Leitsatz (redaktionell)
1. Für die Unterscheidung eines Leidens nach dem Gesichtspunkt der Entstehung oder Verschlimmerung ist lediglich die Tatsache maßgebend, ob z Zt des schädigenden Ereignisses iS des BVG § 1 bereits Anzeichen des Leidens vorhanden gewesen sind oder nicht.
Die Bezeichnung (Anerkennung) eines Leidens iS der Entstehung oder Verschlimmerung hat keine Bedeutung für die Beurteilung von Folgen, die später auftreten und selbständig daraufhin zu prüfen sind, ob sie auch noch auf eine Schädigung iS des BVG § 1 zurückzuführen sind.
2. Nach SGG § 128 Abs 1 S 2 hat das Gericht nur die Gründe anzugeben, die für seine Überzeugung leitend gewesen sind.
Werden von Gutachtern in aller Breite gegenteilige Ansichten erörtert, dann genügt es, wenn das Gericht zum Ausdruck bringt, daß ihm die von einem Gutachter im Gegensatz zu der Auffassung anderer ärztlicher Sachverständiger geäußerte Meinung nicht schlüssig erscheint; es braucht sich nicht mit allen Einzelheiten der von diesem Gutachter geäußerten Ansicht auseinanderzusetzen.
Normenkette
BVG § 1 Fassung: 1950-12-20; SGG § 128 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 23. Juni 1955 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger hat gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG.) in München vom 23. Juni 1955, durch welches das Urteil des Oberversicherungsamts (OVA.) M vom 5. Juni 1951 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid des Versorgungsamts (VersorgA.) M vom 22. November 1950 abgewiesen worden war, frist- und formgerecht Revision eingelegt und diese begründet. Da das LSG. die Revision nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), ist sie nur unter den Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 SGG statthaft. Diese liegen jedoch nicht vor.
Der Kläger hat für seine Rüge, das LSG. habe seine Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt, weil es "den Sachverhalt hinsichtlich der Vorgeschichte und der medizinischen Beurteilung seiner Krankheit" ungenügend aufgeklärt habe, keine Tatsachen und Beweismittel bezeichnet, die den von ihm gerügten Mangel ergeben (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Er hat weder angegeben, warum es bei der Rechtsauffassung des LSG. auf diese Aufklärung ankam, noch in welcher Richtung und mit welchen Mitteln und mit welchem zu erwartenden Ergebnis die Aufklärung hätte vorgenommen werden sollen (BSG. in SozR. SGG § 103 Bl. Da 2 Nr. 7, Bl. Da 5 Nr. 14, und SGG § 164 Bl. Da 10 Nr. 28). Diese Rüge ist daher nicht genügend substantiiert.
Die weiteren Ausführungen des Klägers in der Revisionsbegründung lassen nicht eindeutig erkennen, was für einen Verfahrensmangel der Kläger rügen will und worin er eine Gesetzesverletzung im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG sehen will. Der Kläger führt aus, Professor Dr. P sei von falschen Voraussetzungen ausgegangen, wenn er annimmt, daß der Kläger während des Einsatzes in Galizien im Jahre 1915 ohne "besondere Behandlung weiter im Einsatzgebiet bis Kriegsschluß verblieb". Dieser Annahme hält der Kläger entgegen, er habe damals am Stock gehen und einen längeren Erholungsurlaub nehmen müssen. Mit diesen Ausführungen will der Kläger offenbar eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) durch das LSG. rügen. Der Kläger übersieht dabei, daß Professor Dr. P selbst an anderer Stelle seines Gutachtens die Benutzung des Stocks und auch einen achtwöchigen Erholungsurlaub des Klägers erwähnt hat und an der vom Kläger erwähnten Stelle des Gutachtens nur die Vorgeschichte kurz zusammengefaßt hat, ohne früher erwähnte Einzelheiten der Vorgeschichte zu wiederholen. Er ist also insoweit nicht von falschen Tatsachenvoraussetzungen ausgegangen. Damit entfällt bereits die Grundlage für die vom Kläger erhobene Rüge, so daß nicht geprüft zu werden braucht, ob ein solcher angeblicher Mangel des Gutachtens die Beweiswürdigung des Gerichts im vorliegenden Fall fehlerhaft gemacht hätte.
Die Behauptung des Klägers, das LSG. sei eine Begründung für die Ansicht schuldig geblieben, daß das Gutachten des Professors H nicht schlüssig begründet worden sei, ergibt keine Verletzung der Urteilsbegründungspflicht, die der Kläger rügen zu können glaubt. Nach § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG hat das LSG. nur die Gründe anzugeben, die für seine Überzeugung leitend gewesen sind. Diesem Erfordernis hat das LSG. genügt. Es brauchte sich nicht mit allen Einzelheiten der von Professor H geäußerten Ansicht auseinanderzusetzen. Bei den von den Gutachtern in aller Breite erörterten gegenteiligen Ansichten genügte es, daß das LSG. zum Ausdruck brachte, ihm erscheine die von Professor H im Gegensatz zu der Auffassung anderer Sachverständiger und insbesondere des Professors Dr. P nicht schlüssig.
Der Kläger sieht ferner eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht darin, daß das LSG., wenn es sich nicht in der Lage gesehen habe, "in einwandfrei begründeten Darlegungen Gutachten den Vorzug zu geben oder eine eigene Entscheidung zu treffen", nicht ein weiteres Gutachten "zu den verschiedenen nicht genügend aufgeklärten Fragen" und "mit einer genau umrissenen Fragestellung" eingeholt habe. Auch für diese Rüge hat der Kläger nicht hinreichend Tatsachen und Beweismittel bezeichnet (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Er hat weder angegeben, inwieweit das LSG. zu den in diesem Rechtsstreit aufgeworfenen Fragen keine eigene Entscheidung getroffen hat, noch hat er angegeben, welche Fragen nicht genügend aufgeklärt worden sind, warum deren Klärung nötig war und mit welcher Fragestellung von einem weiteren Gutachten eine genügende Klärung zu erwarten gewesen wäre.
Ebenso unzureichend ist im Hinblick auf § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG die Rüge des Klägers, das LSG. habe das Recht der freien Beweiswürdigung überschritten. Er spricht hierbei nur in allgemeinen Redewendungen davon, das LSG. habe "seine Entscheidung auf einen nicht erschöpfend und widerspruchsfrei, auch die Sachdarstellung der Beteiligten eindeutig klärenden Sachverhalt gestützt und dem gesetzlichen Tatbestand des Art. 1 Abs. 1 des Gesetzes über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) einen nach dem Ergebnis der Sachdarstellung durch den Kläger und die verschiedenen Zeugenaussagen und Sachverständigengutachten unrichtigen Sachverhalt unterstellt".
Im übrigen will der Kläger anscheinend eine Gesetzesverletzung im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG rügen. Er leitet den zweiten Teil seiner Revisionsbegründung damit ein, daß das LSG. "bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs der multiplen Sklerose mit den schädigenden Einflüssen des Wehrdienstes des Klägers" Art. 1 Abs. 1 KBLG insofern verletzt habe, als der "Verursachungsbegriff" falsch ausgelegt und angewandt worden sei. Eine Gesetzesverletzung im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG liegt aber nur dann vor, wenn die im Recht der Kriegsopferversorgung geltende Kausalitätsnorm verletzt ist, nicht aber dann, wenn lediglich der Ursachenzusammenhang im tatsächlichen Sinne verneint worden ist (BSG. 1 S. 268). Im vorliegenden Fall hat das LSG. aber den natürlichen Zusammenhang zwischen dem Wehrdienst des Klägers und den nach der Entlassung aus dem Wehrdienst aufgetretenen Gesundheitsstörungen verneint. Es kam daher nicht mehr darauf an, ob der Wehrdienst auch im Rechtssinn als Ursache für den weiteren Verlauf des Leidens des Klägers nach seiner Entlassung anzusehen war.
Der Kläger glaubt eine Verletzung der Kausalitätsnorm im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG darin sehen zu können, daß der Beklagte und das LSG. zwar anerkannt haben, sein Leiden sei durch die Einflüsse des Wehrdienstes "ausgelöst" worden, daß sie aber nicht anerkennen, daß damit alle Folgen als ausgelöst und hervorgerufen zu gelten haben. Er verkennt hierbei, daß die Unterscheidung zwischen Auslösung oder Entstehung und Verschlimmerung für die Beurteilung des weiteren Verlaufs der Krankheit nach der Entlassung aus dem Wehrdienst ohne Bedeutung ist. Demgemäß hat das LSG. zwar die Möglichkeit zugestanden, daß die Erkrankung des Klägers durch den Wehrdienst ausgelöst worden ist, jedoch wegen der rechtlichen Bedeutungslosigkeit keinen Anlaß gesehen, den Standpunkt des Bescheides des Versorgungsamts München II vom 22. November 1950 zu verlassen, wonach es sich beim Kläger um eine - zeitlich begrenzte - Verschlimmerung des Leidens während des ersten Weltkrieges handelt. Jede Änderung in dem Zustand des Klägers war selbständig auf ihren ursächlichen Zusammenhang mit dem Wehrdienst zu prüfen, gleichgültig ob Folgen desselben Leidens bereits im Sinne der Entstehung oder Verschlimmerung anerkannt gewesen sind. Für die Unterscheidung eines Leidens nach dem Gesichtspunkt der Entstehung oder Verschlimmerung ist lediglich die Tatsache maßgebend, ob zur Zeit des schädigenden Ereignisses im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) bereits Anzeichen des Leidens vorhanden waren oder nicht. Die Bezeichnung des Leidens in dem einen oder anderen Sinne hat keine Bedeutung für die Beurteilung von Folgen, die später auftreten und selbständig daraufhin zu prüfen sind, ob sie auch noch auf Einflüsse des Wehrdienstes zurückzuführen sind. Insofern rügt der Kläger mit seinen Ausführungen über die Auslösung des Leidens nicht eine Verletzung der Kausalitätsnorm, d. h. eine rechtsirrige Beurteilung des "ursächlichen Zusammenhangs zwischen einer Gesundheitsstörung und einer Schädigung im Sinne des BVG" (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Er bekämpft vielmehr den tatsächlichen Ausgangspunkt des LSG., wonach schon Symptome des Leidens des Klägers - wenn auch ohne besondere Folgen - vorhanden waren, ehe das Leiden sich durch die besonderen Einflüsse des Wehrdienstes am Schluß des ersten Weltkrieges so verschlimmerte, daß diese Folgen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 50 v. H. verursachten. Dafür, daß dieser Ausgangspunkt des LSG. bei der Beurteilung des Leidens des Klägers nicht den Tatsachen entsprach, hat der Kläger nichts vorgetragen. Es kann somit dahingestellt bleiben, ob die irrige Annahme einer rechtlich belanglosen Tatsache überhaupt einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG ergibt.
Soweit der Kläger im übrigen bei seinen Ausführungen immer wieder das Ermittlungsergebnis anders als das LSG. würdigt und bei seinen rechtlichen Folgerungen von anderen tatsächlichen Voraussetzungen als das LSG. ausgeht, ohne im einzelnen zu substantiieren (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG), warum und inwiefern eine andere Würdigung oder eine andere Feststellung erforderlich war, ist sein Vorbringen unter dem Gesichtspunkt der Rüge eines Verfahrensmangels (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) nicht beachtlich.
Schließlich können die in den Schriftsätzen des Klägers vom 11. April und 17. Mai 1956 angeführten Rügen, soweit sie nicht bereits in der Revisionsbegründung vom 17. Dezember 1955 enthalten sind, nicht mehr berücksichtigt werden, weil sie erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist erhoben worden sind (§ 164 SGG).
Die Revision des Klägers ist somit weder nach der Nr. 2 noch nach der Nr. 3 des § 162 Abs. 1 SGG statthaft und mußte daher als unzulässig verworfen werden.
Der Beschluß ergeht gemäß § 169 SGG, die Kostenentscheidung in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen