Orientierungssatz
Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, daß eine Beitragserstattung vor der Vertreibung die Anrechnung einer Beschäftigungszeit nicht schlechthin ausschließt.
Der Begriff "ausländisch" iS des FRG § 16 bezieht sich jedenfalls für den Fall der Beitragserstattung nach reichsgesetzlichen Vorschriften auf das angewandte Recht; hierfür ist also unerheblich, daß die Beiträge an einen Empfänger erstattet worden sind, der außerhalb der Grenzen des deutschen Reiches nach dem Stand vom 1937-12-31 wohnte.
Normenkette
FRG § 16 S. 1 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1309a Fassung: 1937-12-21
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 1. Juli 1965 und das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 11. September 1963 werden teilweise aufgehoben. Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 28. August 1962 verpflichtet, bei der Berechnung der Versichertenrente der Klägerin deren Beschäftigungszeiten nach Vollendung des 16. Lebensjahres bis zum 30. September 1938 als anrechnungsfähige Versicherungszeiten zu berücksichtigen.
Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin - Vertriebene aus dem Sudetenland - bezog Rente wegen Berufsunfähigkeit von November 1957 an. Der Rentenbewilligung waren Versicherungszeiten zu Grunde gelegt worden, die die Klägerin vom 1. Juli 1926 bis 1945 im Sudetenland zurückgelegt haben wollte. Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) hatte mangels sonstiger Nachweise den Angaben der Klägerin und eines Zeugen über die Versicherungszeiten der Klägerin Glauben geschenkt, sich aber vorbehalten, die Rentengewährung ganz oder teilweise wieder "einzustellen", wenn sich die Anspruchsvoraussetzungen als nicht gegeben herausstellen sollten. Später erfuhr die Beklagte aus den ihr von der Zentralsozialversicherungsanstalt P übersandten Unterlagen, daß der Klägerin 1944 aus Anlaß ihrer Heirat (20. Januar 1944) Beiträge erstattet worden waren. Aus diesem Grunde entzog die Beklagte der Klägerin durch Bescheid vom 28. August 1962 die Rente, weil mit den von der Erstattung nicht erfaßten Beiträgen die Wartezeit nicht erfüllt war.
Die Klage ist in den beiden Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts - SG - Gelsenkirchen vom 11. September 1963 und Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Nordrhein-Westfalen vom 1. Juli 1965). Das LSG entnahm die Befugnis der Beklagten zur Neuprüfung der Rentenangelegenheit aus § 1744 Abs. 1 Nr. 6 der Reichsversicherungsordnung (RVO); die Beklagte sei erst nachträglich in die Lage versetzt worden, die für das Versicherungsverhältnis der Klägerin bedeutsamen Urkunden zu benutzen. Aus diesen Beweismitteln hat das Berufungsgericht - wie die Beklagte - die Überzeugung geschöpft, daß der Klägerin die Beiträge 1944 erstattet worden waren. Daraus hat es gefolgert, daß diese ihre vorher erworbenen Ansprüche verloren habe (§ 1309 a RVO aF iVm § 36 der VO über die endgültige Regelung der Reichsversicherung in den ehemaligen tschechoslowakischen, dem Deutschen Reich eingegliederten Gebieten - Sudetenverordnung - vom 27. Juni 1940 - RGBl I 957 -). Seines Erachtens schließt die Beitragserstattung nicht nur die Anrechnung der Beiträge, sondern auch die Berücksichtigung der im Vertreibungsland verbrachten Beschäftigungszeiten (§ 16 des Fremdrentengesetzes - FRG -) aus. Der entgegenstehenden Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG 20, 287) ist es nicht beigetreten. § 16 FRG, so hat es ausgeführt, ergebe unmittelbar nur, daß die dort näher bezeichneten Beschäftigungszeiten Beitragszeiten gleichzustellen seien. Die rechtlichen Auswirkungen dieser Regelung seien dagegen nicht - wie das BSG angenommen habe - aus § 16 FRG, sondern aus § 14 FRG zu bestimmen. Diese Gesetzesvorschrift verweise auf die allgemeinen Vorschriften der Rentenversicherung, also auf die RVO und damit auch auf § 1309 a Abs. 4 RVO aF über den Ausschluß von Ansprüchen aus den bis zur Erstattung entrichteten Beiträgen.
Die Klägerin hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Sie beantragt, die angefochtenen Urteile und den angegriffenen Bescheid der Beklagten aufzuheben. Sie beanstandet die Feststellung, daß sie anläßlich ihrer Eheschließung im Jahre 1944 einen Antrag auf Beitragserstattung gestellt habe und daß ihr der Erstattungsbetrag ausgefolgt worden sei. Sie meint, das LSG hätte diese Feststellung nicht treffen dürfen, ohne ihr - der Klägerin - vorher Gelegenheit zur Erklärung über den Sachverhalt zu geben. In sachlich-rechtlicher Beziehung beruft sich die Klägerin auf das in BSG 20, 287 veröffentlichte Urteil.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision hat zum Teil Erfolg.
Es kann auf sich beruhen, ob das LSG einwandfrei festgestellt hat, daß der Klägerin nach ihrer Heirat im Jahre 1944 Beiträge aus der Rentenversicherung erstattet worden sind. Zwar wären Ansprüche aus den bis zur Erstattung zurückgelegten Beitragszeiten ausgeschlossen (§ 1309 a RVO idF des Gesetzes vom 21. Dezember 1937; Art. 2 § 28 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -), der Klägerin sind aber diese Zeiten als Zeiten der Beschäftigung in einem ausländischen Vertreibungsgebiet gutzubringen (§ 16 Satz 1 FRG). In den in BSG 20, 287 und SozR Nr. 4 zu § 16 FRG veröffentlichten - den Beteiligten bekannten - Urteilen ist dargelegt worden, daß eine Beitragserstattung es nicht ausschließt, eine Beschäftigungszeit einer Beitragszeit gleichzustellen. Die Auslegung des FRG, insbesondere seines § 16 darf sich nicht ausschließlich an den gebräuchlichen Maßstäben des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherungen orientieren, vielmehr muß dem Ziel der sozialen und wirtschaftlichen Eingliederung der Vertriebenen, dem dieses Gesetz dient, Rechnung getragen werden. Der Senat hat, auch nach erneuter Prüfung der Sach- und Rechtslage, keine Veranlassung, von seiner bisherigen Meinung abzugehen.
Mit Rücksicht auf die Ausführungen des Berufungsgerichts zu den erwähnten Urteilen des BSG wird noch folgendes hinzugefügt:
Mit der Überlegung, daß die Rechte der Klägerin durch die Beitragserstattung abgegolten seien, kommt das Berufungsgericht auf das Entschädigungsprinzip zurück, von dem das frühere Fremdrentenrecht beherrscht war. Das neue Fremdrentenrecht, wie es seinen Niederschlag im FRG gefunden hat, ist gekennzeichnet durch das Streben nach der Eingliederung der Vertriebenen. Das Berufungsgericht hat sich von der Entschädigungsidee leiten lassen, indem es angenommen hat, daß eine Vertriebene keinen versicherungsrechtlichen Nachteil durch die Vertreibung erlitten habe, wenn sie schon vorher ihre Rechtsposition in der Rentenversicherung des Herkunftslandes aufgegeben hatte. An einen Ausgleich oder Ersatz für erlittene Einbußen knüpft jedoch § 16 FRG nicht an. Die mit der Abwicklung früherer Versicherungsverhältnisse zusammenhängenden Fragen läßt das Gesetz an dieser Stelle außer Betracht. Stattdessen hat das FRG eine neue konstitutive Ordnung geschaffen.
Durch die Eingliederung, wie sie das FRG erreichen will, sollen die Vertriebenen so gestellt werden, als ob sie im Bundesgebiet versicherungspflichtig beschäftigt gewesen wären. Dazu meint nun das Berufungsgericht, daß die Klägerin, wenn für sie im Bundesgebiet Beiträge zunächst entrichtet, später aber erstattet worden wären, ihre Rechtsposition verloren hätte. Diese Folgerung verfehlt die positive Richtung des gesetzgeberischen Gedankens. Dem Eingliederungsgebot wird nur dadurch genügt, daß ein nach dem FRG privilegierter Vertriebener einem solchen einheimischen Versicherten gleichgestellt wird, dessen Versicherungsverhältnis noch Bestand hat und wirksam ist. Es geht um die derzeitige Lage der Betroffenen und um ihre soziale und wirtschaftliche Sicherung heute. Indem das FRG unmittelbar an den Grundtatbestand der Versicherung - die Beschäftigung gegen Entgelt - anknüpft und von weiteren individuellen Umständen absieht, kann es das Bestehen einer Versicherung im Herkunftslande offenlassen und auch weitere Fragen ersparen, wie die des nachträglichen Anspruchsverlustes und die Anrechnung etwa im Verlaufe des Versicherungsverhältnisses bereits gewährter Leistungen und ihrer Bewertung. Das Gesetz kommt damit zu einer Vereinfachung, die zudem praktisch ist und Erleichterungen - z.B. in Beweisfragen - verschafft.
Die Meinung des Berufungsgerichts, daß bei der vom BSG vertretenen Rechtsansicht die in § 14 FRG ausgesprochene Verweisung auf die allgemeinen Rentenversicherungsvorschriften außer Betracht geblieben sei, vermag nicht zu überzeugen. § 14 FRG wirkt dem § 16 FRG nicht entgegen. Beide Vorschriften stehen nicht im Verhältnis von Regel und Ausnahme zueinander; § 14 engt den Anwendungsbereich des § 16 nicht ein. Beide Gesetzesbestimmungen sind einem einheitlichen Gesetzeswillen untergeordnet und in der gleichen Richtung zu deuten. § 14 FRG trägt zur Eingliederung dadurch bei, daß die Rechte und Pflichten der Vertriebenen ebenso zu beurteilen sind wie die Rechtsbeziehungen der derzeit nach der RVO Versicherten.
Der Klägerin sind also die Zeiten der nach Vollendung des 16. Lebensjahres im Sudetenland verrichteten Beschäftigungen als Versicherungszeiten anzurechnen. Hiervon sind jedoch die Zeiten nach dem 30. September 1938 bis zur Beitragserstattung auszunehmen, weil für sie Beiträge zur reichsgesetzlichen Invalidenversicherung entrichtet worden sind (§ 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO idF des FANG vom 25. Februar 1960; § 1 Abs. 1 der Verordnung über die vorläufige Durchführung der Reichsversicherung in den sudetendeutschen Gebieten vom 12. Oktober 1938 - RGBl I 1437 -; § 72 Abs. 2 Buchst. a der Sudetenverordnung) und sie deshalb nicht unter § 16 Satz 1 FRG fallen. In bezug auf diese Beiträge ist die rechtsvernichtende Wirkung der Beitragserstattung eingetreten (vgl. BSG SozR Nr. 4 zu § 16 FRG). Der erkennende Senat ist nicht gehindert, dies wiederholt auszusprechen. Zwar hat der 1. Senat des BSG in der Zwischenzeit entschieden (SozR Nr. 7 zu § 16 FRG), Beschäftigungszeiten seien auch dann "im Ausland zurückgelegt worden, wenn sie in einem Gebiet außerhalb der Grenzen des deutschen Reichs nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 verbracht wurden. Ob sich der erkennende Senat dieser Auffassung anschließen würde, kann bei der Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits auf sich beruhen. Der 1. Senat hat nämlich keine Entscheidung für den Fall treffen wollen, daß Beiträge nach den früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung entrichtet worden waren. Für diesen Fall ist aber der in Betracht kommende Rechtsanwendungsbereich vollständig durch § 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO ausgefüllt. Nach der Meinung des erkennenden Senats sind Überschneidungen mit § 16 FRG ausgeschlossen. Denn Beiträge, die nach Reichsrecht aufgewendet wurden, sind "schon aufgrund der RVO, des Angestelltenversicherungsgesetzes und des Reichsknappschaftsgesetzes anzurechnen, gleichgültig, wann und wo sie entrichtet sind" (Bundestagsdrucks. III 1109 S. 39). Zu den nach Reichsrecht entrichteten Beiträgen sind nicht nur die Beiträge zu zählen, die im früheren Reichsgebiet nach dem Gebietsstand vom 31. Dezember 1937 geleistet wurden; vielmehr gehören dazu auch die in "angegliederten" Gebieten, also auch die nach dem 30. September 1938 im Sudetenland entrichteten und auf deutschem Recht beruhenden Beiträge (so ausdrücklich: Bundestagsdrucks. III 1109 S. 46). Für diese Beiträge ist die Rechtsfolge der Erstattung zu beachten.
Die Beklagte wird nunmehr die Rente neu festzustellen haben und dabei die Beschäftigungszeiten der Klägerin berücksichtigen müssen, die diese nach Vollendung des 16. Lebensjahres bis zum 30. September 1938 zurückgelegt hat. Entsprechend sind die Vorentscheidungen aufzuheben.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 Abs. 1, 4 SGG.
Fundstellen