Entscheidungsstichwort (Thema)
Verminderte bergmännische Berufsfähigkeit eines Streckensicherungsarbeiters. bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit. gleichwertige Kenntnisse und Tätigkeiten
Orientierungssatz
Für die Beurteilung der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit eines Streckensicherungsarbeiters, der noch Tätigkeiten eines Verwiegers 1, Maschinisten 1 und Magazinarbeiters verrichten kann, ist allein entscheidend, ob diese Tätigkeiten gegenüber der bisher verrichteten knappschaftlichen Arbeit des Streckensicherungsarbeiters gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten iS des § 45 Abs 2 RKG erfordern. Da der Beruf des Streckensicherungsarbeiters bergmännische Fachkenntnisse und bergmännische Berufserfahrung verlangt, die Tätigkeiten des Verwiegers 1, Maschinisten 1 und des Magazinarbeiters dagegen insoweit überhaupt an keine Voraussetzungen gebunden sind, ist dies zu verneinen.
Normenkette
RKG § 45 Abs 2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 03.10.1985; Aktenzeichen L 2 Kn 99/84) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 18.06.1984; Aktenzeichen S 25 Kn 159/83) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten Rente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit (§ 45 Abs 1 Nr 1, Abs 2 Reichsknappschaftsgesetz -RKG-).
Der 1948 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Von Dezember 1970 bis August 1971 arbeitete er im türkischen Bergbau, seit September 1971 im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau. Bis Februar 1972 war er als Neubergmann, von März 1972 bis Dezember 1972 als Transportarbeiter 2 und im Januar/Februar 1973 erneut als Neubergmann tätig. Ab März 1973 wurde er als Streckensicherungsarbeiter - 081 - beschäftigt mit einigen jeweils monatsweisen Unterbrechungen, während derer er wieder als Transportarbeiter 2 eingesetzt wurde. Ende Juli 1981 erlitt er einen Arbeitsunfall, der zu einer schweren Verätzung des linken Auges (praktische Erblindung) und einer leichten Verätzung des rechten Auges führte. Bis Oktober 1982 war er arbeitsunfähig und wurde danach nur noch als Hilfsarbeiter im handwerklichen Bereich (-242- Kauenwärter) beschäftigt. Diese Arbeit verrichtet er noch immer. Der Kläger erhielt zunächst eine Unfallrente nach einer MdE von 33 1/3 vH und seit Januar 1983 nach einer MdE von 25 vH.
Im Oktober 1982 beantragte der Kläger die Gewährung von Versichertenrente. Die Beklagte lehnte ab, weil der Kläger weder berufsunfähig noch vermindert bergmännisch berufsfähig sei (Bescheid vom 11. Dezember 1982; Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 1983). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 18. Juni 1984). Es hat den Kläger für fähig erachtet, als Magazinarbeiter zu arbeiten und hat diese Tätigkeit seinem Hauptberuf als Streckensicherungsarbeiter als im wesentlichen wirtschaftlich und qualitativ gleichwertig erachtet. Das Landessozialgericht (LSG) hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Oktober 1982 die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 3. Oktober 1985). Es hat im wesentlichen ausgeführt:
Der bisherige Beruf des Klägers (Hauptberuf) sei der des Streckensicherungsarbeiters unter Tage gewesen. Diese Tätigkeit sei zusammen mit dem Metall-, Elektro- und sonstigem Facharbeiter in die Lohngruppe 08 unter Tage eingestuft. Nach den praktisch übereinstimmenden Auskünften der Tarifvertragsparteien, die der Senat eingeholt habe (Unternehmensverband Ruhrbergbau und IG-Bergbau und Energie) beruhe die Einstufung im wesentlichen auf den bergmännischen Fachkenntnissen und der bergmännischen Berufserfahrung. Daß daneben noch körperliche Anforderungen (Muskelbeanspruchung) und Umwelteinflüsse eine gewisse Rolle spielten, sei zu vernachlässigen. Denn es komme auf die wesentlichen Gründe für die tarifliche Einstufung an. An die Bewertung des Streckensicherungsarbeiters als Facharbeiter seitens der Tarifvertragsparteien fühle sich der Senat gebunden. Der Kläger dürfe aus augenärztlicher Sicht nicht mehr unter Tage arbeiten. Auch müßten alle Tätigkeiten ausscheiden, die unter Einwirkung von Staub, Gasen, Dämpfen und Hitze sowie unter den Einflüssen der Witterung, wenn auch nur zeitweise, stünden. Der Lohnabfall von der Lohngruppe 08 zur Lohngruppe 05 liege in den Lohnordnungen des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaus unter 12,5 vH. Erst die Löhne der Lohngruppe 04 und tiefer unterschritten diese Grenze. Unter dem Gesichtspunkt der wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit kämen demnach nur die Tätigkeiten in den Lohngruppen 05 bis 08 für eine Verweisung in Betracht. Die in der Lohngruppe 08 enthaltenen Tätigkeiten schieden schon aus, weil der Kläger nicht die zu ihrer Verrichtung erforderlichen Kenntnisse besitze und sie sich erst in einer länger als drei Monate dauernden Anlernung aneignen könne. Die in den Lohngruppen 05, 06 und 07 eingeordneten Tätigkeiten schieden aus gesundheitlichen Gründen mit Ausnahme der Arbeiten als Kantinenarbeiter, Magazinarbeiter, Verlade- und Versandarbeiter 1 und 2, Küchenhilfskraft, Maschinist 1 und Verwieger 1 aus. Insoweit jedoch handele es sich aber nicht um Tätigkeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten.
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der vom LSG zugelassenen Revision. Sie rügt eine Verletzung der §§ 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und des § 45 Abs 2 RKG. Die Tatsachenfeststellungen des LSG beruhten auf einem Verfahrensverstoß. Das LSG verstoße gegen den Erfahrungssatz, daß für das Bestehen von Tatsachen oder Umständen mehrere (Einzel-)Tatsachen wesentlich sein könnten. Hätte das LSG diesen Erfahrungssatz berücksichtigt, wäre es zu dem Ergebnis gelangt, daß der Streckensicherungsarbeiter zwar bergmännische Kenntnisse und bergmännische Erfahrungen benötige, daß er aber nicht auf das umfangreiche Spektrum der Kenntnisse eines bergmännischen Facharbeiters angewiesen sei, sondern mit Teilkenntnissen auskomme. Der Streckensicherungsarbeiter sei vergleichbar dem Lehrhauer. Seien die Tätigkeiten des Maschinisten 1 und Verwiegers 1 für den Lehrhauer Personen mit gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten, so seien sie es auch - ebenso wie der Magazinarbeiter - für den Streckensicherungsarbeiter.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 18. Juni 1984 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Bei Zugrundelegung der von dem LSG für das Revisionsgericht bindend festgestellten Tatsachen (§ 163 SGG) hat das LSG den Anspruch des Klägers auf Rente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit zu Recht bejaht.
Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit erhält der Versicherte, der vermindert bergmännisch berufsfähig ist, zuletzt vor Eintritt der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat und die Wartezeit nach § 49 Abs 1 RKG erfüllt hat (§ 45 Abs 1 RKG). Die letzten beiden Voraussetzungen sind beim Kläger nicht zweifelhaft. Das LSG hat sie in tatsächlicher Hinsicht bejaht. Von der Beklagten werden sie nicht in Zweifel gezogen. Vermindert bergmännisch berufsfähig ist gemäß § 45 Abs 2 RKG ein Versicherter, der infolge Absinkens seiner körperlichen oder geistigen Kräfte weder in der Lage ist, die von ihm bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit auszuüben, noch imstande ist, andere, im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlich versicherten Betrieben auszuüben.
Bei der Prüfung dieser Vorschrift hat das LSG zu Recht alle Tätigkeiten als im wesentlichen wirtschaftlich nicht gleichwertig ausgeschieden, bei denen der Kläger nur einen Lohn erlangen könnte, der sein bisheriges Entgelt um mehr als 12,5 vH unterschreiten würde (vgl Bundessozialgericht -BSG- in BSGE 43, 233 = SozR 2600 § 45 Nr 16). Ebenso kommen die Arbeiten nicht in Frage, die er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausführen kann. Das LSG hat danach - von der Revision unangegriffen - nur noch folgende Tätigkeiten in Betracht gezogen: Kantinenarbeiter, Magazinarbeiter, Verlade- und Versandarbeiter 1 und 2, Küchenhilfskraft, Maschinist 1 und Verwieger 1. Es hat sie gegenüber dem Streckensicherungsarbeiter nicht als "Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten" angesehen, was seitens der Beklagten lediglich bezüglich des Maschinisten 1 und des Verwiegers 1 sowie des Magazinarbeiters bestritten wird. Aus Rechtsgründen ist diese Würdigung indes auch insoweit nicht zu beanstanden.
Zwar spricht bei Tätigkeiten, die im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig sind, eine gewisse Vermutung dafür, daß sie auch von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten verrichtet werden (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 29. August 1974 in SozR 2600 § 45 Nr 7). Wie der Senat jedoch immer wieder betont hat, gilt diese Vermutung nicht, wenn die verhältnismäßig hohe tarifliche Einstufung nicht auf den zu ihrer Verrichtung erforderlichen Kenntnissen und Fähigkeiten, sondern zumindest in einem wesentlichen Umfang auf anderen Gründen beruht. Nach den unangegriffenen und mit der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Senats übereinstimmenden Feststellungen des LSG erfordern die Tätigkeiten des Verwiegers 1, des Maschinisten 1 und des Magazinarbeiters keine besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten, ihre relativ hohe tarifliche Einstufung ist vielmehr darauf zurückzuführen, daß sie besondere Anforderungen an das Verantwortungsbewußtsein und die Zuverlässigkeit stellen. Der erkennende Senat hat bereits in seinen Urteilen vom 27. Juni 1974 (5 RKn 4/73) und 25. April 1978 (SozR 2600 § 45 Nr 21) ausgeführt, daß besondere Anforderungen an das Verantwortungsbewußtsein, die Zuverlässigkeit oder die Wendigkeit zwar geeignet sind, den Wert der erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zu erhöhen, daß sie jedoch nicht allein die verminderte bergmännische Berufsfähigkeit ausschließen, wenn für die gesundheitlich noch in Betracht kommenden Tätigkeiten besondere Kenntnisse und Fähigkeiten nicht erforderlich sind. Die Tätigkeiten eines Verwiegers und Maschinisten sind nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats wegen der erforderlichen Zuverlässigkeit und des Verantwortungsbewußtseins als Qualitätsmerkmale des Berufs gerade noch geeignet, bei einem Facharbeiter die Berufsunfähigkeit nach § 46 Abs 2 RKG auszuschließen (vgl BSGE 11, 206, 208). Anders als bei dieser Vorschrift, die einen Verweisungsrahmen auf noch zumutbare Tätigkeiten zuläßt, verlangt § 45 Abs 2 RKG für den Ausschluß der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit die Gleichwertigkeit der Kenntnisse und Fähigkeiten zwischen der bisher verrichteten knappschaftlichen Arbeit und den noch ausübbaren Tätigkeiten und zwar ohne Einschränkung im Sinne einer Zumutbarkeitsprüfung. Eine derartige Gleichwertigkeit hat indes das LSG verneint.
Die bisher vom Kläger verrichtete knappschaftliche Arbeit des Streckensicherungsarbeiters ist in die Lohngruppe 08 unter Tage eingestuft. Das LSG hat aus den von ihm eingeholten Auskünften der Tarifvertragsparteien entnommen, daß diese tarifliche Einstufung im wesentlichen wegen der für die Arbeit erforderlichen bergmännischen Fachkenntnisse und bergmännischer Berufserfahrung erfolgt ist und die Tätigkeit aufgrund einer analytischen Arbeitsplatzbewertung als "Facharbeit" angesehen wird. Durch diese - dem Inhalt der genannten Auskünfte entsprechende - Beweiswürdigung hat das LSG entgegen den Ausführungen in der Revisionsbegründung § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nicht verletzt, was gemäß § 170 Abs 3 Satz 1 SGG keiner Begründung bedarf. Die aufgrund der Beweiswürdigung des LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen bezüglich der für die Tätigkeiten des Streckensicherungsarbeiters erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten sind deshalb für den erkennenden Senat bindend (§ 163 SGG).
Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt es hier nicht darauf an, daß der Streckensicherungsarbeiter zwar - von der Beklagten ausdrücklich eingeräumte - bergmännische Kenntnisse und Erfahrung benötigt, diese aber mit denjenigen des Hauers als Facharbeiter nicht vergleichbar seien. Wenn die dem Kläger bescheinigte "Facharbeit" lediglich auf beruflichen Teilkenntnissen beruht, wird dadurch zwar - abweichend von der Ansicht des LSG - die Zugehörigkeit des Streckensicherungsarbeiters zur Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters im Sinne des vom BSG entwickelten Mehrstufenschemas ausgeschlossen (vgl hierzu das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des 5b Senats des BSG vom 9. September 1986 - 5b RJ 82/85), was indes allein für die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit im Sinne des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (= § 46 RKG) relevant ist. Wie eingangs bereits dargelegt, ist für die Beurteilung der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit dagegen hier allein entscheidend, ob die vom Kläger noch ausführbaren Tätigkeiten des Verwiegers 1, Maschinisten 1 und des Magazinarbeiters gegenüber der bisher verrichteten knappschaftlichen Arbeit des Streckensicherungsarbeiters gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten iS des § 45 Abs 2 RKG erfordern. Da nach den für den erkennenden Senat bindenden Feststellungen des LSG dieser Beruf jedenfalls bergmännische Fachkenntnisse und bergmännische Berufserfahrung verlangt, die Tätigkeiten des Verwiegers 1, Maschinisten 1 und des Magazinarbeiters dagegen insoweit überhaupt an keine Voraussetzungen gebunden sind, ist dies zu verneinen.
Schließlich rechtfertigt auch die von der Beklagten angeführte Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl Urteile vom 27. Juni 1974 - 5 RKn 30/72 - und 26. Februar 1975 - 5 RKn 1/74), wonach der "sogar" in Lohngruppe 09 eingestufte frühere Lehrhauer dem Maschinisten 1 und dem Verwieger 1 gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten hat, kein anderes Ergebnis. Diese - auf entsprechende, für das Revisionsgericht bindende Feststellungen des Berufungsgerichts beruhenden - Urteile stehen der vorliegenden Entscheidung schon deswegen nicht entgegen, weil der frühere Lehrhauer nach dem Urteil des erkennenden Senats vom 13. März 1985 (5a RKn 6/84) allein aufgrund seiner bergmännischen Kenntnisse der Lohngruppe 07 unter Tage zuzuordnen wäre, der Kläger aber in der Lohngruppe 08 unter Tage und damit tariflich höher eingestuft ist. Vorbehaltlich abweichender tatsächlicher Feststellungen der Berufungsgerichte läßt dies für das Revisionsgericht nur den Schluß zu, daß die beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten des früheren Lehrhauers nicht denjenigen des Streckensicherungsarbeiters entsprechen.
Der Revision der Beklagten mußte nach alledem der Erfolg versagt bleiben (§ 170 Abs 1 SGG).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen