Leitsatz (amtlich)

Lehnt ein Versicherungsträger eine Rentenleistung nach Ablauf der Verjährungsfrist des RVO § 29 Abs 3 ausschließlich wegen der Verjährung ab, so ist der Verwaltungsakt vor Erhebung der Klage in einem Vorverfahren nachzuprüfen (SGG § 79 Nr 1).

 

Normenkette

RVO § 29 Abs. 3 Fassung: 1924-12-15; SGG § 79 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 3. November 1965 wird als unzulässig verworfen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin als Rechtsnachfolgerin ihres am 24. Mai 1962 verstorbenen Vaters - des Versicherten - eine Rentendifferenz, die sich aus einer fehlerhaften Berechnung seiner Invalidenrente ergab, schon vom Rentenbeginn an (August 1944) oder erst seit dem 1. Oktober 1958 zusteht.

In dem angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 3. Dezember 1962 ist die Rente zwar unter Berücksichtigung der von der Klägerin vorgebrachten Beanstandung neu berechnet, die sich daraus ergebende Differenz aber nur für die Zeit vom 1. Oktober 1958 an gewährt worden; hinsichtlich der weiter zurückliegenden Rückstände ist die Verjährung nach § 29 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geltend gemacht worden.

Das Sozialgericht (SG) Hannover hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen. Vor dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat die Klägerin beantragt,

ihr die höhere Rente des Versicherten schon von August 1944 an unter Anrechnung der gezahlten Beträge zu gewähren,

hilfsweise,

die Beklagte zu verpflichten, ihr einen Widerspruchsbescheid zu erteilen.

Das LSG hat den Hauptantrag der Klägerin abgewiesen und die Beklagte dem Hilfsantrag entsprechend verurteilt. Es hat angenommen, gemäß § 79 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) müsse ein Vorverfahren durchgeführt werden, weil die Klägerin einen - im Verwaltungsverfahren nur teilweise erfüllten, im übrigen aber abgelehnten - Anspruch auf Erteilung eines Neufeststellungsbescheides nach § 1300 RVO verfolge; den erforderlichen Widerspruch habe die Klägerin eingelegt, die Beklagte habe sich zu Unrecht geweigert, einen Widerspruchsbescheid zu erteilen.

Die Beklagte hat - die vom LSG nicht zugelassene - Revision eingelegt. Sie sieht einen das Rechtsmittel statthaft machenden wesentlichen Verfahrensmangel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) vor allem darin, daß das LSG ein Vorverfahren als erforderlich bezeichnet und demgemäß, ohne über den Hauptantrag der Klage zu entscheiden, die Beklagte zur Erteilung eines Widerspruchsbescheides verurteilt hat.

Diese Rüge hat keinen Erfolg, weil das LSG die Voraussetzungen, unter denen ein Verwaltungsakt in einem Vorverfahren nachzuprüfen ist, im Ergebnis zu Recht als vorliegend erachtet hat. Ob, wie das LSG angenommen hat, ein Fall des § 79 Nr. 2 SGG gegeben ist, kann dahinstehen; jedenfalls liegen die Voraussetzungen des § 79 Nr. 1 SGG vor. Danach findet ein Vorverfahren statt, wenn mit der Klage die Aufhebung eines Verwaltungsakts begehrt wird, der nicht eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Diese Vorschrift wird nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) - auch des erkennenden Senats - dahin ausgelegt, daß nicht nur Verwaltungsakte, die eine echte Ermessensleistung ("Kann-Leistung") des Versicherungsträgers betreffen, in einem Vorverfahren nachzuprüfen sind, sondern - vorbehaltlich des § 81 SGG - auch solche, bei denen es um irgendwelche anderen, von einem Ermessen der Verwaltung beeinflußte Entschließungen geht. Dies ergibt sich aus dem Zweck des Vorverfahrens, der in erster Linie darin liegt, bei Ermessensentscheidungen überhaupt eine uneingeschränkte Prüfung zu ermöglichen; die Gerichte können nämlich in solchen Fällen nur prüfen, ob die Verwaltung die Grenzen ihres Ermessens eingehalten hat, nicht aber - wie es die Widerspruchsstelle darf - ihr eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltung setzen (BSG 3, 209, 215; SozR § 79 Nrn. 12 und 13; 4 RJ 355/60 vom 9. August 1962). Bei der Entscheidung, welche die Beklagte mit ihrem Bescheid vom 3. Dezember 1962 hinsichtlich der Rentendifferenz für die Zeit vor Oktober 1958 getroffen hat, handelt es sich - unabhängig davon, ob man darin einen Verwaltungsakt erblicken will, der, weil eine Rentenleistung in Frage steht, eine Leistung mit Rechtsanspruch betrifft - jedenfalls um eine Ermessensentscheidung in dem oben angeführten weiten Sinn. Ist der Verjährungstatbestand des § 29 Abs. 3 RVO - wie hier - erfüllt, so berührt dies den Anspruch des Versicherten auf die verjährten Rückstände nicht ohne weiteres. Die Durchsetzung des Anspruchs ist erst beeinträchtigt, wenn der Versicherungsträger sich - im Verwaltungsverfahren - auf die Verjährung beruft oder - im gerichtlichen Verfahren - die Einrede der Verjährung erhebt (BSG 6, 284, 288). Einen solchen dem Begehren des Versicherten entgegenwirkenden Schritt muß die Verwaltungsbehörde nicht tun. Es wäre wenig sinnvoll, wenn das Gesetz ihr nicht auch "freistellen" wollte, von diesem Schritt abzusehen; denn sie muß sich wegen ihrer Entschließung unter Umständen - wenn auch in einem Grenzbereich - vor dem Richter "verantworten" und sich möglicherweise sagen lassen, daß sie von ihrem "Recht" einen "unzulässigen Gebrauch" gemacht habe. Dem entspricht es, daß das Reichsversicherungsamt (RVA) in einem Rundschreiben vom 30. Juli 1941 betr. Soziale Rechtsanwendung u. a. ausgeführt hat, die Verjährungseinrede gegenüber Ansprüchen auf Erstattung von Beiträgen oder auf Leistungen (§ 29 Abs. 2 und 3 RVO) sei "jedenfalls dann nicht angebracht, wenn nur die - regelmäßig anzunehmende - Rechtsunkenntnis des Versicherten oder sonstige echte Hinderungsgründe die rechtzeitige Antragstellung verzögerten" (AN 1941 II 311). Soweit die Beklagte ausführt, die Erhebung der Einrede der Verjährung könne als Prozeßhandlung nicht gleichzeitig einen Verwaltungsakt darstellen, geht ihr Vorbringen am Kern der zu entscheidenden Rechtsfrage vorbei. Sie verkennt, daß sie nicht erst im Laufe des Prozesses auf die Verjährungsvorschriften hingewiesen hat - in diesem Falle wäre es zu gar keinem Rechtsstreit gekommen -, sondern daß sie die Gewährung der Rentendifferenz für die Zeit von 1944 bis Oktober 1958 durch Bescheid vom 3. Dezember 1962 allein aus dem Gesichtspunkt der Verjährung abgelehnt hat. Dabei handelt es sich um eine von § 79 Nr. 1 SGG mit umfaßte Ermessensentscheidung. Dieser Rechtsauffassung stehen die von der Beklagten erwähnten Entscheidungen des 1. und 12. Senats des BSG (BSG 19, 93 und 12 RJ 492/61 vom 28. November 1963) nicht entgegen, weil in ihnen die Frage des Vorverfahrens überhaupt nicht erörtert worden ist.

Da somit ein Vorverfahren stattzufinden hatte und die Klägerin den zur Einleitung dieses Verfahrens erforderlichen Widerspruch - nach der Auffassung des erkennenden Senats bereits mit dem an die Beklagte gerichteten Schreiben vom 19. Dezember 1962 - erhoben hat, sind gegen den Urteilsausspruch des LSG keine verfahrensrechtlichen Bedenken zu erheben.

Auch die weiteren Mängelrügen der Beklagten haben keinen Erfolg.

Der Beklagten ist das rechtliche Gehör weder dadurch versagt worden, daß sie von der Anfrage des Berichterstatters an die Klägerin, ob sie einen Hilfsantrag auf Verurteilung der Beklagten zur Erteilung eines Widerspruchsbescheides stellen wolle, keine Kenntnis erhalten, noch dadurch, daß das LSG sie nicht vor Erlaß seines Urteils auf den sich aus § 79 Nr. 2 SGG ergebenden Gesichtspunkt hingewiesen hat. Zu dem Hilfsantrag der Klägerin konnte sich die Beklagte äußern, nachdem er gestellt war; tatsächlich hat sie hierzu auch nach ihrem eigenen Vorbringen in zwei Schriftsätzen (vom 4. und 8. Mai 1964) Stellung genommen. Ebensowenig war die Beklagte gehindert, Ausführungen zu der sich aus § 79 Nr. 2 SGG ergebenden Rechtsfrage zu machen.

Die Rüge der Revision, das LSG hätte durch Befragung der Beklagten feststellen müssen, was sie mit dem angefochtenen Bescheid habe zum Ausdruck bringen wollen, entbehrt der nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG erforderlichen Substantiierung. Sie erledigt sich im übrigen auch dadurch, daß die Revision am Schluß der Begründungsschrift ausführt, der Bescheid vom 3. Dezember 1962 sei "für den ihn unvoreingenommen und objektiv Betrachtenden selbst eine ausreichende Grundlage für die Feststellung, was mit ihm beabsichtigt worden war".

Unsubstantiiert ist schließlich auch die Rüge, das LSG habe das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend gewürdigt. Zur Erläuterung eines - hier offenbar gemeinten - Verstoßes gegen § 128 Abs. 1 SGG genügt nicht der Hinweis, daß ohne einen solchen Verstoß das Berufungsgericht nicht zu dem von ihm erarbeiteten Ergebnis hätte kommen können.

Die somit nicht statthafte Revision muß als unzulässig verworfen werden (§ 169 SGG).

Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380267

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