Leitsatz (amtlich)
Lehnt der Versicherungsträger einen Rentenantrag mangels Vorliegens von Invalidität ab und gibt er dabei eine Belehrung, wonach zur Aufrechterhaltung der Anwartschaft weitere Beiträge zu entrichten sind, so liegt darin kein Anerkenntnis der Wirksamkeit der bisher entrichteten Beiträge, sofern der Versicherungsträger nach den näheren Umständen des Falles die Wirksamkeit der Beiträge ersichtlich nicht geprüft hat. Der Versicherungsträger kann sich daher in einem solchen Fall auf die Unwirksamkeit der schon entrichteten Beiträge berufen, wenn sich im Laufe des folgenden Streitverfahrens herausstellt, daß der Versicherte schon zur Zeit ihrer Entrichtung invalide war.
Normenkette
RVO § 1445 Abs. 2 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. März 1956 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die 1919 geborene Klägerin war früher Hausgehilfin; sie entrichtete für die Zeit von 1935 bis 1938 insgesamt 201 Pflichtbeiträge zur Invalidenversicherung, ferner für die Zeit seit 1949 insgesamt 80 freiwillige Beiträge. Am 23. April 1952 beantragte sie die Gewährung von Invalidenrente. Nachdem der Vertrauensarzt der Beklagten die Erwerbsminderung auf 45 v.H. geschätzt hatte, lehnte die Beklagte den Antrag durch Bescheid vom 31. Juli 1952 wegen fehlender Invalidität ab. Der Bescheid enthielt eine vorgedruckte Belehrung: Die Klägerin müsse zur Aufrechterhaltung der Anwartschaft für eine weitere ordnungsgemäße Beitragsleistung ab 1. Januar 1952 sorgen und mindestens 26 Wochenbeiträge im Kalenderjahr entrichten. Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin unter Hinweis auf ihre schwere Erkrankung Berufung zum Oberversicherungsamt (OVA.) eingelegt. Die Beklagt hat mit einem Schriftsatz vom 1. September 1952 auf Grund der Anforderung des OVA. ihre Akten übersandt und kurz ausgeführt, die Wartezeit sei erfüllt und die Anwartschaft bis zum 31. Dezember 1951 erhalten; eine weitere Stellungnahme enthält der Schriftsatz nicht. Das OVA. hat weitere Gutachten eingeholt, die ergaben, daß die Klägerin schon seit 1945 invalide war. Die Beklagte hat daraufhin die von der Klägerin seit 1949 entrichteten freiwilligen Beiträge als unwirksam beanstandet. Das OVA. hat durch Urteil vom 25. November 1953 die Berufung zurückgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG.) hat durch Urteil vom 20. März 1956 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen: Die Invalidität sei bereits 1945 eingetreten, daher seien die nach 1949 entrichteten freiwilligen Beiträge unwirksam; die Wartezeit aus den restlichen Beiträgen sei nicht erfüllt. Ein Anerkenntnis der Wirksamkeit der nach 1949 entrichteten Beiträge liege nicht vor, auch wenn der Bescheid die Belehrung über die Entrichtung weiterer Beiträge enthalten habe, weil dieser Hinweis nicht als Anerkenntnis aufgefaßt werden könne. Es verstoße nicht gegen den Grundsatz des Verbots der reformatio in peius (Verschlechterung), wenn das OVA. die Ablehnung der begehrten Rente nicht mit der fehlenden Invalidität, sondern mit der fehlenden Erfüllung der Wartezeit begründet habe. Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat gegen das am 10. Juli 1956 zugestellte Urteil am 1. August 1956 Revision eingelegt und ihr Rechtsmittel im gleichen Schriftsatz begründet.
Sie trägt vor: Das LSG. habe nicht geklärt, in welchem Zeitpunkt die Invalidität eingetreten sei. Der Vertrauensarzt der Beklagten habe noch im Juli 1952 das Vorliegen der Invalidität verneint, auch die Gerichtsärztin habe es für glaubhaft gehalten, daß die Klägerin in den Jahren 1947 bis 1952 noch voll arbeitsfähig gewesen sei, sie habe deshalb dem Gericht nahegelegt, weitere Ermittlungen anzustellen. Das LSG. habe daher gegen § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen. Die Beklagte habe die Rechtswirksamkeit der Beiträge dadurch anerkannt, daß sie in dem angefochtenen Bescheid den Antrag nicht wegen der nicht erfüllten Wartezeit, sondern wegen Nichtvorliegens der Invalidität abgelehnt habe. Auch in der mit diesem Bescheid verbundenen Belehrung über die Aufrechterhaltung der Anwartschaft durch weitere Beitragszahlung sei ein Anerkenntnis über die Rechtsgültigkeit der Beiträge zu erblicken, desgleichen in dem Schriftsatz der Beklagten vom 1. September 1952. Schließlich habe das LSG. gegen den Grundsatz des Verbots der reformatio in peius verstoßen; im Hinblick auf den Bescheid der Beklagten vom 31. Juli 1952, in dem die Bewilligung einer Rente allein wegen fehlender Invalidität abgelehnt worden sei, dürfe der Rentenantrag nach Einlegung des Rechtsmittels nicht mit der für sie ungünstigen Begründung zurückgewiesen werden, die Wartezeit sei infolge Unwirksamkeit der seit 1949 entrichteten Beiträge nicht erfüllt.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Bayerischen LSG. vom 20. März 1956 und des OVA. Nürnberg vom 25. November 1953 sowie den Bescheid der Beklagten vom 31. Juli 1952 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Invalidenrente zu gewähren,
hilfsweise, die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, das LSG. habe den Sachverhalt genügend geklärt. Weder in der Belehrung im Anschluß an den Ablehnungsbescheid noch in ihrem Schriftsatz vom 1. September 1952 sei ein Anerkenntnis zu erblicken. Ein Verstoß gegen das Verbot der reformatio in peius liege nicht vor.
II
Die durch die Zulassung statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist nicht begründet, weil das LSG. ohne Verletzung von Verfahrensvorschriften und ohne Rechtsirrtum den Anspruch der Klägerin auf Invalidenrente verneint hat.
Die Klägerin rügt zunächst, das LSG. habe gegen die ihm obliegende Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) verstoßen, weil es entgegen der Anregung der Gerichtsärztin kein weiteres Gutachten eingeholt, sondern sich der Feststellung des Lungenfacharztes Dr. K angeschlossen habe, die Klägerin sei bereits 1945 invalide gewesen. Ob das LSG. gehalten war, den Sachverhalt noch weiter aufzuklären, ist von seinem Standpunkt aus zu beurteilen; entscheidend ist nach ständiger Rechtsprechung, ob es sich hätte gedrängt fühlen müssen, weitere Gutachten einzuholen. Dies ist zu verneinen. Denn der Gutachter Dr. K, der Facharzt für Lungenkrankheiten ist und die Klägerin seit 1948 behandelt, hat unter eingehender Befundschilderung und unter Hinweis auf das Ausmaß der Thorakoplastik ausgeführt, daß bei einem derartigen Befund mit einer Erwerbsminderung von 70 v.H. seit der Entlassung aus der Heilstätte im September 1945 zu rechnen sei, wobei allein schon die Brustkorbentknochung allein mit über 50 v.H. zu bewerten sei; weiter hat er erwähnt, die Atemfunktion sei so erheblich eingeschränkt, daß bei der geringsten Belastung Kurzatmigkeit eintrete; ferner hat er darauf hingewiesen, daß nicht nur die rechte Seite der Lunge tuberkulös erkrankt sei, sondern daß auch auf der linken Seite tuberkulöse Herde vorhanden seien. Nachdem sich der Medizinalreferent der Beklagten dieser Beurteilung angeschlossen hatte, konnte das LSG. den Sachverhalt als genügend geklärt ansehen, zumal auch die Gerichtsärztin erklärt hatte, bei einer Thorakoplastik dieses Ausmaßes sei im allgemeinen Invalidität anzunehmen. Wenn sie trotzdem noch angeregt hat, den Behauptungen der Klägerin nachzugehen, sie habe von 1947 bis 1952 ihren Haushalt ordnungsgemäß versehen, so hatte das LSG. keinen Anlaß darauf einzugehen, weil die Klägerin keine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, sondern im eigenen Haushalt Arbeiten verrichtet hat, die sie weitgehend nach ihrem Willen einteilen konnte, und da nicht von der Hand zu weisen ist, daß sie auf Kosten ihrer Gesundheit gearbeitet hat, wie die 1952 eingetretene erhebliche Verschlimmerung zeigt.
Da die Klägerin seit 1945 invalide ist, sind die nachher entrichteten freiwilligen Beiträge nach § 1443 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F. unwirksam. Sie könnten nur auf die Wartezeit angerechnet werden, wenn die Beklagte ihre Wirksamkeit anerkannt hätte (§ 1445 Abs. 2 Satz 2 RVO a.F.). Die Klägerin meint, die Ablehnung der Rente wegen fehlender Invalidität und die Belehrung über eine weitere Beitragszahlung in dem angefochtenen Bescheid stelle ein Anerkenntnis dar. Dies ist jedoch zu verneinen. Wenn auch ein Anerkenntnis nicht in Form eines ausdrücklichen Bescheides abgegeben zu werden braucht, sondern stillschweigend vorgenommen werden kann, so setzt es begrifflich doch immer voraus, daß die betreffende Erklärung nach den allgemeinen Auslegungsvorschriften überhaupt als ein Anerkenntnis aufgefaßt werden kann. Wenn die Beklagte den Rentenantrag zunächst wegen fehlender Invalidität abgelehnt hat, so hat sie damit nicht verbindlich zum Ausdruck gebracht, daß die seit 1949 entrichteten Beiträge wirksam seien. Da sie annahm und in ihrem Bescheid zum Ausdruck brachte, daß damals keine Invalidität vorgelegen habe, bestand für sie ersichtlich kein Anlaß, zu der Frage der Erfüllung der Wartezeit und damit der Wirksamkeit der seit 1949 entrichteten Beiträge Stellung zu nehmen. Es steht einem Versicherungsträger frei, unter mehreren Ablehnungsgründen zu wählen. Stützt er die Ablehnung auf einen dieser Gründe, ohne die anderen Voraussetzungen des Anspruchs überhaupt geprüft zu haben, so ist er grundsätzlich nicht gehindert, im Laufe des weiteren Verfahrens das Begehren der Klägerin aus anderen, wenn auch mit dem zunächst genannten Grunde nicht im Einklang stehenden Erwägungen abzulehnen. Es kann ihm dann nicht entgegengehalten werden, er habe durch den ersten Bescheid den Anspruch in seinen übrigen Voraussetzungen anerkannt (vgl. Reichsversicherungsamt - RVA. - AN. 1910 S. 553). Denn der Bescheid ging offensichtlich von der Annahme aus, die Klägerin sei noch nicht invalide. - Auch die Belehrung über die Aufrechterhaltung der Anwartschaft kann nicht als Anerkenntnis der Wirksamkeit der bisher entrichteten Beiträge beurteilt werden. Die Beklagte ist bei dieser Belehrung auch für die Klägerin erkennbar davon ausgegangen, daß die Klägerin noch nicht invalide war. Nur unter dieser Voraussetzung ist die Belehrung über die Notwendigkeit weiterer Beitragsleistung im Interesse der Klägerin erfolgt, damit sie nicht bei einem späteren Rentenantrag Gefahr laufen sollte, wegen fehlender Anwartschaft mit ihren Ansprüchen abgelehnt zu werden. Das RVA. hat in einem gleichartigen Fall (EuM. 5 S. 289 ff.) ausgeführt, es sei immer eine Frage des Einzelfalls, ob in einer Belehrung ein Anerkenntnis zu erblicken sei oder nicht. Die Belehrung in dem angefochtenen Bescheid ist nur allgemein erfolgt, sie enthält keine Bezugnahme auf die besonderen Verhältnisse der Klägerin, sondern beschränkt sich auf die Wiedergabe der gesetzlichen Vorschriften und vermeidet es, auch für die Zukunft bestimmte Zusicherungen zu machen. Unter diesen Umständen hat der Senat im Anschluß an die Rechtsprechung des RVA. das Vorliegen eines Anerkenntnisses verneint.
Die Erklärung der Beklagten im Schriftsatz vom 1. September 1952, die Wartezeit sei erfüllt und die Anwartschaft bis zum 31. Dezember 1951 aufrechterhalten, ist ebenfalls kein Anerkenntnis der Wirksamkeit der Beiträge. Auch wenn in dem Schriftsatz kein Antrag enthalten ist, so hat doch die Beklagte nach den ganzen Umständen ihren Standpunkt, Rentenansprüche seien wegen fehlender Invalidität nicht gegeben, aufrechterhalten. Sie brauchte somit auch hier keine Prüfung der Wirksamkeit der Beiträge vorzunehmen; ihren trotzdem zur Frage der Erhaltung der Anwartschaft und Erfüllung der Wartezeit gemachten Ausführungen ist daher kein besonderes Gewicht beizulegen. Um von einem Anerkenntnis reden zu können, müßte auch hier im Anschluß an EuM. 5 S. 289 verlangt werden, daß in irgendeiner Form erkennbar eine Prüfung der Beiträge stattgefunden hat; diese ist auch in diesem Zeitpunkt des Verfahrens nach der gesamten Sachlage nicht erfolgt.
Schließlich hat entgegen der Auffassung der Klägerin das LSG. nicht gegen den Grundsatz des Verbots der reformatio in peius (Verschlechterung) verstoßen, wenn es die Ablehnung der Rentenansprüche nicht auf fehlende Invalidität gestützt hat, wie es die Beklagte zunächst in dem angefochtenen Bescheid getan hat, sondern auf die fehlende Erfüllung der Wartezeit. Der ablehnende Bescheid ist überhaupt nicht rechtskräftig geworden, so daß die Klägerin schon deshalb aus ihm keine Rechte herleiten kann. Wenn das OVA. und später auch das LSG. den ablehnenden Bescheid mit einer anderen Begründung bestätigt haben, als die Beklagte sie ursprünglich gegeben hat, so ist das nicht zu beanstanden. Denn damit wird nur der Inhalt des ablehnenden Verwaltungsaktes, nämlich die Ablehnung des Rentenanspruchs im Ergebnis bestätigt, ohne daß der angefochtene Verwaltungsakt in seinem Wesensgehalt dadurch verändert wird. Die Begründung, die die Beklagte ursprünglich ihrer Ablehnung gegeben hat, ist zwar für die Klägerin günstiger, weil eine fehlende Invalidität später noch eintreten kann, während eine fehlende Wartezeit nach Eintritt von Invalidität nicht mehr erfüllt werden kann. Aber die Begründung des Bescheids als solche gibt der Klägerin keine selbständigen Rechte, da es auf den Inhalt des Bescheids, die Ablehnung des Rentenanspruchs ankommt. In derartigen Fällen hat es - wie schon ausgeführt - der Versicherungsträger in der Hand zu entscheiden, auf welchen Ablehnungsgrund er die Versagung der Rente stützen will. Führt er nur einen Ablehnungsgrund im Bescheid an, so erkennt er damit nicht stillschweigend an, die anderen Voraussetzungen des Rentenanspruchs seien gegeben. Daher können die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit unabhängig von der Begründung durch den Versicherungsträger prüfen, welche Anspruchsvoraussetzungen gegeben sind und welche nicht. Das LSG. konnte daher den ablehnenden Rentenbescheid der Beklagten mit der Begründung bestätigen, die Wartezeit sei nicht erfüllt.
Die Revision war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2325475 |
BSGE, 248 |