Leitsatz (redaktionell)
1. Man darf die Prüfung, ob in der Ablehnung eines Zugunstenbescheides ein Ermessensmißbrauch liegt, nicht nur auf den verbindlichen alten Bescheid abstellen, sondern muß auch die tatsächlichen Verhältnisse berücksichtigen. Ein Festhalten an der Bindungswirkung eines Umanerkennungsbescheid ist nur dann ein Ermessensmißbrauch, wenn dieser Bescheid - ohne Rücksicht auf die durch BVG § 85 statuierte formale Bindungswirkung des Bescheides nach früherem Recht - offenbar unrichtig ist.
2. Wurde ein bestimmtes früher iS der Entstehung anerkanntes Leiden bei der Umanerkennung unbeschadet des BVG § 85 nur noch iS der Verschlimmerung anerkannt und hat der Beschädigte dagegen kein Rechtsmittel eingelegt, kann er sich später nicht mehr auf die frühere Anerkennung berufen. Es stellt auch keinen Ermessensmißbrauch dar, wenn der Beklagte an diesem Bescheid festhält und den Erlaß eines Zugunstenbescheides nach KOV-VfG § 40 Abs 1 ablehnt, weil nach den vorliegenden Gutachten die frühere Anerkennung als einer durch den Arbeitsdienst entstandenen Schädigungsfolge offensichtlich unrichtig war.
3. Es widerspricht pflichtgemäßem Verwaltungsermessen, wenn die Verwaltung von der Möglichkeit, gemäß KOV-VfG § 40 Abs 1 einen neuen Bescheid zugunsten des Berechtigten zu erteilen, keinen Gebrauch macht und sich auf die Bindungswirkung des alten Bescheides beruft, wenn dieser erkennbar und zweifelsfrei zum Nachteil des Versorgungsberechtigten gegen eine gesetzliche Vorschrift verstößt.
Normenkette
KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1955-05-02; BVG § 85 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 14. September 1961 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger bezog auf Grund eines Bescheides des Versorgungsamts IV Berlin vom 3. August 1943 wegen Lungenblähung mit asthmoiden Anfällen als Arbeitsdienstbeschädigung im Sinne der Entstehung eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um zuletzt 50 v. H. Mit Bescheid vom 22. Februar 1951 (Umanerkennungsbescheid) erkannte der Beklagte das Leiden unter Beibehaltung des bisherigen Grades der Erwerbsminderung weiter an, jedoch nur im Sinne der Verschlimmerung. Diesen mit Rechtsmittelbelehrung versehenen Bescheid focht der Kläger nicht an. Im Jahre 1955 beantragte er eine Rentenerhöhung wegen Verschlimmerung seines Leidens. Als der Beklagte diese abgelehnt hatte, machte der Kläger im anschließenden Sozialgerichtsverfahren geltend, der Umanerkennungsbescheid sei unrichtig, weil der Beklagte nach § 85 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) das Schädigungsleiden hätte auch weiter im Sinne der Entstehung anerkennen müssen. Daraufhin erklärte sich der Beklagte bereit, dieses Vorbringen als einen Antrag auf Erteilung eines Zugunstenbescheides zu bearbeiten. Er lehnte am 25. November 1958 die Erteilung eines solchen Bescheides ab, da die versorgungsärztliche Überprüfung ergeben habe, daß die Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung zutreffend und nicht zu beanstanden sei. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen.
Das Sozialgericht (SG) verurteilte den Beklagten zum Erlaß eines Zugunstenbescheides. Dagegen wies das Landessozialgericht (LSG) auf die Berufung des Beklagten die Klage ab: Der Bescheid vom 22. Februar 1951 sei bindend geworden. Obwohl der Beklagte verpflichtet gewesen sei, nach § 85 BVG das Leiden auch weiterhin als durch den Arbeitsdienst entstanden anzuerkennen, liege in der Ablehnung eines Zugunstenbescheides nach § 40 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) kein Ermessensmißbrauch, weil die Ablehnung auf einer eingehenden Würdigung des Sachverhalts, insbesondere auf den vorliegenden ärztlichen Gutachten beruhe. Das LSG ließ die Revision zu.
Der Kläger legte gegen das am 28. September 1961 zugestellte Urteil am 26. Oktober Revision ein und begründete sie am 9. November 1961.
Er trägt vor, die Anerkennung des Leidens als durch den Arbeitsdienst entstanden habe materielle Rechtskraft gehabt. Die nachfolgenden Bescheide des Beklagten seien daher nicht imstande gewesen, die durch den früheren Bescheid geschaffene Rechtslage zu ändern. Auch wenn die Bindungswirkung die Behörde nicht hindere, auf Grund neuer Regelungen einen neuen Verwaltungsakt zu erlassen, so dürfe die Lage, die der Betroffene infolge der Bindungswirkung im ersten Bescheid erlangt habe, nicht verschlechtert werden.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 14. September 1961 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Koblenz vom 18. September 1959 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist zulässig, konnte aber keinen Erfolg haben.
Der Beklagte hat sich 1958 nur bereiterklärt, den rechtskräftigen Umanerkennungsbescheid vom 22. Februar 1951 unter dem Gesichtspunkt des § 40 Abs. 1 VerwVG zu überprüfen. Deshalb kann dieser Verwaltungsakt durch das Gericht nicht uneingeschränkt nachgeprüft werden; denn die Beklagte hat nicht an Stelle des alten Bescheides einen neuen gesetzt (vgl. BSG 10, 248 und SozR SGG § 77 Nr. 21 und Nr. 22). Es ist daher nur eine Nachprüfung des nach § 40 Abs. 1 VerwVG ergangenen Bescheides möglich. Hiernach kann die Verwaltungsbehörde zugunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen. Dabei handelt es sich um die Einräumung einer Ermessenbefugnis. Der Beklagte hat alsdann unter Berücksichtigung der gesamten Umstände zu prüfen, ob er an dem bindend gewordenen Umanerkennungsbescheid festhalten will. Tut er dies, obwohl alles gegen die Richtigkeit spricht, so wird ein Ermessensmißbrauch anzunehmen sein. Demgemäß hat der 9. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 15. November 1961 (SozR VerwVG § 40 Nr. 3) ausgesprochen, wenn ein Bescheid erkennbar und zweifelsfrei zum Nachteil des Versorgungsberechtigten gegen eine gesetzliche Vorschrift verstoße, so widerspreche es dem pflichtgemäßen Verwaltungsermessen, auch wenn der Bescheid bindend geworden sei, daß die Versorgungsbehörde von der Möglichkeit, gemäß § 40 VerwVG einen neuen Bescheid zugunsten des Berechtigten zu erteilen, keinen Gebrauch mache und sich im gerichtlichen Verfahren auf die Bindungswirkung berufe.
Dieser Auffassung schließt sich der Senat an. Im Gegensatz zu dem von dem 9. Senat entschiedenen Fall ist aber hier das Festhalten an dem Umanerkennungsbescheid kein Ermessensmißbrauch, weil die Anerkennung des Leidens als Schädigung durch den Arbeitsdienst nur im Sinne der Verschlimmerung gerechtfertigt ist. Man darf die Prüfung, ob in der Ablehnung eines Zugunstenbescheides ein Ermessensmißbrauch liegt, nicht nur auf den verbindlichen alten Bescheid abstellen, sondern muß auch die tatsächlichen Verhältnisse berücksichtigen. Der Kläger kann sich nicht mehr auf die ursprüngliche Anerkennung berufen, weil er den Umanerkennungsbescheid nicht angefochten hat; § 85 BVG gilt nur für die erste Entscheidung nach dem BVG, nicht aber für spätere Entscheidungen, wenn die erste nach dem BVG nicht dem § 85 entspricht, aber nicht angefochten wurde (vgl. BSG, Urteil vom 14. Februar 1963 - 10 RV 63/60 -). Ein Festhalten an der Bindungswirkung des Umanerkennungsbescheides wäre daher nur dann ein Ermessensmißbrauch, wenn dieser Bescheid - ohne Rücksicht auf die durch § 85 BVG statuierte formale Bindungswirkung des Bescheids von 1943 - offenbar unrichtig wäre. Dies ist aber nach den von der Revision nicht angegriffenen und deswegen nach § 163 SGG für das BSG bindenden Feststellungen des LSG nicht der Fall. Denn nach den Gutachtern Dr. H, Dr. W, Dr. K und Dr. W ist das Leiden des Klägers konstitutionsbedingt und durch Einflüsse des Arbeitsdienstes nur verschlimmert worden, nicht aber entstanden.
Die Revision ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Fundstellen