Leitsatz (amtlich)

Wer nach Inkrafttreten (1953-06-05) des BVFG aus dem sowjetisch besetzten Sektor von Berlin oder aus der SBZ in die Bundesrepublik oder nach Berlin (West) zuwandert und nicht als Vertriebener oder als Heimatvertriebener oder als Sowjetzonenflüchtling oder als gleichgestellte Person (BVFG §§ 1 bis 4) anerkannt ist, hat weder auf Grund von BVFG § 90 noch nach Gewohnheitsrecht einen Anspruch auf Gewährung der Arbeitslosenunterstützung für die erweiterte Bezugsdauer gemäß AVAVG 1927 § 99 Abs 1 S 3.

 

Normenkette

AVAVG § 99 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1953-08-24; BVFG § 90

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 6. März 1956 sowie das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Juni 1955 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I Die 1920 geborene Klägerin war vom 1. Januar 1946 bis zum 9. September 1954 in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands sowie im sowjetisch besetzten Sektor Berlins in verschiedenen Betrieben der Energiewirtschaft als Angestellte beschäftigt. Sie ist seit 1949 verheiratet; im Juli 1954 zog sie zu ihrem Ehemann nach West-Berlin.

Am 11. September 1954 meldete sich die Klägerin beim Facharbeitsamt IV Berlin arbeitslos und beantragte am 16. September 1954 Arbeitslosenunterstützung (Alu). Mit Verfügung vom 28. September 1954, über deren Zustellung oder Aushändigung den Akten kein Nachweis zu entnehmen ist und die keine Rechtsmittelbelehrung enthält, wurde ihr Alu für 26 Wochen bewilligt; diese wurde bis zum 14. März 1955 gezahlt.

Den weiteren Antrag der Klägerin vom 21. März 1955 auf Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu) lehnte das Arbeitsamt mit Verfügung vom 26. März 1955 ab, weil das anzurechnende Einkommen des zum Unterhalt verpflichteten Angehörigen (Ehemann) den Unterstützungssatz übersteige.

Die Klägerin erhob mit Schreiben vom 30. März 1955 gegen die Beschränkung der Bezugsdauer der Alu auf 26 Wochen "Einspruch"; unter Hinweis auf ihre langfristigen Beschäftigungen beanspruchte sie Alu für 52 Wochen.

II Der Widerspruch der Klägerin wurde mit Bescheid der Widerspruchsstelle des Arbeitsamts vom 2. Mai 1955 unter dem Sachbetreff "wegen Versagung der Verlängerung der Alu-Bezugsdauer über 26 Wochen hinaus" zurückgewiesen. Auf ihre Klage hin hob das Sozialgericht durch Urteil vom 21. Juni 1955 die Verfügung des Arbeitsamts vom 28. September 1954, soweit der Unterstützungsbezug aus der Arbeitslosenversicherung auf 26 Wochen beschränkt war, sowie in diesem Umfange auch den Bescheid der Widerspruchsstelle vom 2. April 1955 (muß richtig heißen: "2. Mai 1955") auf. Das Sozialgericht ging davon aus, daß die früheren Bewohner des sowjetisch besetzten Gebiets Deutschlands mit den ständigen Bewohnern der Bundesrepublik und des Landes Berlin gleichmäßig zu behandeln sind, und daß dieser "Gleichheitssatz" auch bei Anwendung der für die Unterstützungsberechtigten günstigen Bestimmungen gelte. Deswegen müsse früheren Arbeitnehmern aus dem sowjetisch besetzten Teil auch Alu für die erweiterte Bezugsdauer gewährt werden, wenn sie die übrigen Voraussetzungen erfüllt hätten.

III Die Berufung der Beklagten wurde durch Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 6. März 1956 zurückgewiesen. Zwar sei nicht durch positiv-rechtliche Bestimmungen, aber gewohnheitsrechtlich anerkannt, daß im sowjetisch besetzten Gebiet Deutschlands ausgeübte Beschäftigungen dann anwartschaftsbegründend wirken, wenn sie in dem genannten Gebiet versicherungspflichtig waren und es im Fall ihrer Ausübung in West-Berlin oder in der Bundesrepublik gewesen wären. Zwischen den Vorschriften über den Erwerb der Anwartschaft und denjenigen über die Alu-Bezugsdauer bestehe kein grundsätzlicher, sondern nur ein quantitativer Unterschied. Deshalb müsse in entsprechender Anwendung des für die Anwartschaft entstandenen gewohnheitsrechtlichen Satzes auch für die Zuerkennung der erhöhten Alu-Bezugsdauer eine im sowjetischen Besatzungsgebiet verrichtete Beschäftigung genügen, die dort versicherungspflichtig war und dies auch in der Bundesrepublik oder in West-Berlin gewesen sein würde. Es sei kein Grund ersichtlich, solchen sowjetzonalen Beschäftigungen im Gegensatz zur Anwartschaft für die erhöhte Bezugsdauer die Anerkennung zu versagen. Die Klägerin habe die gesetzlichen Voraussetzungen für eine 52-wöchige Alu-Bezugsdauer im übrigen erfüllt.

Revision wurde zugelassen.

IV Gegen das am 22. März 1956 zugestellte Urteil legte die Beklagte mit Schriftsatz vom 12. April 1956, beim Bundessozialgericht eingegangen am 17. April, Revision ein und beantragte,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Juni 1955 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Am 19. Mai 1956 begründete die Beklagte die Revision. Die Auffassung des Landessozialgerichts, daß die Klägerin nach gewohnheitsrechtlichen Normen durch ihre Beschäftigungsverhältnisse im sowjetisch besetzten Gebiet nicht nur die Anwartschaft erfüllt, sondern gleicherweise auch den Anspruch auf die verlängerte Bezugsdauer der Alu erworben habe, sei unzutreffend. Die Bezugsdauer stehe nicht im rechtlichen Zusammenhang mit der Erfüllung der Anwartschaft. Wenn die Anwartschaft erworben sei, müsse die Bezugsdauer jeweils unabhängig davon festgesetzt werden. Das Gesetz kenne keine Anwartschaft auf eine längere oder kürzere Bezugsdauer. Im vorliegenden Falle sei insbesondere aber ein gewohnheitsrechtlicher Anspruch auf die erweiterte Bezugsdauer der Alu nach § 99 Abs. 1 Satz 3 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) nicht zustandegekommen; denn diese Vorschrift sei erst durch das Änderungsgesetz vom 24. August 1953 eingeführt worden. Schließlich habe das Landessozialgericht aber auch noch die Vorschriften des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz) unbeachtet gelassen, die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts unmittelbar geltendes Recht darstellten. Demgemäß seien seit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes in der Arbeitslosenversicherung nur Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge den Berechtigten im Geltungsbereich des Grundgesetzes und Berlin (West) gleichgestellt. Die Klägerin sei jedoch weder Vertriebene noch Sowjetzonenflüchtling noch eine gleichgestellte Person, so daß sie aus dem Bundesvertriebenengesetz keine Ansprüche herleiten könne.

Die Klägerin beantragte,

die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidungsgründe im Urteil des Landessozialgerichts für zutreffend. Der Anspruch der Klägerin beruhe auf Berliner Gewohnheitsrecht; dieses aber sei in der Revisionsinstanz nicht nachprüfbar. Es bestehe im übrigen kein Unterschied zwischen dem Gewohnheitsrecht, das sich hinsichtlich der Anwartschaft und jenem, das sich hinsichtlich der erhöhten Alu-Bezugsdauer gebildet habe.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze Bezug genommen.

V Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Sie ist daher zulässig.

Bei einer zugelassenen Revision ist vor der sachlich-rechtlichen Würdigung des Streites von Amts wegen zunächst zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine entscheidende Tätigkeit des Revisionsgerichts sowie die unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen des vorausgegangenen Verfahrens erfüllt sind (vgl. BSG. 5 S. 121 (122) und die dortigen Hinweise auf die Rechtsprechung). Dies ist hier der Fall. Wie bereits das Landessozialgericht ohne Rechtsirrtum festgestellt hat, waren im Vorverfahren und vor dem Sozialgericht in zulässiger Weise Sachentscheidungen ergangen. Die Berufung selbst ist zulässig gewesen, da der Rechtsstreit einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von mehr als 13 Wochen (3 Monaten) betrifft.

VI Die Revision ist auch begründet.

Die Klägerin war in der Zeit vom 1. Januar 1946 bis zum 9. September 1954 ausschließlich in den sowjetisch besetzten Teilen Deutschlands, insbesondere Berlins, beschäftigt und dort pflichtversichert gewesen. Das Facharbeitsamt IV Berlin hatte ihr mit Verfügung vom 28. September 1954 für 26 Wochen Alu bewilligt und gezahlt. Insoweit sind also weder Anwartschaft noch Unterstützungsanspruch im Streit befangen und daher im Revisionsverfahren nicht zu behandeln.

Streitig ist aber, ob § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG in der Fassung des § 1 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften auf dem Gebiete der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenfürsorge vom 24. August 1953 (BGBl. I S. 1022) für die Beschäftigungsverhältnisse der Klägerin anzuwenden ist. Diese Vorschrift wurde durch das Berliner Übernahmegesetz vom 16. Oktober 1953 (GVBl. S. 1283) als auf das Land Berlin anwendbar erklärt; sie ist demnach revisibles Recht. Nach § 99 Abs. 1 Satz 3 wird bei Arbeitslosen, die - wie die Klägerin - Renten aus der Rentenversicherung wegen Alters, Invalidität oder Berufsunfähigkeit nicht beziehen, die Bezugsdauer der Alu über 26 Wochen hinaus bis auf höchstens 52 Wochen erweitert, wenn sie nach der im Gesetz enthaltenen Staffelung vor der Arbeitslosmeldung ununterbrochen mindestens 104 bis zu 260 Wochen versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sind.

Aus dem Wortlaut dieser Gesetzesvorschrift ergibt sich nicht, wie das Landessozialgericht selbst zunächst zutreffend feststellte, ob versicherungspflichtige Beschäftigungen, die außerhalb des Geltungsbereichs des AVAVG geleistet wurden, eine Grundlage für die erweiterte Unterstützungsdauer abgeben können. Deshalb überträgt das Landessozialgericht den in seiner Rechtsprechung entwickelten Satz, daß - unter Verzicht auf das im AVAVG sonst geltende Territorialitätsprinzip - derartige im sowjetisch besetzten Gebiet ausgeübte Beschäftigungen nach Gewohnheitsrecht zum Erwerb einer Anwartschaft dienen können, wiederum gewohnheitsrechtlich ebenfalls auf die Bemessung der Alu-Bezugsdauer. Diese Auffassung des Landessozialgerichts ist jedoch rechtsirrig. Zwar wird das Gewohnheitsrecht jetzt nach herrschender Lehre auch im Bereich des öffentlichen Rechts als originäre Rechtsquelle allgemein anerkannt (vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 7. Aufl. 1958, S. 131 f. und die dortigen Zitate. Gewohnheitsrecht entsteht indessen nur durch langdauernde Übung, die durch Rechtsüberzeugung getragen wird (a. a. O. S. 133). An dieser Voraussetzung allein schon scheitert hier eine gewohnheitsrechtliche Zubilligung der erweiterten Unterstützungsdauer des § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG, weil zwischen dem Inkrafttreten dieser Vorschrift (1. August 1953) und der Antragstellung der Klägerin (16. September 1954) wenig mehr als ein Kalenderjahr abgelaufen war und in dieser knappen Zeitspanne sich keine hinreichend allgemeine Überzeugung der Beteiligten von der Notwendigkeit einer ständigen (langfristigen) entsprechenden Rechtsanwendung bilden konnte.

VII Unabhängig davon hat das Landessozialgericht aber auch die Vorschriften des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz - BVFG) nicht beachtet. Dieses Gesetz, das am 5. Juni 1953 in Kraft getreten ist, gilt nach Maßgabe des § 12 Abs. 1 und des § 13 Abs. 1 des Dritten Überleitungsgesetzes vom 4. Januar 1952 auch im Lande Berlin (§ 107 BVFG). Seine Vorschriften sind - zweifelsfrei - revisibel. Nach § 90 Abs. 1 BVFG werden Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge in der Sozialversicherung und Arbeitslosenversicherung den Berechtigten im Geltungsbereich des Grundgesetzes und in Berlin (West) gleichgestellt. Der erkennende Senat hat in ständiger Rechtsprechung (vgl. BSG. 4 S. 102 (104); 4 S. 108 (110) und SozR. zu AVAVG § 99 Bl. Ba 3 Nr. 7) dessen unmittelbare Geltung festgestellt. Bei einem anerkannten Sowjetzonenflüchtling gilt danach eine Beschäftigung, die in der Sowjetzone oder im Sowjetsektor Berlins ausgeübt wurde und die in der Bundesrepublik sowie in West-Berlin versicherungspflichtig gewesen wäre, als versicherungspflichtige Beschäftigung im Sinne des § 95 AVAVG (a. F.) und ebenso steht einem anerkannten Sowjetzonenflüchtling die verlängerte Bezugsdauer der Alu nach § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG (a. F.) zu. Die Klägerin kann jedoch aus § 90 Abs. 1 BVFG keine Rechte herleiten, weil sie nicht unter den dort erfaßten Personenkreis fällt. Sie ist weder Vertriebene (§ 1), noch Heimatvertriebene (§ 2), noch Sowjetzonenflüchtling (§ 3), noch einem solchen gleichgestellt (§ 4). Die Klägerin zog im Juli 1954 mit Genehmigung der zuständigen Stellen nach West-Berlin zu ihrem Ehemann, der nach ihren eigenen Angaben vordem dort keine Wohnmöglichkeit für sie gefunden hatte. Mithin ist sie lediglich als Zuwanderer zu betrachten. Dann aber ist ausgeschlossen, daß ihr Rechte und Vergünstigungen in der Arbeitslosenversicherung eingeräumt werden, die jenen der legalen Flüchtlinge und Vertriebenen gleichstehen oder gar noch darüber hinausreichen (vgl. BSG. 4 S. 108 (111)).

Nach dem Inkrafttreten des BVFG (5. Juni 1953) konnte sich aber auch ein entgegenstehendes Gewohnheitsrecht nicht bilden (vgl. BSG. 4 S. 102 (106); 4 S. 108 (111)).

Ein Arbeitsloser, der nach dem 5. Juni 1953 aus dem sowjetisch besetzten Sektor von Berlin oder aus der sowjetischen Besatzungszone in die Bundesrepublik oder nach Berlin (West) zuwandert und nicht als Vertriebener oder als Heimatvertriebener oder als Sowjetzonenflüchtling oder als gleichgestellte Person (§§ 1 - 4 BVFG) anerkannt ist, hat infolgedessen weder auf Grund von § 90 BVFG noch nach Gewohnheitsrecht einen Anspruch auf Gewährung der Alu für die erweiterte Bezugsdauer gemäß § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG (a. F.).

Alsdann erübrigen sich weitere Erörterungen zur Auffassung der Klägerin, daß sich ihr Anspruch auf Berliner Gewohnheitsrecht stütze, das nicht revisibel sei.

Der vom Sozialgericht angewendete "Gleichheitssatz" ist nach den vorstehenden Ausführungen weder durch Gewohnheitsrecht noch durch die Vorschriften des BVFG gedeckt.

VIII Nach alledem entbehrt jedenfalls der von der Klägerin im Rechtsstreit erhobene Anspruch auf Alu für eine Unterstützungsdauer über 26 Wochen hinaus nach der bis zum 31. März 1957 geltenden Fassung des AVAVG der Rechtsgrundlage.

Deshalb müssen sowohl das Urteil des Landessozialgerichts vom 6. März 1956 wie auch das vorausgegangene Urteil des Sozialgerichts vom 21. Juni 1955 aufgehoben werden. Die Klage ist als unbegründet abzuweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324327

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