem Alter ganz allgemein die Umstellung auf eine neue Tätigkeit schwerer fällt als einem jüngeren Versicherten, so trifft dies in besonderem Maße für einen Versicherten zu, der besondere "Wesenseigentümlichkeiten" aufweist. Das Berufungsgericht durfte daher aus dem Umstand, daß der Kläger früher einmal die Hauerprüfung mit Erfolg abgelegt hat, nicht ohne weiteres schließen, daß er auch heute noch, in höherem Lebensalter, in der Lage sei, sich auf andere verantwortungsvolle Tätigkeiten umzustellen. Dies war um so weniger gerechtfertigt, als die Sachverständigen Prof. Dr. P (Gutachten vom 4. Mai 1964), Dr. S (Gutachten vom 10. Januar 1963) und Dr. R (Gutachten vom 7. September 1953) in ihren Gutachten darauf hinweisen, daß der Kläger wegen seiner Primitivität und Beschränktheit keine verantwortungsvollen Tätigkeiten übernehmen kann. Diese Feststellung ist daher fehlerhaft; sie kann nicht Grundlage für eine eigene Entscheidung des erkennenden Senats sein. Da der Hauer nach der neueren Rechtsprechung des erkennenden Senats nicht auf Tätigkeiten der Lohngruppen IV und V über und unter Tage, die der Kläger allerdings in jedem Fall noch verrichten kann, verwiesen werden darf, kommt es entscheidend darauf an, ob er auch noch in der Lage ist, höherwertige Tätigkeiten zu verrichten.

Das Berufungsgericht hat allerdings seine Entscheidung hilfsweise darauf gestützt, daß der Kläger selbst dann, wenn er wegen seiner "Persönlichkeitsstruktur" (seiner "Wesenseigentümlichkeiten") keine höherwertigen Berufe ausüben könne, keinen Anspruch auf Gewährung der Gesamtleistung wegen Berufsunfähigkeit habe, weil dieser Mangel nicht als Krankheit oder anderes Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte im Sinne des § 46 Abs. 2 RKG, § 1246 Abs. 2 RVO anzusehen sei. Das Berufungsgericht hat sich nicht dazu geäußert, welcher Art diese "besondere Persönlichkeitsstruktur" bzw. diese "Wesenseigentümlichkeiten" des Klägers sind. Um eine "Schwäche der geistigen Kräfte" im Sinne dieser Vorschrift auszuschließen, bedarf es jedoch näherer Feststellungen über die Art der beim Kläger vorhandenen geistigen Mängel. Auch diese nähere Feststellung wird das Berufungsgericht daher noch nachzuholen haben; es wird hierbei nicht die oben angeführten ärztlichen Gutachten außer acht lassen können, in welchen von geistiger Primitivität und Beschränktheit des Klägers gesprochen wird. Diese Angaben sprechen jedenfalls für die Annahme einer geistigen Schwäche im Sinne des § 46 Abs. 2 RKG bzw. § 1246 Abs. 2 RVO, die bei Anwendung dieser Vorschriften zu berücksichtigen wäre.

Das Berufungsgericht ist weiterhin der Ansicht, daß ein die Erwerbsfähigkeit einschränkender anomaler Körper- oder Geisteszustand im Sinne dieser Vorschriften dann nicht zur Rentengewährung führen könne, wenn er bereits bei Beginn der Versicherung bestanden habe, wie es hier der Fall sei. Diesen Ausführungen kann nur bedingt zugestimmt werden. Zwar spricht manches dafür, daß die von dem ärztlichen Sachverständigen festgestellte Primitivität und Beschränktheit des Klägers schon bei Beginn seines Berufslebens vorgelegen haben. Trotzdem hat der Kläger fast 17 Jahre hindurch als Hauer gearbeitet. Deshalb kann es wohl kaum zweifelhaft sein, daß ein wirksames Versicherungsverhältnis zustande gekommen ist. Hat ein Versicherter einen bestimmten Beruf jahrelang ausgeübt, so wird man auch grundsätzlich davon ausgehen müssen, daß er über die für diesen Beruf erforderlichen Fähigkeiten verfügt hat.

Allerdings können die Voraussetzungen des Versicherungsschutzes nach § 46 Abs. 2 RKG, § 1246 Abs. 2 RVO dann entfallen, wenn bei Aufnahme des "bisherigen" Berufs (des Hauptberufs) im Sinne dieser Vorschriften schon ein Leiden vorlag, das den Versicherten daran gehindert hat, seinen Hauptberuf und zumindest einen Teil der ihm nach seinem Hauptberuf im Sinne dieser Vorschriften zumutbaren anderen Berufe im wesentlichen auszufüllen. Gegenstand der Berufsunfähigkeitsversicherung nach § 46 RKG, § 1246 RVO ist nämlich die Tauglichkeit des Versicherten, seinen "bisherigen Beruf" und die ihm hiernach zumutbaren anderen Berufe zu verrichten. Dies wird durch die Fassung des § 46 Abs. 2 RKG und des § 1246 Abs. 2 RVO bestätigt. Denn es wird in diesen Vorschriften darauf abgestellt, daß die Erwerbsfähigkeit auf die Hälfte der eines gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten "herabgesunken" ist. Ein "Herabsinken" der Erwerbsfähigkeit setzt aber voraus, daß sie zunächst einmal - zumindest im wesentlichen - bestanden haben muß und sich erst im Laufe der Zeit verringert hat. Der Kläger dürfte bei Aufnahme des Hauerberufs in der Lage gewesen sein, diesen Beruf zumindest im wesentlichen auszufüllen. Vieles spricht auch für die Annahme, daß er damals ebenfalls in der Lage gewesen ist, zumindest einen Teil der einem Hauer zumutbaren anderen Berufe im wesentlichen auszufüllen. Sollte das Berufungsgericht bei seiner neuen Entscheidung zu dem Ergebnis kommen, daß der Kläger bei Aufnahme des Hauerberufes in der Lage war, außer diesem auch einen Teil der ihm danach zumutbaren verwandten Berufe im wesentlichen auszufüllen, kommt es darauf an, ob er heute, trotz höheren Lebensalters, noch fähig ist, zumindest eine dieser Tätigkeiten auszuüben, was immerhin zweifelhaft ist.

Sollte aber das Berufungsgericht wider Erwarten zu dem Ergebnis kommen, daß der Kläger schon bei Aufnahme des Hauerberufes gar nicht in der Lage gewesen ist, diesen Beruf und zumindest einen Teil der ihm danach zumutbaren Berufe im wesentlichen auszufüllen, so scheidet der Versicherungsschutz nicht etwa voll aus. Zwar wäre in diesem Fall bei Beurteilung der Berufsfähigkeit nicht von dem Hauerberuf auszugehen. Es müßte aber ein geringer bewerteter Beruf zugrunde gelegt werden, den der Versicherte ohne wesentliche Einschränkung hätte ausfüllen können - etwa der des Gedingeschleppers, zumindest aber der eines ungelernten Arbeiters -.

Da es an einer Reihe der erforderlichen tatsächlichen Feststellungen mangelt, muß das Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 227

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