Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz auf Wegen zu oder von der Arbeitsstätte (Abgrenzung des häuslichen Wirkungsbereichs vom Arbeitsweg)
Leitsatz (redaktionell)
Auch Garagen, die in baulicher Hinsicht mit dem Wohngebäude verbunden sind, gehören nicht mehr zum (unversicherten) häuslichen Bereich, wenn die Garagen keinen Zutritt zum Wohngebäude haben und daher erst nach dem Durchschreiten der Außentür des Wohngebäudes erreicht werden können; der Weg zur Garage unterliegt daher bereits dem Unfallversicherungsschutz (RVO § 550 Abs 1 S 1).
Normenkette
RVO § 550 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 14. Mai 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger wurde am 27. April 1971 von einem Unfall betroffen, als er mit seinem Personenkraftwagen (Pkw) aus der Garage hinaus zur Arbeitsstätte fahren wollte. Er begehrt von der Beklagten Entschädigung wegen der Unfallfolgen.
Über die Vorgänge, die zu dem Unfall geführt haben, enthält das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) folgende Feststellungen:
Der Kläger bewohnt das Erdgeschoß seines umfriedeten Zweifamilienwohnhauses, das an einem Hang steht. Zu diesem gehört eine im rückwärtigen Hausbereich liegende Tiefgarage, die vom Inneren des Hauses nicht direkt betreten werden kann. Um zu ihr zu gelangen, stehen dem Kläger vielmehr zwei Wege zur Verfügung: Er kann im Haus die Kellertreppe hinuntergehen und durch eine Außentür der Waschküche über den hinteren Hofteil die Garagentür erreichen oder zum anderen um das Haus herum zur Garage gehen. Hierbei muß er das Wohnhaus durch die Außentür des Wohngebäudes verlassen und über die "O-straße", einen öffentlichen Weg, eine kurze Strecke zur Gartentoreinfahrt zurücklegen und anschließend über sein Privatgrundstück im Gefolge eines auf 10 m Länge 1,60 m abfallenden Weges zur Garage gehen. Diesen letzteren Weg hatte der Kläger am Unfalltag gegen 5.00 Uhr genommen. Betreten werden kann die Garage nur von außen nach Schwenken des Tores nach oben, das dann parallel unter dem Garagendach liegt. Am Unfalltag betrat der Kläger die Garage allein zu dem Zwecke, um die Fahrt mit seinem Pkw zur Arbeitsstätte anzutreten. Er fuhr rückwärts aus der Garage und hatte hierbei seine linke Hand auf den oberen Türrahmen der leicht geöffneten Pkw-Tür gelegt. Bei der Ausfahrt bewegte sich das Schwenktor aus einem nicht mehr feststellbaren Grund nach unten und quetschte mit dem seitlichen Gestänge die linke Hand des Klägers. In diesem Zeitpunkt hatte der Kläger den Pkw soweit aus der Garage hinausgefahren, daß die auf der Tür liegende Hand beim Aufprall des Gestänges die Garagentürschwelle erreicht hatte. In einem Gutachten des Durchgangsarztes Professor Dr. B vom 3. Dezember 1971 wurde die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Klägers für die Zeit vom 2. August 1971 bis zum 2. März 1972 auf 20 v. H. geschätzt und eine Nachuntersuchung nach 6 Monaten für angezeigt gehalten.
Durch Bescheid vom 15. Juni 1972 lehnte die Beklagte eine Entschädigung mit der Begründung ab, der Kläger habe sich im Unfallzeitpunkt noch nicht außerhalb der Garage, also noch in seinem häuslichen Wirkungskreis befunden und daher keinen Wegeunfall erlitten.
Auf die vom Kläger erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Marburg dem Antrag des Klägers entsprechend die Beklagte verurteilt, Unfallentschädigung zu gewähren (Urteil vom 21. Mai 1974). Das LSG hat durch Urteil vom 14. Mai 1975 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Kläger habe sich im Unfallzeitpunkt bereits auf dem Weg zur Arbeitsstätte befunden und daher nach § 550 Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Versicherungsschutz gestanden. Um in die Garage gelangen zu können, habe er wegen eines fehlenden Zugangs aus seinem Wohnhaus den Weg zur Garage durch die Außentür des Gebäudes begonnen und sei mit dem Durchschreiten dieser Tür, auf dem Weg zur Garage, in dieser selbst und während der Ausfahrt mit dem Pkw versichert gewesen. Es sei rechtlich ohne Bedeutung, im übrigen auch nicht mehr genau festzustellen, ob und wie weit der Körper des Klägers im Pkw sich bereits außerhalb der Garage befunden habe, als es zu dem Unfall gekommen sei. Das LSG hat sich im einzelnen mit der als teilweise widersprüchlich angesehenen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Versicherungsschutz bei Garagenunfällen auseinandergesetzt. Es ist insbesondere aufgrund des Urteils vom 11. Dezember 1973 (2 RU 29/73 - BSG 37,36 der Auffassung, das BSG habe nunmehr in Bezug auf Garagenunfälle einen einheitlichen, von den örtlichen Gegebenheiten des Einzelfalles losgelösten Standpunkt eingenommen, auch wenn es von früheren entgegenstehenden Entscheidungen nicht ausdrücklich abgerückt sei.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat der Senat durch Beschluß vom 23. Oktober 1975 die Revision zugelassen. Zur Begründung dieses Rechtsmittels trägt die Beklagte vor: Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG sei der Kläger "im Ergebnis" noch vor dem Antritt seines Weges zur Arbeitsstätte verunglückt. Der Pkw habe die Garage noch nicht völlig verlassen gehabt, der Unfall habe sich im Inneren der Garage ereignet. Das Garagentor bilde die Grenze des unversicherten häuslichen Bereichs. Entgegen der Feststellung des LSG lebe der Kläger nicht in einem echten Zweifamilienhaus zusammen mit einer anderen, fremden Familie; er bewohne das zweigeschossige Haus vielmehr zusammen mit seiner Tochter, seinem Schwiegersohn und deren Familie. Die Rechtsprechung zu Einfamilienhäusern zwinge aber ebensowenig wie Sinn und Zweck des § 550 RVO dazu, stets und grundsätzlich die Außenhaustür eines Hauses als Grenze anzusehen, wie dies für Mehrfamilienhäuser angezeigt und angemessen sein möge. Solange ein Beschäftigter mit seinem Pkw noch nicht aus der Garage im Kellergeschoß herausgefahren sei, befinde er sich, zumindest der allgemeinen Lebens- und Verkehrsanschauung nach, noch im Hause. Der häusliche Bereich dürfe nicht derart eng begrenzt werden, daß eine im Hauskeller gelegene, wenn auch nur von außerhalb des Hauses zugängliche Tiefgarage nicht mehr in diesen Bereich einbezogen sei. Auch in den Entscheidungen des BSG kämen diese Erwägungen zum Ausdruck (BSG 22, 10; 24, 343; Urteil vom 24. August 1966 - 2 RU 175/65).
Die Beklagte beantragt,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des LSG für zutreffend und meint, an der Rechtsprechung, daß die in einem Einfamilienhaus eingebaute Tiefgarage nach der Verkehrsauffassung als Teil des häuslichen Lebensbereichs anzusehen sei und deshalb dort kein Versicherungsschutz bestehe, sollte nicht mehr festgehalten werden, und zwar in den Fällen, in denen die Garage nur von außen - nach dem Verlassen des Wohnhauses - erreicht werden könne.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Zutreffend hat das LSG angenommen, daß der Kläger, der zur Unfallzeit mit einem Pkw aus seiner Garage hinaus zur Arbeitsstätte fahren wollte, unter Versicherungsschutz gestanden hat.
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt von der Auslegung des § 550 Abs. 1 RVO ab, der mit dem bis zum 31. Dezember 1973 geltenden § 550 Satz 1 RVO identisch ist (vgl. § 15 Nr. 1 des Siebzehnten Rentenanpassungsgesetzes vom 1. April 1974 - BGBl I 821). Hiernach gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats bildet die Grenze zwischen dem noch nicht oder nicht mehr dem Versicherungsschutz unterliegenden häuslichen Bereich und dem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit, sofern der Weg von der Wohnung des Versicherten aus angetreten wird oder dort endet, die Außentür des vom Versicherten bewohnten Gebäudes, Es macht keinen Unterschied, ob das vom Versicherten bewohnte Gebäude ein städtisches Mehrfamilienhaus mit abgeschlossenen Einzelwohnungen (BSG 2, 239), ein Zweifamilienhaus mit separaten Wohnungseingängen auf eingezäuntem Grundstück (Urteil vom 29. Januar 1965 - 2 RU 21/64) oder ein Einfamilienhaus auf eingezäuntem Grundstück (BG 1965, 314) ist. Bei dieser Abgrenzung hat der erkennende Senat sich von dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit leiten lassen, mit dem es nicht zu vereinbaren ist, den Versicherungsschutz von beliebig zu variierenden Verschiedenheiten des einzelnen Falles abhängig zu machen. Versicherungsschutz besteht somit auch auf dem Teil des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit, den der Versicherte innerhalb des eingezäunten Grundstücks eines ihm gehörenden Ein- oder Zweifamilienhauses zurücklegt, zumal da es nicht Zweck des § 550 Abs. 1 RVO ist, Versicherungsschutz nur für die dem Versicherten im Zusammenhang mit seiner Berufstätigkeit drohenden Verkehrsgefahren zu gewähren (BSG 2, 239, 241) und sich auch außerhalb des Wohngebäudes eine klare, den Erfordernissen der Rechtssicherheit entsprechende Abgrenzung des für Beginn oder Ende des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit maßgebenden häuslichen Bereichs nicht finden läßt (Urteil vom 29. Januar 1965 - 2 RU 21/64). Den vorstehend genannten Entscheidungen des erkennenden Senats lagen Sachverhalte zugrunde, die dadurch gekennzeichnet sind, daß die Versicherten für die Zurücklegung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit kein eigenes Fahrzeug (Kraftfahrzeug, Fahrrad) als Transportmittel verwendeten.
Im Grundsatz gilt aber auch dann nichts anderes, wenn der Versicherte für die Zurücklegung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit ein solches Transportmittel benutzt. Der erkennende Senat hat in Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung den Versicherungsschutz bereits für den Teil des Weges bejaht, den der Versicherte auf umzäuntem Ein- oder Zweifamilienhausgrundstück zurücklegt, nachdem er das für den Weg zu benutzende Fahrzeug (Moped, Kraftwagen) aus dem Abstellraum (Keller, Garage) herausgeholt hat (BSG 22, 240; Urteil vom 24. August 1966 - 2 RU 175/65). Gleiches würde auch für den Weg von dem Ort der Tätigkeit anzunehmen sein, bevor der Raum betreten wird, in dem das benutzte Fahrzeug abgestellt werden soll. Der erkennende Senat hat dies jedoch noch nicht entschieden (vgl. BSG 22, 10, 12). Die Grenze zwischen dem noch nicht oder nicht mehr dem Versicherungsschutz unterliegenden häuslichen Bereich und dem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit bildet hier jedoch entgegen der Ansicht der Beklagten nicht schon der für das Abstellen des Fahrzeuges vorgesehene Raum, sondern in der Regel ebenfalls die Außentür des Wohngebäudes. Der erkennende Senat hat dies in seiner neueren Rechtsprechung schon mehrfach herausgestellt und zur Begründung darauf hingewiesen, daß eine zum Abstellen eines Kraftfahrzeuges benutzte Garage nicht zum unversicherten häuslichen Bereich gehört, mag die Garage sich im Kellergeschoß des Wohnhauses befinden, aber von dort nicht direkt, sondern erst nach Durchschreiten der Außentür des Wohngebäudes zu erreichen sein oder vom Wohnhaus getrennt liegen (BSG 37, 36, 38; SozR Nr. 4 zu § 550 RVO). Damit hat die insbesondere von dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit geprägte Rechtsprechung des erkennenden Senats an den früher verwendeten Abgrenzungskriterien der baulichen Verbundenheit der Garage mit dem Wohngebäude (siehe die Ausführungen in SozR Nr. 4 zu § 550 RVO in Bezug auf BSG 24, 243) oder der Nutzungs- und Verfügungsmöglichkeit des Versicherten über die zum Abstellen des Fahrzeuges genutzten Räumlichkeiten (BSG 22, 10, 12; BG 1965, 114) nicht mehr festgehalten. Dies schließt nunmehr in aller Regel auch aus, in dem vom Wohngebäude nicht unmittelbar zugänglichen Raum zum Abstellen des für den Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit als Transportmittel benutzten Fahrzeuges auch nur einen Teilbereich eines gespaltenen häuslichen Bereichs zu sehen (so noch im Urteil vom 29. Januar 1965 - 2 RU 21/64 - in Bezug auf BSG 22, 10; zum häuslichen Teilbereich vgl. BSG 19, 257). Dabei wird nicht verkannt, daß Garagen und ähnliche zum Abstellen von Fahrzeugen benutzte Räumlichkeiten, auch wenn sie zu dem Wohngebäude des Versicherten keinen unmittelbaren Zugang haben, zumindest auf eingezäunten Ein- und Zweifamilienhausgrundstücken, der persönlichen (privaten) Lebenssphäre des Versicherten zugerechnet werden könnten, wie dies auch für das eingezäunte Grundstück selbst möglich wäre. Da sich jedoch innerhalb dieser Lebenssphäre keine klare dem Erfordernis der Rechtssicherheit und dem Zweck des § 550 Abs. 1 RVO entsprechende Abgrenzung für den Beginn und das Ende des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit finden läßt, ist es gerechtfertigt, diese Lebenssphäre nicht dem durch das Wohnen des Versicherten gekennzeichneten "häuslichen Bereich" zuzurechnen; die Grenze bildet in der Regel auch hier die Außentür des vom Versicherten bewohnten Gebäudes (vgl. BSG 2, 239; Urteil vom 29. Januar 1965 - 2 RU 21/64 -; BSG 22, 240; BG 1965, 314; Urteil vom 24. August 1966 - 2 RU 175/60; SozR Nr. 4 zu § 550 RVO).
Für den hier zu entscheidenden Fall bedeutet dies, daß der Kläger im Unfallzeitpunkt bereits unter Versicherungsschutz gestanden hat. Entscheidend hierfür ist, daß die im rückwärtigen Hausbereich gelegene Garage keinen Zugang zum Wohngebäude hat und daher erst nach dem Durchschreiten einer Außentür des Wohngebäudes erreicht werden kann. Für die rechtliche Beurteilung des Falles ist es dagegen nicht erheblich, ob es sich bei dem Wohngebäude um ein Zweifamilienhaus handelt oder - wie die Revision abweichend von den Feststellungen des LSG meint - um ein Einfamilienhaus. Da die Garage hier nicht zum unversicherten häuslichen Bereich gehört, ist es ebenfalls unerheblich, ob der Unfall sich noch im Innern der Garage oder bereits außerhalb ereignet hat.
Hiernach ist die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen