Leitsatz (amtlich)
Die Feststellung, der Beschädigte hätte ohne die Schädigung wahrscheinlich eine bestimmte Berufsstellung erreicht, ist nicht schon dann rechtswidrig, wenn bei erneuter Beurteilung ein solcher Berufsweg nicht wahrscheinlich ist; er müßte als unmöglich zu beurteilen sein (Anschluß an BSG vom 24.11.1988 9/9a RV 8/87 = SozR 1300 § 45 Nr 41).
Orientierungssatz
Rechtsverbindlichkeit der MdE-Erhöhung wegen besonderen beruflichen Betroffenseins und des Einstufungsgerüsts - Wahrscheinlichkeit - hypothetische Beurteilung - Rechtswidrigkeit - Vertrauensschutz - Rücknahme eines Verwaltungsaktes - Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes - Prognose eines Berufsweges ohne Schädigungsfolgen.
1. Mit der Bewilligung von Berufsschadensausgleich ist das im Verfügungssatz beschriebene "Einstufungsgerüst" für das maßgebende Vergleichseinkommen für die Zukunft rechtsverbindlich festgestellt worden (ständige Rechtsprechung zuletzt BSG vom 13.5.1987 9a RV 12/85 = SozR 3100 § 30 Nr 69). Die nachträgliche Erhöhung der MdE um 10 vH wegen besonderen beruflichen Betroffenseins (§ 30 Abs 2 BVG) im Verfügungssatz eines Zugunsten- und Abhilfebescheides ist ebenfalls der Rechtsverbindlichkeit fähig.
2. Die Rücknahme einer Leistungsbewilligung bedeutet einen Eingriff in eine bestehende Rechtsposition, dessen Zulässigkeit von besonderen Voraussetzungen abhängt. Auf Beweiserleichterung kann sich die Verwaltung dabei nicht berufen. Die Möglichkeit einer Rechtmäßigkeit muß auszuschließen sein. Das gilt nicht nur als Voraussetzung für die Rücknahme eines Verwaltungsaktes nach § 45 SGB 10, sondern auch dann, wenn ein Verwaltungsakt wegen Fristversäumnis nicht mehr zurückgenommen werden kann und die Rechtswidrigkeit begrenzt nachteilig für den Berechtigten nach § 48 Abs 3 SGB 10 wirken soll.
3. Unter dem Gesichtspunkt des Vertrauenschutzes, der freie Rücknehmbarkeit unrichtiger begünstigender Verwaltungsakte einschränkt, ist es nicht vertretbar, danach zu unterscheiden, ob die Verwaltung das Vorliegen bestimmter Leistungsvoraussetzungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (sogenannter Vollbeweis) oder nur mit überwiegender Wahrscheinlichkeit angenommen hat, und im einzelnen Fall für die Rücknahme den Nachweis der Unrichtigkeit zu verlangen, im anderen Fall schon die Wahrscheinlichkeit oder gar nur die Möglichkeit der Unrichtigkeit genügen zu lassen.
4. Bei der Prognose (Voraussage), ein Beschädigter hätte "ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich" einer bestimmten Berufs- oder Wirtschaftsgruppe angehört, handelt es sich um einen bloß hypothetischen, das heißt gedachten Berufsweg für den Fall, daß die Schädigung nicht stattgefunden hätte (vgl BSG vom 8.8.1984 9a RV 43/83 = BSGE 57, 103, 104 = SozR 3100 § 30 Nr 62). Dieser - gedachte - Ablauf stimmt nicht mit der Wirklichkeit überein und kann deshalb auch nicht durch die Wirklichkeit, sondern allein durch die Fehlerhaftigkeit der Schlußfolgerung widerlegt werden.
5. Zum Begriff "Wahrscheinlichkeit" iVm Ansprüchen auf Berufsschadensausgleich.
6. Eine Beweisführungslast gibt es im sozialrechtlichen Verwaltungs- und im Verwaltungsgerichtsverfahren nicht (vgl BSG vom 1.3.1989 2 RU 42/88).
Normenkette
BVG § 30 Abs 3; BVG § 30 Abs 4; SGB 10 § 45 Abs 1, § 48 Abs 3, § 44 Abs 1 S 1; BVG § 30 Abs 5 S 1; BVG § 30 Abs 2
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 11.10.1988; Aktenzeichen L 15 V 23/87) |
SG München (Entscheidung vom 11.12.1986; Aktenzeichen S 39 V 163/84) |
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft allein noch die Voraussetzungen einer "Abschmelzung" von Versorgungsbezügen.
Der Kläger bezieht nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) Beschädigtengrundrente entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 vH, wovon 10 vH wegen besonderen beruflichen Betroffenseins (§ 30 Abs 2 BVG) festgestellt sind, sowie einen Berufsschadensausgleich entsprechend einem Vergleichseinkommen der Leistungsgruppe II der technischen Angestellten seit Dezember 1965. Für beide Leistungen ging die Versorgungsverwaltung davon aus, daß der Kläger ohne die kriegsdienstbedingte Schädigung wahrscheinlich Flugzeugführer im Zivildienst geworden wäre (Bescheide vom 12. September 1968 und 30. Oktober 1969, Widerspruchsbescheid vom 17. April 1970; Klage zurückgenommen). Der Antrag des Klägers, die MdE wegen außergewöhnlicher Berufsbetroffenheit höher zu bewerten und für den Berufsschadensausgleich das Vergleichseinkommen nach der Besoldungsgruppe A 15 Bundesbesoldungsgesetz (BBesG) festzustellen, ist erfolglos geblieben (Bescheid vom 23. April 1981, Widerspruchsbescheid vom 19. Januar 1984). Der anschließende Rechtsstreit ist insoweit rechtskräftig beendet (Urteil des Sozialgerichts - SG - vom 11. Dezember 1986 und des Landessozialgerichts - LSG - vom 11. Oktober 1988; Revision des Klägers zurückgenommen). Während des Vorverfahrens stellte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 3. Januar 1984 fest, die Bescheide über die Gewährung von Berufsschadensausgleich und über die Höherbewertung der MdE um 10 vH wegen besonderen beruflichen Betroffenseins seien rechtswidrig, weil der Kläger ohne die Schädigung nicht wahrscheinlich ziviler Flugzeugführer geworden wäre; sie könnten aber wegen Fristablaufs nicht mehr nach § 45 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) zurückgenommen werden. Deshalb werde bei zukünftig zugunsten des Klägers eintretenden Änderungen die Rentenleistung nur insoweit erhöht, als dies bei richtiger Beurteilung gerechtfertigt wäre. Auf die Berufung des Klägers hat das LSG den Bescheid vom 3. Januar 1984 aufgehoben. Entgegen der darin für § 48 Abs 3 SGB X getroffenen Feststellung sind nach Ansicht des Berufungsgerichts die rechtsverbindlich bleibenden Bescheide nicht rechtswidrig iS des § 45 Abs 1 SGB X; denn der als wahrscheinlich beurteilte Berufsverlauf sei immerhin möglich.
Der Beklagte rügt mit der - vom LSG zugelassenen - Revision eine Verletzung des § 48 Abs 3 iVm § 45 Abs 1 SGB X. Wenn es nicht wahrscheinlich ist, daß der Kläger ohne die Schädigung Flugzeugführer der zivilen Luftfahrt geworden wäre, wie das LSG in dem rechtskräftig gewordenen Teil seines Urteils festgestellt habe, seien die entgegenstehenden Entscheidungen unrichtig iS des § 45 SGB X. Hier sei keine "qualifizierte Rechtswidrigkeit" erforderlich.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG zu ändern und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen, soweit diese Entscheidungen den Bescheid vom 3. Januar 1984 betreffen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung vertritt als Vertreter der Beigeladenen die Auffassung, Vertrauens- und Bestandsschutz kämen nur einem Zahlbetrag, nicht aber den einzelnen Elementen eines Verwaltungsaktes zu. Er schließt sich im übrigen der Revisionsbegründung an.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.
Das LSG hat die Feststellung der Rechtswidrigkeit, die für spätere "Abschmelzungen" oder "Einfrierungen" der Grundrente und des Berufsschadensausgleichs (dazu BSGE 63, 259, 261 f = SozR 1300 § 48 Nr 19) nach § 48 Abs 3 SGB X (vom 18. August 1980 - BGBl I 1469 -) erforderlich ist (BSGE 63, 266), mit Recht aufgehoben. Entgegen dem ersten Ausspruch des angefochtenen Bescheides ist die rechtsverbindliche, wegen Fristversäumnis (§ 45 Abs 3 SGB X) nicht mehr zurücknehmbare Entscheidung, daß dem Kläger Beschädigtengrundrente nach einem gemäß § 30 Abs 2 BVG wegen besonderen beruflichen Betroffenseins um 10 vH höher bewerteten Grad der MdE (§ 31 Abs 1 BVG) und ein Berufsschadensausgleich entsprechend dem Vergleichseinkommen für einen zivilen Flugzeugführer (§ 30 Abs 3 bis 5 BVG) zustehen nicht rechtswidrig iS des § 45 Abs 1 SGB X. Sie kann deshalb nicht bei späteren Änderungen iS des § 48 Abs 1 SGB X die gebotene Anpassung gemäß § 48 Abs 3 SGB X einschränken.
Im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes vom 12. September 1968 (§ 31 Satz 1 und § 45 Abs 1 SGB X; damals § 22 Abs 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung - KOVVfG - vom 2. Mai 1955 - BGBl I 202 -), der rechtsverbindlich werden konnte (§ 77 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), ist entschieden worden, daß dem Kläger Berufsschadensausgleich in bestimmter Höhe zusteht und daß der maßgebende schädigungsbedingte Einkommensverlust (§ 30 Abs 3 BVG idF des 3. Neuordnungsgesetzes vom 28. Dezember 1966 - BGBl I 750 -; allerdings in dem Formular entsprechend dem Wortlaut des § 30 Abs 3 idF des 2. Neuordnungsgesetzes vom 21. Februar 1964 - BGBl I 585 - bezeichnet) entsprechend dem zum Vergleich heranzuziehenden Durchschnittseinkommen der Leistungsgruppe II der technischen Angestellten in der ohne die Schädigung wahrscheinlich erreichten Berufsgruppe der zivilen Flugzeugführer zu berechnen ist (§ 30 Abs 4 Satz 1 und 2 BVG aF). Auch das derart beschriebene "Einstufungsgerüst" für das maßgebende Vergleichseinkommen ist damit für die Zukunft rechtsverbindlich festgestellt (st Rspr des Senats, zB BSGE 39, 14, 16 ff = SozR 3640 § 4 Nr 2; BSGE 42, 283 = SozR 3100 § 40a Nr 4; SozR 3641 § 15 Nr 1; BSGE 62, 1, 2 = SozR 3100 § 30 Nr 69). Der Zugunsten- und Abhilfebescheid vom 30. Oktober 1969 hat in seinem Verfügungssatz die MdE um 10 vH wegen besonderen beruflichen Betroffenseins (§ 30 Abs 2 BVG) erhöht. Auch diese Entscheidung ist der Rechtsverbindlichkeit fähig, wie schon die Vorschrift über die Anrechnung auf den Berufsschadensausgleich (§ 30 Abs 5 BVG 1966; jetzt § 30 Abs 8 Satz 1 BVG) erkennen läßt und was diese voraussetzt (BSGE 52, 6, 8 = SozR 3100 § 30 Nr 53). Beide Entscheidungen beruhen auf der von der Versorgungsverwaltung angenommenen Tatsache, daß der Kläger ohne die Schädigung ziviler Flugzeugführer geworden wäre, was von der Rechtsverbindlichkeit mitumfaßt wird.
Die genannten Feststellungen wären ua dann rechtswidrig, wenn diese zugrundegelegte Tatsache falsch (dh, ein "unrichtiger Sachverhalt" - so § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X -) wäre. Das ist nach Überzeugung des LSG nicht der Fall. Dies ist eine tatsächliche Feststellung, an die das Revisionsgericht gebunden ist (§ 163 SGG). Das Berufungsgericht hat sich nur davon überzeugen können, daß eine berufliche Entwicklung zum Flugzeugführer ohne die Schädigung nicht wahrscheinlich wäre. Damit steht fest, daß bei einer erstmaligen Prüfung die beiden Leistungen dem Kläger nicht zuzuerkennen wären.
Indes gilt eine höhere Anforderung an den Erkenntnis- und Gewißheitsgrad für die umstrittene Rechtswidrigkeit einer rechtsverbindlichen Entscheidung, die um der rechtsstaatlichen Rechtssicherheitswillen bestandskräftig ist. Die angefochtene Feststellung ist nicht schon dann zulässig, wenn die Rechtmäßigkeit des rechtsverbindlichen Verwaltungsaktes, hier seine tatsächliche Voraussetzung, fraglich ist. Unabhängig von den Beweisanforderungen, die bei seinem Erlaß erfüllt sein mußten, darf seine Rechtswidrigkeit allein dann festgestellt werden, wenn bei Verwertung aller Erkenntnismöglichkeiten die gesicherte Überzeugung besteht, daß er rechtswidrig ist, dh, daß seine tatsächliche Voraussetzung nicht zutreffen kann (BSG SozR 1300 § 45 Nr 41). Die Rücknahme einer Leistungsbewilligung ist nicht mit der (erstmaligen) Ablehnung einer Leistung gleichzustellen. Sie bedeutet vielmehr einen Eingriff in eine bestehende Rechtsposition, dessen Zulässigkeit von besonderen Voraussetzungen abhängt. Auf Beweiserleichterung kann sich die Verwaltung dabei nicht berufen. Die Möglichkeit einer Rechtmäßigkeit muß auszuschließen sein (BSG aaO). Das gilt nicht nur als Voraussetzung für die Rücknahme eines Verwaltungsaktes nach § 45 SGB X, sondern auch dann, wenn ein Verwaltungsakt wegen Fristversäumnis nicht mehr zurückgenommen werden kann und die Rechtswidrigkeit nur begrenzt nachteilig für den Berechtigten nach § 48 Abs 3 SGB X wirken soll.
§ 45 SGB X läßt die Rücknahme eines Verwaltungsakts nicht schon dann zu, wenn die Verwaltung unter sonst gleichen Voraussetzungen eine (erstmalige) Leistungsbewilligung ablehnen durfte. Sie darf einen Verwaltungsakt insbesondere dann nicht zurücknehmen, wenn im Nachhinein die Leistungsvoraussetzungen nicht mehr als erwiesen, sondern nur noch als möglich erscheinen - was zur Ablehnung der (erstmaligen) Leistung berechtigt hätte. Das Gesetz verlangt vielmehr, daß nachträglich feststeht, dh, erwiesen ist, daß eine oder mehrere Leistungsvoraussetzungen gefehlt haben. Die Verwaltung trägt dafür die volle Beweislast.
Nichts anderes gilt, wenn die Leistung unter bestimmten Beweiserleichterungen gewährt werden darf. Insbesondere trifft es nicht zu, daß Beweiserleichterungen auf der einen Seite (bei der Leistungsbewilligung) auch solchen auf der anderen Seite (bei der Leistungsentziehung) entsprechen mußten. Das mag allenfalls für solche Leistungen gelten, die einstweiligen bzw vorläufigen Charakter haben. Hier ergibt sich die erleichterte Rücknehmbarkeit aus dem Wesen der Leistung. Der Empfänger kann nur unter dem ausgesprochenen Vorbehalt auf den Bestand der Leistung vertrauen. Als Beispiel kann hier die Regelung über die vorläufige Rente in der gesetzlichen Unfallversicherung gelten (§ 1585 Reichsversicherungsordnung -RVO-). Diese erlaubt bei Ungewißheit über die Höhe einer Dauerrente die Bewilligung einer vorläufigen Rente, ohne daß damit die Verwaltung hinsichtlich der Höhe der Dauerrente gebunden wird (§ 1585 Abs 2 Satz 2 RVO), sie ohne Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse auch versagen kann, weil ein rentenberechtigender Grad der MdE nicht erreicht wird. Damit ist aber das Zuerkennen einer Leistung unter einer vom Gesetz zugelassenen Beweiserleichterung nicht vergleichbar. Hier handelt es sich um eine Leistung ohne jeden Vorbehalt. Der Empfänger vermag in der Regel auch nicht zu erkennen, mit welchem Grad von Gewißheit bzw Wahrscheinlichkeit die Verwaltung das Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen angenommen hat. Unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes, der die freie Rücknehmbarkeit unrichtiger begünstigender Verwaltungsakte einschränkt, ist es nicht vertretbar, danach zu unterscheiden, ob die Verwaltung das Vorliegen bestimmter Leistungsvoraussetzungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (sogenannter Vollbeweis) oder nur mit einfacher Wahrscheinlichkeit angenommen hat, und im ersten Fall für die Rücknahme den Nachweis der Unrichtigkeit zu verlangen, im zweiten Fall aber schon die Wahrscheinlichkeit oder gar nur die Möglichkeit der Unrichtigkeit genügen zu lassen. Andernfalls könnte schon ein geringer Unterschied im Grade der Wahrscheinlichkeit dazu führen, eine einmal bewilligte Leistung zu entziehen, ohne daß dem Berechtigten die Unsicherheit seiner Rechtsposition erkennbar wäre. Denn aus seiner Sicht hält er in der Regel die Leistungsvoraussetzungen für bewiesen und nicht nur wahrscheinlich gemacht. Bei allen ohne Vorbehalt zuerkannten Leistungen hat zu gelten, daß - neben sonstigen Voraussetzungen - eine Rücknahme nicht schon zulässig ist, wenn die Beweislage anders zu beurteilen ist, sondern wenn feststeht, daß tatsächliche Leistungsvoraussetzungen gefehlt haben.
Dies hat der Senat in dem genannten Urteil für die Rechtswidrigkeit der Anerkennung einer Schädigungsfolge nach § 1 Abs 1 BVG entschieden, wenn streitig ist, ob die tatsächliche Grundlage falsch war, daß eine Gesundheitsstörung nur "wahrscheinlich" durch eine dienst- oder kriegsbedingte Einwirkung verursacht worden ist (§ 1 Abs 3 Satz 1 BVG). Gleiches gilt für die gemäß § 30 Abs 4 Satz 1 BVG (jetzt § 30 Abs 5 Satz 1 BVG idF seit dem 11. AnpG-KoV vom 20. November 1981 - BGBl I 1199 -) vorzunehmende Prognose (Voraussage), ein Beschädigter hätte "ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich" einer bestimmten Berufs- oder Wirtschaftsgruppe angehört. Beide Größen dienen zur Bestimmung eines zurechenbaren Schadens (für das Bürgerliche Recht: §§ 249, 252 Bürgerliches Gesetzbuch; Medicus, Schuldrecht I Allgemeiner Teil, 4. Aufl 1988, S 261 f). Sie unterscheiden sich indes in folgendem: Im ersten Fall wird die wirkliche Verursachung einer Gesundheitsstörung durch eine in der Vergangenheit liegenden Schädigung - als wahrscheinlich - beurteilt. Im zweiten Fall, um den es hier geht, wird auf Grund gegebener Tatsachen - auch im Unterschied zur Prognose über eine erforderliche und eignungsentsprechende Berufsförderung nach § 26 BVG - ein bloß hypothetischer, dh, gedachter Berufsweg für den Fall vorausgesagt, daß die Schädigung nicht stattgefunden hätte (BSGE 57, 103, 104 = SozR 3100 § 30 Nr 62). Dieser - gedachte - Ablauf stimmt nicht mit der Wirklichkeit überein und kann deshalb auch nicht durch die Wirklichkeit, sondern allein durch die Fehlerhaftigkeit der Schlußfolgerung widerlegt werden.
"Wahrscheinlich" bedeutet in beiden Fällen, daß mehr für als gegen die anzunehmende Tatsache spricht (BSGE 60, 58 f; BSG, 8. Oktober 1987 - 9a RV 52/86 -). Diese Wahrscheinlichkeit betrifft allein die - abgeschwächte - Beweisanforderung im Erkenntnisvorgang der Verwaltung (in einem Prozeß auch der Gerichte). Während es sich bei dem Ausreichen der Wahrscheinlichkeit eines (realen) Ursachenzusammenhangs aber um eine gegenüber dem vollen Beweis vom Gesetz eingeräumte besondere Beweiserleichterung handelt, weil sonst wegen der auf vielen Gebieten fehlenden medizinischen Erkenntnisse über den genauen Ursachenzusammenhang Entschädigungsansprüche schon an der Beweislast scheitern müßten, kann ein hypothetischer Geschehensablauf von vornherein nur durch Wahrscheinlichkeitsüberlegungen dargetan werden. Würde dies zum Nachweis nicht ausreichen, ließen sich Ansprüche auf Berufsschadensausgleich nie begründen. Von einer Beweiserleichterung läßt sich hier gleichwohl sprechen, weil das Gesetz durch den Begriff "wahrscheinlich" im Gegensatz zu "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" zum Ausdruck bringt, daß die Beweisanforderungen gegenüber sonstigen Feststellungen hier weniger streng sein sollen. Deshalb gilt bei späterem Zweifel an der Richtigkeit der hypothetischen Beurteilung nichts anderes als für den vom Senat entschiedenen Fall, daß der medizinische Ursachenzusammenhang später als nicht wahrscheinlich beurteilt wird.
Wenn das Versorgungsamt als Beweiswürdigungsergebnis zu der Erkenntnis gelangt ist, ein Beschädigter hätte eine bestimmte Berufsgruppe ohne die Schädigung erreicht, und dies anerkannt hat, bleibt immerhin die Möglichkeit offen, daß die Berufsentwicklung anders verlaufen, hier also, daß der Kläger nicht ziviler Flugzeugführer geworden wäre. Wenn es hingegen - nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand - nicht als wahrscheinlich anzusehen ist, daß der Kläger ohne die Schädigung diese Berufsstellung erreicht hätte, bleibt nach wie vor die Möglichkeit offen, daß ihm dies gelungen wäre, ebenso wie das Gegenteil, dieses nunmehr mit einem größeren Gewißheitsgrad. Insoweit hat sich gegenüber der Sachlage, die bei der rechtsverbindlichen Feststellung zugrundegelegt wurde, nichts rechtserheblich geändert. Lediglich hatte sich damals die Möglichkeit, diesem Beruf ohne die Schädigung anzugehören, bis zum Erkenntnisgrad der Wahrscheinlichkeit gesteigert. Dadurch, daß dieser Erkenntnisgrad unterschritten wird, ist die frühere Tatsachenbewertung, die den rechtsverbindlichen Verwaltungsakt mitgestaltet hat, noch nicht falsch geworden. Das könnte erst und nur dann angenommen werden, wenn nunmehr die Möglichkeit, ohne die Schädigung Flugzeugführer zu werden, als nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen oder so gering anzusehen wäre, daß sie so gut wie ausgeschlossen ist. Das wäre ein höherer Gewißheitsgrad als bei einer Neubewertung, daß es nicht wahrscheinlich wäre.
Was der Beklagte unter Anführung von bürgerlich-rechtlicher Kommentierung und Rechtsprechung (ua BGHZ 54, 45, 55) gegen die rechtliche Beurteilung durch das LSG vorgebracht hat, betrifft eine Erleichterung für die Beweisführungslast eines Klägers im Zivilprozeß; eine solche gibt es im sozialrechtlichen Verwaltungs- und im Verwaltungsgerichtsverfahren nicht (BSG, 1. März 1989 - 2 RU 42/88 -).
Eine "Waffengleichheit" für Fälle der Rücknahme zugunsten oder zum Nachteil des Berechtigten (§§ 44 oder 45, 48 Abs 3 SGB X), worauf sich der Beklagte beruft, muß deshalb nicht zu einem anderen Ergebnis führen, weil der Konflikt zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit nicht stets in gleicher Weise für den Sozialleistungsträger und für den Bürger zu lösen ist. Ein nicht begünstigender Bescheid, in dem das Erreichen einer bestimmten Berufsstellung als nicht wahrscheinlich beurteilt worden ist, muß nach § 44 SGB X allerdings schon dann als unrichtig zurückgenommen werden, wenn ein entsprechender hypothetischer Berufsverlauf doch wahrscheinlich ist; er braucht nicht gewiß zu sein. Dieser Unterschied zur Voraussetzung für die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 45 SGB X liegt darin begründet, daß für die Aufhebung eines eine Leistung ablehnenden Bescheides nur die Leistungsvoraussetzungen erfüllt sein müssen, die sich hier mit der Wahrscheinlichkeit begnügen. Die Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsaktes ist hingegen ein Eingriff, der nur erlaubt ist, wenn seine Voraussetzungen erwiesenermaßen vorliegen. Dem Beklagten erscheint dies irrtümlich als Unterschied zwischen "qualifizierter" und "einfacher" Rechtswidrigkeit.
Das Beweisergebnis, daß die Unrichtigkeit der rechtsverbindlichen Entscheidungen nicht erwiesen ist, geht zu Lasten der Verwaltung, deren angefochtene Feststellung der Rechtswidrigkeit den Kläger in Zukunft benachteiligen soll (st Rspr des BSG, zB BSGE 59, 235, 239 = SozR 2200 § 1395 Nr 16).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen