Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 04.03.1959)

SG Mannheim (Urteil vom 07.12.1956)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 4. März 1959 wird aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 7. Dezember 1956 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger verunglückte am 13. Juli 1955 gegen 5.00 Uhr durch einen Verkehrsunfall. Er fuhr auf der Autobahn von Heidelberg nach Mannheim mit seinem Kraftwagen auf einen vor ihm fahrenden Lastzug auf und zog sich dabei erhebliche Verletzungen zu. Der Kläger vertrat damals vorübergehend den Geschäftsführer der Firma St. KG in Mannheim und war dorthin unterwegs, als sich der Unfall ereignete. In seiner beruflichen Hauptstellung war er Angestellter der Firma St. Müllerei KG in Mauer bei Heidelberg. Am Abend des 12. Juli 1955 war er mit seinem Kraftwagen nach Mauer gefahren und hatte mit seinem dort wohnenden Vater, der persönlich haftender Gesellschafter der beiden angeführten St. Unternehmen war, geschäftliche Angelegenheiten besprochen. Anschließend nahm er an einem Fest der ADAC-Ortsgruppe in Leimen bei Heidelberg, das zu Ehren belgischer Motorsportler stattfand, als Sportreferent des Klubs teil. Die Veranstaltung dauerte die ganze Nacht über. Ohne geschlafen zu haben, trat der Kläger nach Beendigung des Festes die Fahrt nach Mannheim an. Er fuhr im Wagen allein. Nachdem er etwa 40 km zurückgelegt hatte, die letzten 5 km davon auf der Autobahn, nickte er ein und prallte auf den Lastzug auf.

Durch Strafbefehl des Amtsgerichts Heidelberg vom 19. August 1955 wurde gegen den Kläger wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs eine Geldstrafe von 100,– DM festgesetzt, weil er bei der ihm obliegenden Pflicht zur Selbstbeobachtung hätte erkennen müssen und können, daß er infolge Übermüdung nicht mehr fahrfähig war.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 28. März 1956 Entschädigungsansprüche mit der Begründung ab, der Kläger sei zur Unfallzeit infolge nicht betriebsbedingter Übermüdung außerstande gewesen, sein Kraftfahrzeug verkehrssicher zu führen, und habe deshalb keinen Arbeitsunfall erlitten.

Der Kläger hat diesen Bescheid rechtzeitig angefochten und mit der Klage geltend gemacht, die Teilnahme an der nächtlichen Veranstaltung habe ihm bei seinem Alter von erst 26 Jahren nichts ausgemacht, zumal da er keinen Alkohol genossen habe. Das Sozialgericht (SG) Mannheim hat durch Urteil vom 7. Dezember 1956 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Kläger sei auf der unfallbringenden Fahrt infolge Übermüdung nicht mehr fahrtüchtig gewesen. Da die Übermüdung die Folge betriebsfremder Umstände gewesen sei, habe sie wie in Fällen alkoholbedingter Fahrunfähigkeit des Kraftfahrers den Verlust des Versicherungsschutzes bewirkt. Der Kläger habe damals seine Nachtruhe der Wahrnehmung rein privater Motorsportinteressen geopfert. Eine den Versicherungsschutz erhaltende Bewertung der Ermüdungsursachen sei nicht möglich.

Hiergegen hat der Kläger mit Erfolg Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat am 4. März 1959 die Beklagte verurteilt, den Unfall des Klägers anzuerkennen und ihm die gesetzlichen Leistungen zu gewähren. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG im wesentlichen folgendes ausgeführt: Der Kläger habe die zum Unfall führende Fahrt angetreten, nachdem er in der vorangegangenen Nacht wegen einer mit seiner betrieblichen Tätigkeit nicht zusammenhängenden Teilnahme an einer ADAC-Veranstaltung nicht geschlafen habe. Seine darauf zurückzuführende Übermüdung sei daher durch eine seiner privaten Lebenssphäre zugehörende Betätigung verursacht worden. Gleichwohl werde dadurch der Versicherungsschutz nicht ohne weiteres ausgeschlossen; denn der Kläger sei infolge seiner Übermüdung nicht offensichtlich fahrunfähig gewesen. Anders als bei dem der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24. Oktober 1956 (BSG 4, 27) zugrunde liegenden Sachverhalt habe im vorliegenden Fall nicht bereits zu Beginn der Fahrt unüberwindliche Übermüdung des Kraftfahrers vorgelegen. Vielmehr habe der Kläger mit dem Kraftfahrzeug erst eine beträchtliche Strecke zurücklegen können, ehe er auf der Autobahn eingeschlafen sei. Mitursächlich hierfür seien die Eintönigkeit einer derartigen Fahrt und die Tätigkeit des Autolenkens überhaupt gewesen. Umstände also, die der versicherten Tätigkeit des Verunglückten zuzurechnen seien.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen dieses am 9. April 1959 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 2. Mai 1959 Revision eingelegt und sie gleichzeitig wie folgt begründet:

Das LSG habe verkannt, daß der Kläger, der spätestens zur Unfallzeit infolge Übermüdung fahrunfähig gewesen sei, den Versicherungsschutz ohne weiteres verloren gehabt habe. Nach der vom LSG angeführten Entscheidung des BSG sei entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht erforderlich, daß die Übermüdung bereits bei Antritt der Fahrt bestanden habe, um den Versicherungsschutz auszuschließen. Die Übermüdung könne auch unterwegs erst in Erscheinung treten und zunehmen. Insofern bestehe praktisch ein Unterschied zu den Fällen der Alkoholbeeinflussung des Kraftfahrers, die im allgemeinen vom Beginn der Fahrt an Fahrunfähigkeit bedinge.

Im übrigen sei die Feststellung des LSG, der Kläger sei bei Antritt der Fahrt noch imstande gewesen, sein Kraftfahrzeug verkehrssicher zu führen, nicht einwandfrei zustande gekommen. Nach allgemeiner Lebenserfahrung werde auch ein Mann in jüngerem Alter übermüdet, wenn er wie der Kläger 23. Stunden ununterbrochen wach gewesen sei. Einen allgemeinen Erfahrungssatz dafür, daß das Autolenken einschläfernd wirke, gebe es nicht.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Mannheim vom 7. Dezember 1956 zurückzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er meint, in Fällen der vorliegenden Art bedürfe es einer wertenden Entscheidung des zur Übermüdung führenden Verhaltens des Versicherten. Nur wenn diesem wegen der ihm bewußten Übermüdung zuzumuten war, die risikovolle Tätigkeit zu unterlassen, solle er den Versicherungsschutz verlieren.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–); sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, somit zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Die angefochtene Entscheidung beruht in tatsächlicher Beziehung auf der Feststellung, der Kläger sei nicht bereits bei Antritt der zum Unfall führenden Fahrt infolge Übermüdung fahrunfähig gewesen, sondern erst durch die anstrengende Tätigkeit des Autolenkens und die Eintönigkeit des Fahrens auf der Autobahn eingeschläfert worden.

Diese Feststellung ist von der Revision mit Verfahrensrügen angegriffen worden (§ 163 SGG). Einer Entscheidung über diese Rügen bedurfte es jedoch nicht. Die Revision ist auch begründet, wenn das Revisionsgericht bei der rechtlichen Nachprüfung des Sachverhalts an alle vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden ist.

Das LSG hat seine Entscheidung zutreffend auf die Frage abgestellt, ob die zum Unfall führende Übermüdung auf Umstände zurückzuführen ist, die ihre wesentliche Ursache in der betrieblichen Tätigkeit des Versicherten hat. Es hat dabei einen Rechtssatz angewandt, den der erkennende Senat in seinen Entscheidung zur Frage des Versicherungsschutzes bei Verkehrsunfällen von Kraftfahrern, die übermüdet waren oder unter Alkoholeinfluß standen, ausdrücklich gebilligt hat. In der einen Fall der Übermüdung betreffenden Entscheidung vom 24. Oktober 1956 (BSG 4, 27), auf die das angefochtene Urteil Bezug genommen hat, ist in Übereinstimmung mit der damaligen Rechtsprechung zur Frage des Versicherungsschutzes bei alkoholbedingter Fahrunfähigkeit von Kraftfahrern (BSG 3, 116) ausgeführt, daß ebenso wie bei Alkoholbeeinflussung die auf unüberwindlicher Übermüdung beruhende Fahruntüchtigkeit an sich ohne weiteres die Lösung vom Betrieb zur Folge habe, daß sie aber den Zusammenhang mit der versicherten Betriebstätigkeit nicht beeinträchtige, wenn die Übermüdung aus schließlich oder wesentlich auf Umstände des Betriebs zurückzuführen ist. Den Rechtsstandpunkt, für die Versagung der Entschädigungsleistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung genüge allein die Feststellung, daß der Kraftfahrer zur Unfallzeit infolge Alkoholgenusses oder Übermüdung fahruntüchtig war, hat der erkennende Senat inzwischen aus Anlaß der Entscheidung von Fällen der Alkoholbeeinflussung von Kraftfahrern aufgegeben. Nach seinem in BSG 12, 242 veröffentlichten Urteil vom 30. Juni 1960, auf das im einzelnen verwiesen wird, geht der ursächliche Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit nicht mehr ohne Rücksicht auf das Verhalten des Kraftfahrers im einzelnen verloren, vielmehr fehlt dieser Zusammenhang als Voraussetzung für den Versicherungsschutz erst, wenn die Fahruntüchtigkeit infolge Alkoholbeeinflussung, die mit dem Unternehmen bzw. der versicherten Tätigkeit nicht zusammenhängt, für den Eintritt des Unfalls die einzige rechtserhebliche Ursache im Sinne der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung herrschenden Kausallehre gewesen ist. Die in BSG 4, 27 ausgesprochene und näher begründete Gleichstellung von Alkoholbeeinflussung und Übermüdung als Ursache der Fahrunfähigkeit wird von der angeführten Änderung der Rechtsprechung des Senats nicht berührt. Es kommt nach wie vor auf die Beeinträchtigung der Fahrfähigkeit des Kraftfahrers an. Dabei bleibt es für die Beurteilung des Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit gleichgültig, ob das Fehlen dieser Fähigkeit auf Alkoholeinwirkung oder Übermüdung beruht. Somit schließt auch die auf Übermüdung zurückzuführende Fahruntüchtigkeit eines Kraftfahrers den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung aus, wenn sie als die alleinige rechtserhebliche Ursache des Unfalls anzusehen und die Übermüdung nicht wesentlich durch betriebliche Umstände hervorgerufen worden ist. Aus diesen Rechtsgründen ist im vorliegenden Falle der Versicherungsschutz zu verneinen.

Nach den Feststellungen des LSG über den Unfallhergang war der Kläger auf einen die Autobahn vorschriftsmäßig benutzenden Lastzug aufgefahren, weil er am Steuer seines Kraftwagens eingeschlafen war und dadurch die Herrschaft über das Fahrzeug verloren hatte. Bei dieser Sachlage hatte der Kläger den Unfall allein durch sein verkehrswidriges Verhalten herbeigeführt. Für die Annahme, daß weitere Umstände als rechtlich wesentliche Mitursachen für das Zustandekommen des Unfalls in Betracht kämen, insbesondere etwa auch der Fahrer des Lastzuges an dem Zusammenstoß Schuld trüge, ist nach den vorhandenen Unterlagen kein Anhalt ersichtlich.

Die rechtliche Wertung der Umstände, die zum Einschlafen des Klägers am Steuer führten, ist dem erkennenden Senat durch ausreichende tatsächliche Feststellungen des LSG ermöglicht. Dieses hat hierzu folgendes ausgeführt: Der Kläger sei wegen seiner Teilnahme an der festlichen Veranstaltung des ADAC am Morgen des Unfalltages aus nichtbetrieblichen Gründen übermüdet gewesen. Diese Müdigkeit habe ihn jedoch nicht gehindert, eine beträchtliche Strecke einwandfrei zu fahren. Daß er nach der Zurücklegung von etwa 40 km doch eingeschlafen sei, gehe zum Teil auch auf die Eintönigkeit des Fahrens auf der Autobahn und die Tätigkeit des Autolenkens überhaupt zurück.

Die Übermüdung des Klägers, die ihren sinnfälligen Ausdruck in dem Einschlafen während des Fahrens gefunden hat, beruhte sonach teils auf betriebsfremden und teils auf mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Gründen. Bei der Abwägung dieser Umstände hinsichtlich ihrer rechtlichen Bedeutung als Ursachen der Übermüdung ist der erkennende Senat zu dem Ergebnis gelangt, daß die unternehmensfremde Teilnahme des Klägers an der die ganze Nacht über dauernden Veranstaltung für seine während der Fahrt in Erscheinung getretene hochgradige Übermüdung allein ausschlaggebend war und daß demgegenüber für die Herbeiführung dieses Zustandes die mit dem Fahren des Kraftwagens verbundene Anstrengung nicht ins Gewicht fiel. Es wäre mit den Erfahrungen des täglichen Lebens nicht vereinbar, eine durch das Zurücklegen der Strecke von etwa 40 km am Steuer des Kraftwagens hervorgerufene Ermüdung neben den Auswirkungen einer durchwachten Nacht als rechtlich erheblich anzusehen. Der Senat hat hierbei nicht verkannt, daß längeres Fahren auf der Autobahn an den Kraftfahrer bei der, Bekämpfung von Ermüdungserscheinungen im allgemeinen besondere Anforderungen stellt. Da sich der Kläger aber erst etwa 5 km auf der Autobahn befand, als er verunglückte, kann die einschläfernde Wirkung einer solchen Fahrt nicht wesentlich mit zum Einnicken des Klägers geführt haben. Es liegt vielmehr auf der Hand, daß es hierzu nur gekommen ist, weil er übernächtig war. Die dadurch bedingte Übermüdung ist durch das Fahren auch nicht wesentlich verstärkt oder beschleunigt worden. Die vorangegangene Betriebstätigkeit war daher keine rechtlich erhebliche mitwirkende Ursache für die Übermüdung.

Eine abweichende Beurteilung rechtfertigt auch das Vorbringen des Klägers im Revisionsverfahren nicht. Er macht geltend, ein Versicherter, der aus „vernünftigen” Gründen bei seiner Arbeit übermüdet ist, dürfe den Versicherungsschutz nur verlieren, wenn für ihn der seine Leistungsfähigkeit beeinträchtigende Zustand erkennbar war. Diese Ansicht ist mit den Grundgedanken der gesetzlichen Unfallversicherung nicht vereinbar. Von einem derartigen Wertungsgesichtspunkt die Entscheidung über den Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit abhängig zu machen, käme der gesetzwidrigen Berücksichtigung schuldhaften Verhaltens des Versicherten, und zwar zu seinem Nachteil, gleich (§ 542 Abs. 2 RVO).

Der Kläger stand sonach im Zeitpunkt des Unfalls nicht unter Versicherungsschutz. Sein Entschädigungsanspruch aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist deshalb unbegründet. Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben und die Berufung als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Unterschriften

Brackmann, Demiani, Hunger

 

Fundstellen

BSGE, 68

MDR 1961, 633

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