Leitsatz (amtlich)

Vorschüsse auf die Verletztenrente stehen iS des RVO § 1278 Abs 4 der Verletztenrente gleich. Vor Auszahlung der Verletztenrente sind für die Berechnung des ruhenden Teils der Versichertenrente nur die Vorschußbeträge zu berücksichtigen.

 

Orientierungssatz

Zur Entschließung darüber, ob und in welchem Umfange die Erstattung der Leistung verlangt wird (RVO § 1301 nF), ist im Vorverfahren die Widerspruchsstelle berufen (SGG § 79 Nr 1).

 

Normenkette

RVO § 1278 Abs. 4 Fassung: 1957-02-23, § 1301 Fassung: 1957-02-23; SGG § 79 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. Dezember 1962 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Niedersachsen zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Beklagte verlangt von dem Kläger einen Betrag von DM 1.012,- zurück, den sie für die Zeit von August 1959 bis Juli 1960 - ihres Erachtens über die geschuldeten Rentenbeträge hinaus zu Unrecht -gezahlt hat. Die Beklagte meint, insoweit habe die von ihr wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligte Versichertenrente geruht (Bescheid vom 8. September 1960). Das Ruhen der Rente sei eingetreten, weil dem Kläger während dieser Zeit ein Vorschuß auf die demnächst zuerkannte Verletztenrente geleistet worden sei. Für den Eintritt des Ruhens nach § 1278 Abs. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei es gleich, ob die Verletztenrente als solche oder ein Vorschuß auf sie ausgezahlt werde.

Tatsächlich empfing der Kläger während der oben angegebenen Zeitspanne einen Vorschuß auf die Verletztenrente in Gestalt eines von der zuständigen Ortskrankenkasse im Auftrage und für Rechnung des Gemeindeunfallversicherungsverbandes gewährten Krankengeldes von täglich DM 10,-. Die Verletztenrente setzte der Träger der Unfallversicherung rückwirkend am 21. Oktober 1960 fest, also erst nach Ablauf der Zeit, in welcher der Kläger den hier umstrittenen Betrag erhalten hatte. Die Klage auf Aufhebung des die Rückforderung anordnenden Bescheides ist in den beiden ersten Rechtszügen abgewiesen worden.

Der Kläger hat das Berufungsurteil mit der von dem Landessozialgericht (LSG) zugelassenen Revision angefochten. Er meint, im Sinne des § 1278 Abs. 4 RVO komme eine Vorschußgewährung der Rentenzahlung nicht gleich. Folge man dem aber nicht, dann verlange § 1278 Abs. 4 RVO zumindest daß beim Ruhen der Rente nur die Höhe des Vorschusses auf die Verletztenrente berücksichtigt werde; das Ruhen werde nicht von einem künftigen, rückwirkenden Anerkenntnis der höheren Verletztenrente beeinflußt.

Der Kläger beantragt, die angegriffenen Urteile und den Bescheid der Beklagten aufzuheben, hilfsweise, die vorinstanzlichen Entscheidungen und den Bescheid der Beklagten dahin zu ändern, daß bei Anwendung der Ruhensbestimmungen statt der monatlichen Verletztenrente von DM 336,40 nur die Vorschußzahlung in Höhe von DM 300,- berücksichtigt werde.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig; sie hat aus einem verfahrensrechtlichen Grunde Erfolg.

Über den Sachanspruch des Klägers durfte bislang keine gerichtliche Entscheidung ergehen. Dem Rechtsstreit mußte ein Vorverfahren vorausgehen, weil mit der Klage ein Verwaltungsakt angefochten worden ist, dessen Regelung von einem Verwaltungsermessen abhängig zu machen war (§§ 78, 79 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Das folgt daraus, daß nach § 1301 RVO der Träger der Rentenversicherung Leistungen selbst dann nicht zurückzufordern braucht, wenn sie ohne Rechtsgrund erbracht worden sind. Zur Entschließung darüber, ob und in welchem Umfange die Erstattung der Leistung verlangt wird, ist im Vorverfahren die Widerspruchsstelle berufen. Auf ihre Ermessensentscheidung kann - auch im Interesse des Versicherten - nicht verzichtet werden. Nur dann käme es auf die Entscheidung der Widerspruchsstelle nicht an, wenn der von der Beklagten geltend gemachte Rückforderungsanspruch überhaupt nicht bestünde (vgl. BSG 9.8.62 - 4 RJ 355/60 -). Die Rückforderung ist aber im vorliegenden Streitfalle - wenn auch nicht der Höhe nach - zu Recht geltend gemacht worden.

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß die Versichertenrente aus der Rentenversicherung nur gekürzt zu gewähren war, weil gleichzeitig von dem Träger der Unfallversicherung ein Vorschuß auf die Verletztenrente gezahlt wurde. Für § 1278 Abs. 4 RVO steht die Gewährung eines Vorschusses auf die Verletztenrente der Zahlung dieser Rente gleich. Das folgt aus der Rechtsnatur, die dem Vorschuß im vorliegenden Zusammenhang eigen ist und aus der mit § 1278 Abs. 4 RVO verfolgten gesetzgeberischen Absicht.

Der Begriff "Vorschuß" hat in der Rechtssprache keine bestimmte, sich gleichbleibende Bedeutung. Der Ausdruck kann zur Bezeichnung gewisser Arten von Darlehen dienen; dann häufig unter gleichzeitig bedingter Aufrechnung des Darlehens mit bestimmten künftig entstehenden oder fällig werdenden Forderungen des Darlehensempfängers gegen den Darlehnsgeber. Davon zu unterscheiden ist der Vorschuß in Gestalt einer Erfüllungsvorleistung, die in Erwartung einer bestehenden, aber noch nicht fälligen oder noch nicht geklärten Schuld bewirkt wird ("Abschlags-", "Vorbehalts"-Zahlung). Im gegenwärtigen Fall ist nach den Umständen und der Willensrichtung der Beteiligten das letztere - die Voraberfüllung des Entschädigungsanspruchs - gemeint. Der Versicherungsträger hat das Geld nicht in der Absicht der Kreditgewährung gegeben. Ob der Vorschuß rechtlich anders zu qualifizieren wäre, wenn nicht der Versicherungsträger und damit der Rentenschuldner selbst, sondern ein Dritter, z. B. der Arbeitgeber, den Vorschuß gegeben hätte, kann dahinstehen.

Wird ein solcher Vorschuß neben der Versichertenrente gewährt, so verwirklicht dies, ebenso wie das Zusammentreffen der beiden Renten, den Tatbestand des § 1278 Abs. 1 RVO. Diese Vorschrift hat zur Aufgabe eine Leistungsbegrenzung. Die Einkünfte aus der Sozialversicherung sollen die Erwerbseinbuße ausgleichen, die der Versicherte infolge einer Minderung oder eines Verlustes seiner Arbeitskraft erlitten hat; sie sollen aber nicht zu einem dem Sinn der Sozialversicherung - wie jeder Versicherung - zuwiderlaufenden Gewinn führen. Die Summe der Einkünfte aus der Sozialversicherung soll nicht das Netto-Einkommen übersteigen, das der Berechtigte bei voller Arbeitsleistung erzielen würde. Das Renteneinkommen soll vielmehr in angemessenem Abstand unter dem entsprechenden Arbeitsentgelt liegen (vgl. Deutscher Bundestag, 2. Wp., 186. Sitzung vom 18.1.1957, S. 10399 C). Deshalb wird in § 1278 Abs. 1 RVO ein nach den individuellen Verhältnissen des Versicherten ausgerichteter Grenzwert festgelegt, der bei einer Mehrheit von Leistungen aus der Sozialversicherung nicht überschritten werden darf.

Für die Aufgabe, die dieser Grenzwert zu erfüllen hat, ist es gleichgültig, ob die Einzelleistungen, die in ihrer Summe über den zulässigen Höchstbetrag hinausgehen, verbindlich zugesprochen oder zunächst nur Vorschüsse im angegebenen Sinn sind. Infolgedessen fällt die vorschußweise Befriedigung eines Rentenanspruchs, der demnächst anzuerkennen sein wird, ebenfalls unter die Vorschrift des § 1278 Abs. 4 RVO.

Daran ändert nichts, daß die praktische Anwendung dieser Vorschrift in Fällen von Vorschußzahlungen nur bedingt möglich sein kann. Die Gesetzesregel läßt sich nicht stets sogleich befolgen. Denn der zulässige Höchstbetrag hängt von Voraussetzungen ab, die nicht immer von vornherein feststehen oder bekannt sind. Das Maximum von Renteneinkommen, von dem an überschießende Rentenerträge abgeschöpft werden, bemißt sich nicht allein nach den effektiven Leistungen, sondern wird durch einen Vergleich bestimmt; dieser Vergleich ist anzustellen zwischen 85 v. H. des der Verletztenrente zugrunde liegenden Jahresarbeitsverdienstes und 85 v. H. der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage. Die höhere von beiden Vergleichsgrößen ergibt die Ruhensgrenze. Um das Ausmaß des Ruhens bestimmen zu können, genügt es nicht, daß man die Vorschußbeträge kennt; es müssen vielmehr auch die Höhe des Jahresarbeitsverdienstes und die der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage bekannt sein. Der Jahresarbeitsverdienst wird mitunter noch erst zu ermitteln und bis dahin der anzustellende Vergleich nicht durchzuführen sein. Wie nun bei einer solchen Sachlage zu verfahren ist, ob - wie es die Beklagte vorschlägt - von einem Vergleich überhaupt abzusehen und der Grenzwert nur nach der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage zu bestimmen ist oder ob der Rentenversicherungsträger die Versichertenrente zwar (wegen Undurchführbarkeit des Vergleichs) zunächst voll auszuzahlen hat, sich bezüglich der Höhe seiner Leistung aber einen Widerruf vorbehalten kann, mag auf sich beruhen. Es soll auch nicht erörtert werden, ob sich der Rentenversicherungsträger vor etwaigen Verlusten dadurch sichern kann, daß er sich den möglichen Anspruch auf Nachzahlung der Verletztenrente in Höhe seiner denkbaren Überzahlungen abtreten läßt. Hier brauchte den angeschnittenen Fragen nicht näher nachgegangen zu werden, weil die Höhe des Jahresarbeitsverdienstes feststand und somit der maßgebliche Grenzwert bekannt war.

Übrig bleibt noch zu erörtern, in welchem Umfang die Versichertenrente geruht hat. Hierbei geht die Beklagte nicht von dem als Vorschuß ausgezahlten Betrage, sondern von dem später - rückwirkend - festgesetzten Betrage der Verletztenrente aus. Sie rechtfertigt ihre Auffassung damit, daß Abs. 4 des § 1278 RVO lediglich den Beginn des Ruhens betreffe, aber nicht die Auswirkung des Ruhens selbst regele. Diese Regelung sei in Abs. 1 des § 1278 RVO zu finden, und an dieser Stelle werde von der Verletztenrente, nicht aber von einem Vorschuß ausgegangen. Diesen Überlegungen ist nicht zuzustimmen. Sie würden in allen Fällen, in denen der Vorschuß - wie es in der Regel der Fall ist - der Höhe nach hinter der später bewilligten Rente zurückbleibt, nachträglich zu einer Korrektur der in der Vergangenheit bezogenen Versichertenrente führen. Das wäre ein unerwünschtes Ergebnis, weil in die Bezugsberechtigungen des Versicherten eine zusätzliche Ungewißheit hineingetragen würde; der Berechtigte wäre möglicherweise in der Zukunft einem Erstattungsanspruch ausgesetzt. Dies wäre mit der Zielsetzung des § 1278 Abs. 4 RVO schwerlich zu vereinbaren. Geht doch das Gesetz so weit, daß es bei einer Nachbewilligung der Verletztenrente für zurückliegende Bezugszeiten dem Berechtigten beide Renten ungekürzt zugute kommen läßt. Um so mehr muß es dem Willen des Gesetzes entsprechen, daß die Verletztenrente fürs erste nur in Höhe des Vorschusses berücksichtigt wird. Die Ruhensfolge soll nicht einer späteren rückschauenden Beurteilung unterworfen sein.

Welche Tragweite dieser gesetzgeberischen Erwägung überhaupt zukommt, ist hier nicht abschließend zu behandeln. Für den zu entscheidenden Fall trifft § 1278 Abs. 4 RVO bereits seinem Wortsinn nach zu. Deshalb hat die Versichertenrente nur insoweit geruht, als sie zusammen mit den auf die Verletztenrente gewährten Vorschüssen die Höchstgrenze des § 1278 Abs. 1 RVO überstieg (so auch für das frühere Recht: Reichsversicherungsamt AN 1931, 78; 1935, 250). In diesem Umfange ist die Rückforderung der Beklagten berechtigt. Damit die Widerspruchsstelle noch Gelegenheit hat, von ihrem Ermessen Gebrauch zu machen (§ 1301 RVO), hat der Senat den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 233

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