Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz bei gemischten Tätigkeiten. Erstbeschaffung von Werkzeug durch Auszubildenden
Leitsatz (redaktionell)
1. Tätigkeiten, die sowohl eigenwirtschaftlichen Zwecken als auch unternehmerischen Interessen dienen, stehen unter Unfallversicherungsschutz, wenn der dem Unternehmen dienende Teil der Tätigkeit nicht nur ein Nebenzweck, sondern ein wesentlicher Anlaß für die "gemischte Tätigkeit" ist.
2. Die Beschaffung von Arbeitsgerät zur Ablegung der Ausbildungsprüfung während einer ansonsten eigenwirtschaftlichen Zwecken dienenden Fahrt kann als wesentlicher Anlaß einer "gemischten Tätigkeit" Unfallversicherungsschutz begründen, wenn die Beschaffung des Arbeitsgerätes den Interessen des ausbildenden Unternehmens entspricht und der Auszubildende die Beschaffung auch unabhängig von der eigenwirtschaftlichen Zwecken dienenden Fahrt vorgenommen hätte.
Orientierungssatz
1. Versicherungsschutz nach § 548 RVO ist gegeben, wenn die Zurücklegung des Weges der Beschaffung und Fertigstellung von Werkzeug dient, das für die Ausbildung im Ausbildungsbetrieb verwendet werden soll (vgl BSG Urteil 30.9.1980 2 RU 40/80 = SozR 2200 § 549 Nr 7).
2. Der Begriff der Erneuerung iS von § 549 RVO setzt voraus, daß etwas gleichartiges Verbrauchtes oder Abgenutztes vorhanden war an dessen Stelle das Neue oder Erneuerte treten soll; eine Erneuerung von Arbeitsgeräten iS des § 549 RVO liegt somit nicht vor, wenn ein Versicherter sich zum Gebrauch im Unternehmen ein Arbeitsgerät anschafft, ohne vorher ein gleichartiges Arbeitsgerät im Unternehmen benutzt zu haben (vgl BSG 31.3.1981 2 RU 29/79 = BSGE 51, 257, 258).
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1, § 549
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 11.12.1985; Aktenzeichen L 3 U 135/84) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 03.07.1984; Aktenzeichen S 10 U 160/83) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger bei seinem Unfall am 24. März 1975 unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand. Die Beklagte, das Sozialgericht (SG) und das Landessozialgericht (LSG) haben dies verneint.
Der am 13. Juni 1957 geborene Kläger war seit August 1972 Auszubildender im Fliesenlegerhandwerk bei der Fa. F. in A.. Am Montag, dem 24. März 1975 fuhr er zwischen 15.00 und 16.00 Uhr nach Rückkehr von der Baustelle mit seinem Moped von der Wohnung seiner Eltern in W. nach N.. Dort erlitt er auf der Hermannstraße einen Verkehrsunfall, durch den er sich einen Schädelbruch und Beinbrüche zuzog. Die Unfallstelle liegt auf der Strecke, die der Kläger fast ausnahmslos an jedem Arbeitstag befuhr, um seine damalige Freundin von deren Arbeitsstelle abzuholen. Im Dezember 1981 machte der Kläger der Beklagten gegenüber geltend, er sei im Unfallzeitpunkt noch nicht auf dem Weg zu seiner Freundin gewesen, habe vielmehr in die hinter der Unfallstelle nach links abbiegende Schloßstraße zur Firma B. fahren wollen, um sich Ersatz für eine an demselben Tag abgebrochene Spachtel, eine neue Meßeinrichtung ("Auge") für seine Wasserwaage und ein Maßlineal sowie ein Schneidrad für eine von seinem Onkel angefertigte Fliesenschneidemaschine zu kaufen, die er im Ausbildungsbetrieb benötigt habe.
Die Beklagte lehnte eine Entschädigung ab, weil für Erstbeschaffungen von Werkzeugteilen kein Versicherungsschutz bestehe und die Erneuerungen der Spachtel und des Auges für die Wasserwaage im Vergleich zu der privaten Betätigung, dem Abholen der Freundin, nur ein unwesentlicher Nebenzweck der Fahrt gewesen sei (Bescheid vom 5. August 1982). Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte zurück, weil nicht mit Gewißheit bewiesen sei, daß sich der Unfall bei einer versicherten Tätigkeit ereignet habe (Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 1983).
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 3. Juli 1984). Selbst wenn man der Darstellung des Klägers folge, daß er sich auch Ersatz für beschädigte Werkzeuge habe beschaffen wollen (s § 549 der Reichsversicherungsordnung -RVO-), habe kein Versicherungsschutz bestanden, weil der beabsichtigte Werkzeugkauf nur bei Gelegenheit des Abholens der Freundin hätte durchgeführt werden sollen. Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 11. Dezember 1985). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Nach § 549 RVO stehe die Erneuerung, also die Ersatzbeschaffung von Arbeitsgeräten, nicht jedoch die Erstbeschaffung unter Versicherungsschutz. Es sei nicht bewiesen, daß der Kläger im Unfallzeitpunkt bereits eine eigene Spachtel und eine eigene Wasserwaage besessen habe. Die Fliesenschneidemaschine könne ebenfalls nicht Gegenstand einer Erneuerung iS des § 549 RVO gewesen sein. Sie habe sich allenfalls in der Erprobung, nicht aber in einer aufbrauchenden Benutzung befunden, weil sie wegen der noch fehlenden Maßeinteilung und des für den praktischen Gebrauch nicht geeigneten Schneidrades noch nicht fertig gewesen sei. Das LSG hat die Revision wegen der Frage zugelassen, ob es einen Sinn ergebe, eine nicht zufriedenstellende Erprobung der verbrauchenden Benutzung eines Werkzeuges gleichzustellen.
Der Kläger hat Revision eingelegt und macht zur Begründung geltend: Das LSG habe zu Unrecht nur die Voraussetzungen des § 549 RVO geprüft. Bei der Erstbeschaffung von Arbeitsgeräten, die der Arbeitgeber bereitzustellen habe (zB Baumaschinen, Bagger, Kraftfahrzeuge), stehe der Käufer und Abholer nach § 548 RVO unter Versicherungsschutz. Das gelte ebenfalls für die Erstanschaffung von Werkzeugen für Auszubildende, auch wenn der Weg - wie hier - außerhalb der betrieblichen Arbeitszeit zurückgelegt werde. Der Ausbildende habe nach § 6 Abs 1 Nr 3 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) vom 14. August 1969 (BGBl I 1112) dem Auszubildenden kostenlos die Ausbildungsmittel, insbesondere Werkzeuge und Werkstoffe, zur Verfügung zu stellen, die zur Berufsausbildung und zum Ablegen von Zwischen- und Abschlußprüfungen erforderlich seien. Diese Verpflichtung sei unabdingbar. Im Unfallzeitpunkt habe sich der Kläger in der letzten Phase seiner Berufsausbildung befunden, die am 31. Juli 1975 habe enden sollen. Da der Ausbildende es bislang versäumt habe, seiner Verpflichtung nachzukommen, sei der Kläger für diesen in Geschäftsführung ohne Auftrag tätig geworden. Er habe annehmen dürfen, daß die Beschaffung des Werkzeugs dem wohlverstandenen Interesse des Ausbildenden entsprach, der die Kosten hätte erstatten müssen. Da der Kläger sich somit auf einem Betriebsweg (s § 548 RVO) befunden habe, sei es für die Bejahung des Versicherungsschutzes unbeachtlich, daß er nach dem Werkzeugkauf seine damalige Freundin habe besuchen wollen.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil, das Urteil des SG Koblenz vom 3. Juli 1984, den Bescheid der Beklagten vom 5. August 1982 idF des Widerspruchsbescheides vom 16. Mai 1983 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Verkehrsunfall des Klägers vom 24. März 1975 als versichert anzuerkennen und mit Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (s § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Der im angefochtenen Urteil festgestellte Sachverhalt reicht zu einer abschließenden Entscheidung, ob der Unfall des Klägers am 24. März 1975 ein Arbeitsunfall war, nicht aus.
Arbeitsunfall ist nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539,540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet.
Das LSG ist bei seiner Entscheidung davon ausgegangen, daß der aufgrund eines Ausbildungsverhältnisses gemäß § 539 Abs 1 Nr 1 RVO gegen Arbeitsunfall versichert gewesene Kläger im Unfallzeitpunkt nach Beendigung seiner tagsüber verrichteten Ausbildungstätigkeit von der Wohnung seiner Eltern aus unterwegs war, um Werkzeug und Werkzeugteile zu kaufen und anschließend seine damalige Freundin von deren Arbeitsstelle abzuholen (s S 2 und 6 des Urteils). Der Unfall ereignete sich noch auf der zur Arbeitsstelle der damaligen Freundin des Klägers führenden Wegstrecke, bevor Unfall ereignete sich noch auf der zur Arbeitsstelle der damaligen Freundin des Klägers führenden Wegstrecke, bevor der Kläger hiervon hätte abweichen müssen, um seine Einkäufe zu erledigen. Da der vom Kläger bis zum Unfall zurückgelegte Weg insoweit privaten (eigenwirtschaftlichen) Zwecken diente, als er seine Freundin abholen wollte, und der Weg sich nicht eindeutig von dem Weg zum Einkauf des Werkzeugs trennen läßt, kommt es für die Bejahung des Versicherungsschutzes darauf an, ob das Zurücklegen des Weges im Unfallzeitpunkt als gemischte Tätigkeit wesentlich auch dem Ausbildungsverhältnis diente, in welchem der Kläger gegen Arbeitsunfall versichert war (s BSGE 3, 240; 20, 215; Bundessozialgericht -BSG- Urteil vom 25. November 1977 - 2 RU 99/76 - mwN). Hier kommt Versicherungsschutz nach § 548 RVO in Betracht, wenn die Zurücklegung des Weges im Unfallzeitpunkt der Beschaffung und Fertigstellung von Werkzeug diente, das für die Ausbildung im Ausbildungsbetrieb verwendet werden sollte (s BSG Urteil vom 22. Februar 1973 - 2 RU 96/72 -; BSG SozR 2200 § 549 Nrn 4,7; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 481p). Dadurch bestand ein innerer - sachlicher - Zusammenhang zwischen dem Weg und der versicherten Tätigkeit, der nicht dadurch ausgeschlossen ist, daß der Kläger - nach seinem bisherigen Vorbringen - der Ansicht war, das Werkzeug selbst stellen zu müssen, während die insoweit im Ausbildungsvertrag getroffene Vereinbarung in Wirklichkeit nichtig war, weil sie zuungunsten des Auszubildenden von § 6 Abs 1 Nr 3 BBiG abwich (s § 18 BBiG). Entscheidend ist, ob die Anschaffung des Werkzeugs wesentlich der Tätigkeit im Ausbildungsbetrieb und damit auch den Interessen des Ausbildenden diente.
Die Entscheidung erübrigt sich auch nicht im Hinblick auf einen Versicherungsschutz gemäß § 549 RVO. Nach dieser Vorschrift gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall bei einer mit der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Verwahrung, Beförderung, Instandhaltung und Erneuerung des Arbeitsgerätes, auch wenn es vom Versicherten gestellt wird. Das LSG hat nicht als bewiesen angesehen, daß der Kläger vor dem Unfall bereits eine eigene Spachtel und eine eigene Wasserwaage besaß. Es ist deshalb davon ausgegangen, daß der Kläger insoweit eine Erstbeschaffung von Arbeitsgeräten beabsichtigte. Bei der Erstbeschaffung von Arbeitsgeräten besteht, wie das LSG zutreffend angenommen hat, kein Versicherungsschutz nach § 549 RVO. Der Begriff der Erneuerung - eine andere der in § 549 RVO angeführten Tätigkeiten scheidet insoweit ohnehin aus - setzt voraus, daß etwas gleichartiges Verbrauchtes oder Abgenutztes vorhanden war, an dessen Stelle das Neue oder Erneuerte treten soll; eine Erneuerung von Arbeitsgeräten iS des § 549 RVO liegt somit nicht vor, wenn - wie hier - ein Versicherter sich zum Gebrauch im Unternehmen ein Arbeitsgerät anschafft, ohne vorher ein gleichartiges Arbeitsgerät im Unternehmen benutzt zu haben (s RVA EuM 34, 357; BSG SozR 2200 § 549 Nrn 2, 6; BSGE 51, 257, 258; Brackmann aaO S 481p mwN). Auch der beabsichtigte Kauf einer Maßeinteilung und eines Schneidrades für die bereits vorhanden gewesene Fliesenschneidemaschine betraf nicht die Erneuerung eines im Unternehmen verbrauchten oder abgenutzten Arbeitsgerätes, selbst wenn es vom Kläger bereits erprobt worden war. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die mit der Revision nicht angegriffen und deshalb für das BSG bindend sind (s § 163 SGG), war die vom Onkel des Klägers angefertigte Fliesenschneidemaschine wegen der fehlenden Maßeinteilung und wegen des für den praktischen Gebrauch nicht geeigneten Schneiderades noch nicht fertig. Der Kauf der Teile sollte erst der Fertigstellung der Maschine dienen. Es ging somit nicht um die Erneuerung und auch nicht um die Instandhaltung eines Arbeitsgerätes iS des § 549 RVO.
Die Fahrt, auf welcher der Kläger verunglückte, diente jedoch - wie bereits ausgeführt - sowohl dem Treffen mit seiner Freundin als auch dem Kauf von Werkzeugen, und der Unfall ereignete sich noch auf einer für beide Verrichtungen gemeinsamen Wegstrecke.
Das LSG wird deshalb auch noch zu prüfen haben, ob die Beschaffung des Werkzeuges zur Unfallzeit als Teil einer gemischten Tätigkeit nicht lediglich ein Nebenzweck der Fahrt, sondern ein wesentlicher Zweck war. Der Bedeutung der dem Unternehmen dienenden Tätigkeit ist in diesem Fall besonderes Gewicht beizumessen. Läßt sich feststellen, daß das Interesse, Werkzeug zu kaufen, so groß war, daß der Kläger den Kauf auch unabhängig von der Fahrt zum Abholen seiner Freundin getätigt hätte, würde die Zurücklegung des Weges im Unfallzeitpunkt auch wesentlich versicherten Zwecken gedient haben (s BSG Urteil vom 25. November 1977 aaO). Diese Voraussetzung wäre insbesondere dann gegeben, wenn der Kläger, wie er behauptet hat, das Werkzeug am folgenden Tag brauchte, um erstmals selbst Fliesen legen zu können. Da das BSG die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht treffen kann, ist die Sache an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat.
Fundstellen