Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfall bei Fahrt zur Arbeitsstätte Anspruchsverlust bei Selbsttötung

 

Orientierungssatz

1. Zur Frage, wann bei einem tödlichen Verkehrsunfall eine Selbsttötungsabsicht unterstellt werden kann.

2. Die Entschädigungspflicht der gesetzlichen Unfallversicherung ist auch dann gegeben, wenn der Verletzte abgesehen von den in seiner Person liegenden Ursachenmomenten - nur deshalb so schwer verunglückt, weil die besonderen Verhältnisse der Unfallstelle dazu in wesentlichem Umfang beigetragen haben.

 

Normenkette

RVO §§ 556, 542, 543 Abs. 1

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. Dezember 1967 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch deren außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin ein Witwenrentenanspruch gegen die Beklagte zusteht. Die Beklagte hat das verneint, weil sich der Ehemann der Klägerin vorsätzlich getötet habe. Dem Rechtsstreit liegen folgende tatsächliche Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) zugrunde:

Der 1908 geborene Ehemann der Klägerin, A G, war als Brandmeister auf der Schachtanlage R in B beschäftigt. Am 3. Dezember 1962 befuhr er, von seiner Wohnung in G kommend, gegen 5.45 Uhr mit seinem Pkw die B Straße in Richtung B, wo er um 6.00 Uhr mit der Arbeit beginnen mußte. Zur gleichen Zeit näherte sich auf der von ihm gesehen rechten Straßenseite ein Straßenbahntriebwagen aus B. G der zunächst die Mitte der etwa 6 m breiten Fahrbahn, die trocken, nicht schadhaft und durch Neonleuchten ausreichend erhellt war und auf der zu dieser Zeit kein weiterer Fahrzeugverkehr herrschte, eingehalten hatte, fuhr in Höhe einer links von ihm einmündenden Straße plötzlich zur rechten Straßenseite hinüber und geriet dabei frontal gegen den entgegenkommenden Triebwagen. Er wurde schwer verletzt und verstarb noch vor Einlieferung in das Krankenhaus. Die nachträglich entnommene Blutprobe ergab keinen Alkoholgehalt. Der Triebwagenfahrer hat als einziger Augenzeuge ausgesagt, G Fahrweise sei zunächst nicht zu beanstanden gewesen; sie hätte ohne die plötzliche und ihm unverständliche Reaktion des Verstorbenen nicht zu dem Unfall geführt.

Die Unfallermittlungen ergaben, daß G bereits am 22. November 1962 einen Verkehrsunfall verursacht hatte, bei dem er einem anderen Verkehrsteilnehmer einen - wenn auch geringfügigen - Sachschaden zufügte. G entzog sich damals der Feststellung seiner Person, indem er sich von der Unfallstelle entfernte. Dieses Verhalten entschuldigte er am nächsten Tag bei der Polizei mit der - nicht zutreffenden - Behauptung, er habe zur Unfallzeit im Auftrag seiner Firma Lohngelder in Höhe von 150.000,- DM transportieren müssen und habe bei einem Verweilen an der Unfallstelle den Verlust des Geldes befürchtet. Seine Erklärung wurde durch ein auf einem Firmenbogen der Arbeitgeberin des Verstorbenen enthaltenen Schreiben vom 23. November 1962 bestätigt, das jedoch - wie sich bei einer Rückfrage herausstellte - nicht von der Firma stammte. Dem Schreiben vom 23. November folgte ein weiterer anonymer Brief vom 30. November 1962, in dem sich ein Unbekannter als Verfasser des Bestätigungsschreibens bekannte und die Polizei aufforderte, G in Frieden zu lassen und nicht vor Gericht zu bringen, "wenn Sie kein Menschenleben auf Ihrem Gewissen haben wollen". Angesichts dieser Vorgeschichte kam die Polizei in ihrem Schlußbericht vom 4. Januar 1963 zu dem Ergebnis, G habe wahrscheinlich freiwillig den Tod gesucht, da es für den tödlichen Zusammenstoß vom 3. Dezember 1962 keine andere plausible Erklärung gebe.

Mit Bescheid vom 25. Juli 1963 versagte die Beklagte der Klägerin eine Hinterbliebenenentschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV), weil ihr verstorbener Ehemann den Unfall nach dem Ermittlungsergebnis "vorsätzlich und in selbstmörderischer Absicht" herbeigeführt habe.

Dagegen richtet sich die Klage. Das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen erhob Beweis über das Verhalten G in den letzten beiden Wochen vor seinem Tode durch Vernehmung mehrerer Zeugen; es holte darüber hinaus ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von Regierungsmedizinaldirektor Dr. D vom 19. Januar 1965 über die Frage ein, wie das zum Unfall vom 3. Dezember 1962 führende Verhalten des Verstorbenen aus medizinischer S zu beurteilen ist. Das SG hob sodann den angefochtenen Bescheid der Beklagten auf und gab der Klage statt (Urteil vom 12. Januar 1966). Die Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil wurde vom LSG Nordrhein-Westfalen zurückgewiesen (Urteil vom 19. Dezember 1967): Die Voraussetzungen für den Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 586 i. V. m. §§ 543, 542 der Reichsversicherungsordnung alter Fassung (RVO aF) seien erfüllt, weil sich der Ehemann der Klägerin zum Unfallzeitpunkt auf dem direkten Weg zur Arbeit und damit auf einem dem Versicherungsschutz unterliegenden Weg befunden habe. Der Versicherungsschutz entfalle auch nicht gemäß § 556 RVO aF, weil eine vorsätzliche Verursachung des Unfalles nach dem Beweisergebnis zwar theoretisch möglich, aber nicht hinreichend wahrscheinlich sei. Die Möglichkeit einer vorsätzlichen Herbeiführung des Zusammenstoßes mit der Straßenbahn ergebe sich - wie der von der Beklagten beauftragte Sachverständige Dr. R in seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 15. März 1965 dargelegt habe - aus der Konfliktsituation, in der sich G am Unfalltag auf Grund der vorausgegangenen, mit dem Unfall vom 22. November 1962 in Zusammenhang stehenden Ereignisse befunden habe. Selbst wenn G als korrekter und gewissenhafter Mann, als der er von allen Zeugen geschildert worden sei, wegen der ihn belastenden Umstände unter einem starken seelischen Druck gestanden habe, so könne daraus - entgegen der Auffassung von Dr. R - kein Selbsttötungsvorsatz abgeleitet werden. Der Senat halte es in Übereinstimmung mit Dr. D vielmehr für wahrscheinlich, daß die innere Belastung in Verbindung mit einer Kreislaufanfälligkeit für das Fehlverhalten G bestimmend gewesen seien, ohne daß er den Unfall bewußt herbeiführen wollte. Der ärztlicherseits nachgewiesene schlechte Gesundheitszustand des Verstorbenen, der seit 1961 nach einer linksseitigen Oberlappenpneumonie mit toxischer Myocardbeteiligung vorgelegen habe, müsse auf jeden Fall berücksichtigt werden. Es sei daher für den Senat überzeugend, wenn Dr. D die angegriffene Gesundheit und eine Fehlreaktion als Folge des Verkehrsunfalls vom 22. November 1962 in gleichem Maße als wesentliche Ursachen für den Zusammenstoß vom 3. Dezember 1962 angesehen habe.

Die Beklagte hat gegen dieses Urteil die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und vertritt die Ansicht, das LSG habe nach dem ihm vorliegenden Beweisergebnis den tödlichen Zusammenstoß vom 3. Dezember 1962 nicht als einen Arbeitsunfall ansehen dürfen. Wenn es eine seelisch bedingte Fehlreaktion als Folge des Unfalles vom 22. November 1962 mit seinen Auswirkungen sowie den schlechten Gesundheitszustand G als wahrscheinliche Unfallursachen angesehen habe, so werde dadurch ein Arbeitsunfall nicht begründet. Es genüge nicht, daß sich G örtlich und zeitlich auf dem Wege zur Arbeit befunden habe, hinzukommen müsse vielmehr noch ein Zusammenhang des Unfallereignisses mit der betrieblichen Tätigkeit, an dem es jedoch nach den Feststellungen des LSG fehle.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Berufungsurteil für zutreffend.

II

Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Ziff. 1, 164 SGG); sie ist jedoch nicht begründet.

Das Berufungsgericht ist bei der Beurteilung der Frage, ob es sich bei dem Verkehrsunfall vom 3. Dezember 1962 um einen entschädigungspflichtigen Arbeitsunfall gehandelt hat, zu Recht von der Rechtslage vor Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 ausgegangen. Die durch das UVNG neugefaßten Unfallversicherungsvorschriften der RVO gelten grundsätzlich nur für Arbeitsunfälle, die sich nach Inkrafttreten des UVNG - also nach dem 1. Juli 1963 (vgl. Art. 4 § 16 Abs. 1 UVNG) - ereignet haben (Art. 4 § 1 UVNG).

Nach § 586 Abs. 1 Ziff. 2 RVO aF haben die Hinterbliebenen eines in der gesetzlichen UV Versicherten bei dessen Tod vom Todestag an einen Anspruch auf Rente, sofern der Tod auf einem Arbeitsunfall (vgl. § 542 RVO aF) beruht. Gemäß § 543 Abs. 1 RVO aF gelten als Arbeitsunfälle auch solche Unfälle, die sich auf einem mit der Tätigkeit in dem Unternehmen zusammenhängenden Weg nach und von der Arbeitsstätte ereignen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind nach den vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen, an welche der Senat mangels durchgreifender Revisionsrügen gebunden ist (§ 163 SGG), erfüllt. Danach befand sich der Verstorbene zum Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses auf dem Weg zur Arbeit. Der auf einer solchen Betriebsfahrt grundsätzlich bestehende Unfallversicherungsschutz ist im vorliegenden Fall nicht durch Umstände entfallen, die dem privaten Lebensbereich G zuzurechnen und damit betriebsfremd wären. Das gilt insbesondere von dem von der Beklagten geäußerten Verdacht einer Selbsttötung des Ehemannes der Klägerin. Eine vorsätzliche Herbeiführung des Schadensereignisses, die gemäß § 556 RVO aF zu einem Anspruchsverlust der Klägerin auf Hinterbliebenenentschädigung geführt hätte, wäre hier zwar nach den Gesamtumständen des Falles theoretisch möglich; sie kommt jedoch in Wirklichkeit als Ursache des tödlichen Zusammenstoßes nach den Feststellungen des LSG nicht in Betracht. Die entsprechenden Ausführungen in dem angefochtenen Urteil konnten insoweit zwar zunächst gewisse Zweifel erwecken, doch ist dem Gesamtzusammenhang dieser Gründe zu entnehmen, daß G nach der Überzeugung des LSG unfreiwillig verunglückt ist.

Das Berufungsgericht hat sich im Rahmen seiner Beweiswürdigung ausführlich mit den Gutachten von Dr. D und Dr. R auseinandergesetzt, da beide Sachverständigen die Kausalität des Unfalles vom 3. Dezember 1962 unterschiedlich beurteilt haben. Es ist dabei den Ausführungen Dr. D gefolgt und hat sich für überzeugt erklärt, daß sowohl der schlechte Gesundheitszustand des Verstorbenen bei starker seelischer Belastung als auch eine Fehlreaktion als Folge der mit dem Verkehrsunfall vom 22. November 1962 zusammenhängenden Ereignisse in gleichem Maße wesentlich für den Zusammenstoß waren, wobei die Wahrscheinlichkeit mehr für ein echtes Unfallgeschehen spreche. Diese Feststellung erscheint für sich allein gesehen nicht eindeutig; Zweifel bestehen insoweit insbesondere, in welcher Weise das LSG den von ihm gebrauchten Begriff "Fehlreaktion" verstanden will will, ob es damit ein unbewußtes Fehlverhalten oder eine bewußt herbeigeführte falsche Fahrweise meint. Diese Zweifel werden auch nicht dadurch beseitigt, daß nach Ansicht des LSG die Wahrscheinlichkeit mehr für ein "echtes" Unfallgeschehen spricht, denn damit ist ein eindeutiges Beweisergebnis für einen unfreiwilligen Schadenseintritt nicht festgestellt. Der Senat hält jedoch die zunächst im angefochtenen Urteil bestehenden Unklarheiten durch die ihrerseits eindeutigen Ausführungen des LSG am Ende der Entscheidungsgründe für behoben, wonach der von Dr. R als wahrscheinliche Unfallursache angesehene Selbsttötungsvorsatz des Verstorbenen nur als eine theoretische Möglichkeit für das Schadensereignis in Betracht kommt. Durch diese negative Feststellung gewinnen die positiven Feststellungen des LSG zur Kausalität am Anfang der Entscheidungsgründe einen eindeutigen Inhalt. Damit steht für den Senat fest, daß das LSG die Ursache des Unfalles vom 3. Dezember 1962 in einem unbewußten Fehlverhalten G gesehen und den Zusammenstoß als ein unfreiwilliges Geschehen festgestellt hat. Der Ursachenzusammenhang zwischen der Fahrt zum Arbeitsplatz und dem zum Tode G führenden Unfall ist nach allem nicht durch einen seinem privaten Lebensbereich zuzurechnenden Willensentschluß gelöst worden.

Das Schadensereignis verliert entgegen der Auffassung der Revision auch dadurch nicht seinen Charakter als Arbeitsunfall, daß seine auslösenden Ursachen in der auf persönlichen Gründen beruhenden inneren Verfassung des Verstorbenen begründet waren. Selbst wenn man solche Unfälle nicht als entschädigungspflichtige Arbeitsunfälle ansehen würde, wäre der betriebliche Zusammenhang doch jedenfalls in den Fällen zu bejahen, in denen zwischen der Beschaffenheit der Unfallstelle und der Verletzung oder ihrer Schwere ein rechtlich erheblicher Zusammenhang besteht (vgl. BSG in SozR Nr. 18 zu § 543 RVO aF sowie Brackmann, Handbuch der SozVers, 1. - 7. Aufl., Bd. II S. 480 r mit weiteren Nachweisen). So aber liegen die Umstände des vorliegenden Falles. Der Ehemann der Klägerin ist - abgesehen von den in seiner Person liegenden Ursachenmomenten - nur deshalb so schwer verunglückt, weil die besonderen Verhältnisse der Unfallstelle dazu in wesentlichem Umfang beigetragen haben. Nur weil zu der Zeit, als G seine Fahrtrichtung änderte, ihm eine Straßenbahn entgegenkam, konnte sich der Unfall in der besonders schweren Form eines frontalen Zusammenstoßes ereignen. Die wegeeigentümlichen und damit dem betrieblichen Bereich zuzurechnenden Ursachenfaktoren haben somit wesentlich mit zur Entstehung des Unfalls beigetragen.

Da nach allem die haftungsbegründende Kausalität des Unfalles vom 3. Dezember 1962 zu bejahen ist, haben die Vorinstanzen der Klage zu Recht stattgegeben. Die Revision der Beklagten war daher unbegründet; sie mußte zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648066

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