Leitsatz (redaktionell)
Versicherungsschutz für einen bei kurzer Unterbrechung des in einem fremden Kraftwagen zurückgelegten Heimwegs erlittenen Verkehrsunfall.
Normenkette
RVO § 543 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 26. November 1962 und des Sozialgerichts Lübeck vom 6. Juni 1962 sowie der Bescheid der Beklagten vom 15. Dezember 1961 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird dem Grunde nach verurteilt, die Klägerin wegen der Folgen ihres Arbeitsunfalles vom 14. August 1961 zu entschädigen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Klägerin stieß am 14. August 1961 gegen 16,30 Uhr ein Verkehrsunfall zu. Sie befand sich auf der Heimfahrt von ihrer Arbeitsstätte in Hamburg-Bergedorf; den etwa 20 km langen Weg zu ihrer Wohnung in der H.-J.-Siedlung bei G. (G.) legte sie regelmäßig zusammen mit ihrem Sohn im eigenen Personenkraftwagen zurück. Am Tage des Unfalls zweigten sie kurz vor G. von der Bundesstraße 5 ab und fuhren durch die Stadt, weil die Klägerin dort Besorgungen erledigen wollte. Sie verließ auf der Bergedorfer Straße den Kraftwagen und überquerte zu Fuß die Fahrbahn, um zu einem auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindlichen Fischgeschäft zu gelangen. Dabei wurde sie von einem Kraftwagen angefahren und erheblich verletzt.
Die Beklagte lehnte den Entschädigungsanspruch durch Bescheid vom 15. Dezember 1961 ab, weil die Klägerin während einer privaten Zwecken dienenden Unterbrechung ihres versicherten Heimwegs verunglückt sei.
Im Klageverfahren hat die Klägerin vorgebracht, sie sei auf der Bergedorfer Straße in G. auch deshalb ausgestiegen, weil sie habe austreten müssen. Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat durch Urteil vom 6. Juni 1962 die Klage abgewiesen. Es ist der Ansicht, daß der Versicherungsschutz der Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls unterbrochen gewesen sei, weil sie auf der Bergedorfer Straße in G. die Erledigung privater Besorgungen beabsichtigt habe.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 26. November 1962 zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Zwar habe es sich bei der Fahrt durch die Stadt G. nicht um einen erheblichen Umweg gehandelt, so daß der Versicherungsschutz für die Zurücklegung des Heimwegs im Kraftwagen erhalten geblieben wäre. Die Klägerin habe sich aber nicht auf dieser Fahrt befunden, als sie verunglückt sei. Der Unfall sei vielmehr eingetreten, als sie nach dem Verlassen des Kraftwagens auf der Bergedorfer Straße im Begriff gewesen sei, die Straße zu überqueren, um auf der gegenüberliegenden Seite private Besorgungen zu erledigen. Der ursächliche Zusammenhang der zum Unfall führenden Betätigung der Klägerin mit dem Zurücklegen ihres Heimweges wäre daher nur gegeben, wenn es sich bei den beabsichtigten Verrichtungen um eine unbedeutende Unterbrechung des versicherten Heimweges gehandelt hätte (BSG in SozR RVO § 543 aF Bl. Aa 21 Nr. 28). Diese Voraussetzung sei im vorliegenden Fall nicht gegeben. Die Klägerin habe sich nicht nur an einem Automaten an der Straße bedienen, sondern ein Ladengeschäft betreten wollen, um sich Zubrot für das Abendessen zu besorgen; außerdem habe sie in dem Hause, in dem sich dieses Geschäft befunden habe, die Toilette aufsuchen wollen. Dazu komme, daß die Zurücklegung der Heimfahrt eine deutliche Zäsur durch das Verlassen des Kraftwagens und das anschließende Überschreiten der Straße aufweise. Während einer solchen Betätigung, die nicht mehr der Fortbewegung zur Wohnung hin gedient habe, sei der Versicherungsschutz unterbrochen worden.
Das LSG hat die Revision zugelassen, weil bei der nicht eindeutigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) im vorliegenden Streitfall eine noch ungeklärte Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden sei.
Das Urteil ist der Klägerin am 15. Dezember 1962 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 14. Januar 1963 Revision eingelegt und diese am 11. März 1963 innerhalb der verlängerten Frist (§ 164 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) wie folgt begründet:
Das LSG habe verkannt, daß unter den hier gegebenen Umständen das Besorgen der Lebensmittel auf der Heimfahrt von der Arbeitsstätte durch die betriebliche Beschäftigungsweise der Klägerin bedingt gewesen sei.
Die in der Entscheidung des BSG vom 30. Juni 1960 (SozR RVO § 543 aF Bl. Aa 21 Nr. 28) entwickelten Grundsätze müßten auch für die Beurteilung des vorliegenden Streitfalles gelten; denn es handele sich im wesentlichen um gleichliegende Sachverhalte. Unerheblich sei, daß sich die Klägerin in ein Ladengeschäft habe begeben wollen. Ausschlaggebend sei vielmehr, daß sich der Unfall noch auf der Straße ereignet habe, in deren Bereich die Klägerin ohne Beeinträchtigung ihres Versicherungsschutzes die Straßenseite hätte wechseln dürfen, wenn sie den Heimweg zu Fuß zurückgelegt hätte.
Der Ansicht des LSG, das Aufsuchen der Toilette sei grundsätzlich nicht der Zurücklegung des versicherten Heimweges zuzurechnen, stehe die Entscheidung des BSG vom 30. August 1962 (2 RU 112/62) entgegen.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres ablehnenden Bescheides zu verpflichten, der Klägerin mit ihrem neuen Bescheid eine Entschädigung aus Anlaß des Unfalls vom 14. August 1961 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie pflichtet den Ausführungen des angefochtenen Urteils bei.
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG); ebenso sind die sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzungen gegeben. Die Revision hatte auch Erfolg.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Klägerin am Tage des Unfalls einen nur unbedeutenden, für den Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF unschädlichen Umweg eingeschlagen hat, als sie auf dem Weg von ihrer Arbeitsstätte in Hamburg B. zu ihrer Wohnung in der H.-J.-Siedlung bei G. im Kraftwagen kurz vor G. von der Bundesstraße 5 abgewichen ist und durch die Stadt nach Hause fahren wollte (vgl. BSG 4, 219, 222; SozR RVO § 543 aF Bl. Aa 17 Nr. 21).
Der auf diesem Wegteil bestehende Versicherungsschutz ging der Klägerin nicht verloren, als sie die Fahrt in G. auf der Bergedorfer Straße nicht fortsetzte, sondern den Kraftwagen verließ und die Straße überquerte, um in einem Fischgeschäft auf der gegenüberliegenden Straßenseite Zubrot einzukaufen und in dem Haus, in dem sich das Geschäft befand, die Toilette aufzusuchen. Der Unfall, von dem die Klägerin betroffen wurde, als sie die Fahrbahn überschritt, ist daher dem Zurücklegen des versicherten Heimweges zuzurechnen. Die gegenteilige Auffassung des LSG hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Zwar setzte die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls ihren Heimweg nicht unmittelbar fort; denn der Zweck ihres Zwischenaufenthalts auf der Bergedorfer Straße in G. diente unzweifelhaft nicht dem Erreichen der Wohnung. Hierbei handelte es sich vielmehr um Verrichtungen, die ihrer Zielrichtung und Zweckbestimmung nach von der Zurücklegung des Heimweges eindeutig abgrenzbar sind. Trotzdem stand aber auch diese Betätigung der Klägerin mit dem Zurücklegen des Heimweges in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang. Freilich genügt es für die Annahme dieses Zusammenhanges nicht schon, daß die Klägerin die sich ihr auf der Heimfahrt bietende Gelegenheit wahrnahm, in G. Einkäufe zu besorgen, die, wie das LSG festgestellt hat, in der Wohnsiedlung mangels Vorhandenseins von Ladengeschäften nicht möglich gewesen wären. Wie aber der Senat in seinem zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteil vom 28. Februar 1964 - 2 RU 185/61 -, das einen dem vorliegenden Streitfall ähnlichen Sachverhalt betrifft, ausgeführt hat, ist auf einem nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF geschützten Weg nicht jede von der Zurücklegung des Weges örtlich abgrenzbare, ihr nicht unmittelbar dienende Tätigkeit rechtlich als eine Unterbrechung des Heimwegs zu werten. Eine solche Zwischentätigkeit hat die Unterbrechungswirkung nur, wenn sie nach Art und Umfang so erheblich ins Gewicht fällt, daß während ihrer Dauer die ursächliche Verknüpfung mit dem versicherten Zurücklegen des Heimwegs so in den Hintergrund gedrängt wird, daß sie als rechtlich unwesentlich unberücksichtigt bleiben muß.
Das LSG ist der unzutreffenden Meinung, der streitige Vorgang auf der Bergedorfer Straße sei von dem Zurücklegen der Heimfahrt rechtlich zu trennen, weil es sich um eine augenfällige Richtungsänderung des Wollens der Klägerin und nicht um eine nur "im Vorübergehen" zu erledigende Besorgung gehandelt habe. Wohl hätte die Klägerin im Unterschied zu dem der Entscheidung des Senats vom 30. Juni 1960 (SozR RVO § 543 aF Bl. Aa 21 Nr. 28) zugrunde liegenden Sachverhalt bei ihren beabsichtigten Verrichtungen das Haus, in dem sich das Ladengeschäft befand, betreten, die Straße also verlassen müssen. Auch hebt sich unzweifelhaft hier - anders als in dem früher entschiedenen Fall - das unfallbringende Tun deutlicher von dem unmittelbaren Heimweg ab. Indessen sind, wie den in dem oben angeführten Urteil des Senats vom 28. Februar 1964, auf das insoweit im einzelnen verwiesen wird, enthaltenen Darlegungen zu entnehmen ist, diese Umstände für sich allein nicht geeignet, die Tätigkeit der Klägerin vom Verlassen des Kraftwagens an als rechtlich so bedeutsam erscheinen zu lassen, daß sie losgelöst vom Zurücklegen des Heimwegs gewertet werden müßten. Eine abweichende rechtliche Beurteilungsweise ist nach der Begründung dieses Urteils nicht dadurch zu rechtfertigen, daß die Klägerin den Heimweg nicht zu Fuß, sondern im Kraftwagen zurücklegte. In dem angefochtenen Urteil ist insoweit ausreichend berücksichtigt worden, daß die Klägerin den restlichen Teil der Heimfahrt im Kraftwagen nach einem nur kurzen Zwischenaufenthalt fortgesetzt haben würde und daß sich das zum Unfall führende Geschehen im örtlichen Bereich der Straße abgespielt hat, auf der sich die Klägerin im Kraftwagen hätte fortbewegen müssen, um ihre Wohnung erreichen zu können.
Diese Umstände genügen aber nach Auffassung des erkennenden Senats, um die Annahme zu rechtfertigen, daß jedenfalls das Überschreiten der Straße mit der versicherten Arbeitstätigkeit der Klägerin in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang steht. Der bei diesem Überqueren eingetretene Unfall hat daher als Arbeitsunfall im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO aF zu gelten.
Bei diesem Ergebnis kann es dahingestellt bleiben, ob die beabsichtigten Besorgungen der Klägerin, deretwegen sie die Bergedorfer Straße überquerte, ihrer versicherten Arbeitstätigkeit zuzurechnen sind (hinsichtlich des Aufsuchens der Toilette vgl. Urteil des Senats vom 30. August 1963 in SozR RVO § 543 aF Bl. Aa 40 Nr. 45). Der gegen die Beklagte geltend gemachte Entschädigungsanspruch ist somit begründet.
Die Klägerin hat sich, wie den tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils zu entnehmen ist, bei dem Unfall den rechten Arm gebrochen. Art und Schwere der Verletzungsfolgen machen es wahrscheinlich, daß die Klägerin einen Leistungsanspruch in einer Mindesthöhe gegen die Beklagte hat. Demzufolge ist der Erlaß eines Grundurteils im Sinne des § 130 SGG gerechtfertigt (BSG in SozR SGG § 130 Bl. Da 3 Nr. 3 und Bl. Da 4 Nr. 4).
Es war daher unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und des den Entschädigungsanspruch ablehnenden Bescheids der Beklagten wie geschehen zu erkennen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen