Leitsatz (amtlich)
Solange die nach § 99 Abs 9 AKG iVm § 72 G131 für eine fiktive Nachversicherung erforderliche Entscheidung der zuständigen Versorgungsdienststelle über die Erfüllung der dienstrechtlichen Voraussetzungen nicht vorliegt, steht § 1260c Abs 2 RVO der Berücksichtigung einer Ersatzzeit nicht entgegen (Anschluß an und Bestätigung von BSG 1984-02-16 1 RJ 12/83).
Normenkette
RVO § 1251 Abs 1 Nr 1, § 1260c Abs 2 Fassung: 1982-12-20; AKG § 99 Abs 9; G131 § 72
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 01.10.1982; Aktenzeichen L 3 J 83/82) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 04.03.1982; Aktenzeichen S 11 J 222/81) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die rentensteigernde Berücksichtigung einer Ersatzzeit.
Der 1921 geborene Kläger war vom 17. August 1940 bis 8. Mai 1945 als längerdienender Freiwilliger Angehöriger der Deutschen Kriegsmarine und anschließend bis zum 4. September 1945 in Kriegsgefangenschaft. Für die Zeit vom 1. Februar 1945 bis 15. März 1945 wurden aufgrund einer Abkommandierung zum Arbeitseinsatz beim N. L. Pflichtbeiträge entrichtet. Vor und nach dem Kriege war er versicherungspflichtig beschäftigt.
Nachdem er den beim Landesamt für Besoldung und Versorgung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf gestellten Antrag auf Nachversicherung wieder zurückgezogen hatte, beantragte er am 3. Februar 1981 bei der Beklagten die Vormerkung der Kriegsdienstzeit als Ersatzzeit. Dieses Begehren lehnte die Beklagte mit dem Hinweis auf die Möglichkeit einer fiktiven Nachversicherung nach § 99 Allgemeines Kriegsfolgengesetz -AKG- ab (Bescheid vom 31. März 1981). Den Widerspruch des Klägers gab sie mit dessen Zustimmung gemäß § 85 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) an das Sozialgericht (SG) ab, nachdem sie noch vorher mit Bescheid vom 12. Oktober 1981 dem Kläger vorgezogenes Altersruhegeld nach § 1248 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) gewährt hatte. Dabei wurden die Zeiten vom 19. August 1940 bis 31. Januar 1945 und vom 16. März bis 8. Mai 1945 als versicherungsfrei angesehen. Die Zeit vom 1. Februar bis 15. März 1945 war als Pflichtbeitragszeit und die Kriegsgefangenschaft vom 9. Mai bis 4. September 1945 als Ersatzzeit berücksichtigt.
Das SG verpflichtete die Beklagte, die Zeit vom 17. August 1940 bis 8. Mai 1945 als Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO anzuerkennen und rentensteigernd zu berücksichtigen (Urteil vom 4. März 1982). Das Landessozialgericht (LSG) wies auf die Berufung der Beklagten die Klage insoweit ab, als diese verpflichtet worden war, die Zeit vom 1. Februar bis 15. März 1945 als Ersatzzeit anzuerkennen. Darüber hinaus wies es die Berufung im wesentlichen mit folgender Begründung zurück: Mit Ausnahme der Zeit vom 1. Februar bis 15. März 1945, für die Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden seien, erfüllten die übrigen Zeiten den Ersatzzeittatbestand des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO und seien nach Abs 2 dieser Vorschrift auch anrechenbar. Dieser Anrechenbarkeit stünden § 72 Abs 10 G 131 bzw § 99 Abs 9 Satz 2 AKG nicht entgegen, da eine Feststellung über die fiktive Nachversicherung iS dieser Vorschriften seitens der Versorgungsbehörde noch nicht getroffen worden sei. Solange diese durch förmlichen Bescheid nicht erfolgt sei, könne diese Zeit auch nicht als Beitragszeit gelten, so daß es auf ein Recht des Klägers zur fiktiven Nachversicherung nicht ankomme. Für ihn bestehe auch keine Verpflichtung, die Durchführung der fiktiven Nachversicherung zu beantragen (Urteil vom 1. Oktober 1982).
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und stützt sich dabei auf § 1260c Abs 2 RVO.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 1. Oktober 1982 aufzuheben und die Klage abzuweisen; hilfsweise beantragt sie, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Das LSG hat zu Recht die Voraussetzungen einer Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO bejaht, weil der Kläger nach den von der Revision nicht angegriffenen und deshalb für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG in der noch streitigen Zeit militärischen Dienst geleistet hatte. Es hat des weiteren ohne Rechtsfehler auch die rentensteigernde Anrechnung dieser Zeit auf das dem Kläger gewährte Altersruhegeld nach § 1251 Abs 2 RVO angenommen.
Der Berücksichtigung der genannten Ersatzzeit steht nicht - wie die Beklagte meint - § 1260c Abs 2 RVO entgegen. Diese erst durch Art 19 Nr 33 des Gesetzes zur Wiederbelebung der Wirtschaft und Beschäftigung und zur Entlastung des Bundeshaushalts (Haushaltsbegleitgesetz 1983) vom 20. Dezember 1982 (BGBl I, 1857) eingefügte Vorschrift ist am 1. Januar 1983 und damit erst nach Erlaß des angefochtenen Urteils (1. Oktober 1982) in Kraft getreten (Art 38 Abs 1 Haushaltsbegleitgesetz 1983). Gleichwohl ist die Neuregelung vom erkennenden Senat im Revisionsverfahren zu beachten, weil sie das vorliegende Streitverhältnis erfaßt (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, Anm 8 zu § 162, S 744/745). Die neue Vorschrift gilt nämlich nach Art 2 § 14b Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) idF des Art 22 Nr 4 Haushaltsbegleitgesetz 1983 auch für Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1983, es sei denn, über einen Anspruch ist eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung getroffen worden. Letzteres trifft hier hinsichtlich des nach § 86 Abs 1 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gewordenen und mit der Klage angefochtenen Altersruhegeldbescheides vom 12. Oktober 1981 nicht zu.
Nach § 1260c Abs 2 RVO werden - ua - Ersatzzeiten nicht berücksichtigt, soweit für dieselbe Zeit eine Nachversicherung möglich ist. Eine derartige Möglichkeit besteht indes hier nicht. Zwar kommt für den noch streitigen Zeitraum eine fiktive Nachversicherung des Klägers gemäß § 99 AKG in Betracht. Diese setzt jedoch eine Entscheidung der zuständigen Verwaltungsdienststelle über die Erfüllung der entsprechenden dienstrechtlichen Voraussetzungen (sog Nachversicherungsbescheinigung) voraus (vgl § 99 Abs 9 AKG iVm § 72 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen - G 131 - und Nr 11 der zu den §§ 72, 72b G 131 erlassenen Allgemeinen Verwaltungsvorschriften - VV - vom 20. Februar 1968, Beilage zum BAnz Nr 42). Der erkennende Senat ist deshalb mit dem Urteil des 1. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. Februar 1984 - 1 RJ 12/83 - der Auffassung, daß in diesen Fällen eine Nachversicherung nicht iS des § 1260c Abs 2 RVO "möglich" ist, wenn die erforderliche Entscheidung der Versorgungsdienststelle nicht ergangen ist. Er schließt sich der eingehenden Begründung im genannten Urteil des 1. Senats vollinhaltlich an.
Dabei hat sich der erkennende Senat noch zusätzlich von folgender Erwägung leiten lassen: Die - infolge der unverändert fortgeltenden §§ 99 AKG, 72 G 131 und der dazu erlassenen VV - auch nach Inkrafttreten des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 für die fiktive Nachversicherung notwendige Entscheidung der Versorgungsdienststelle beinhaltet einen Verwaltungsakt, über den im Streitfall nicht die Sozialgerichte zu entscheiden haben (vgl Nr 11 Abs 2 der VV zu §§ 72, 72b G 131). Würde man gleichwohl davon unabhängig allein aufgrund der Neuregelung in § 1260c Abs 2 RVO den Rentenversicherungsträgern und im Streitfall den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eine Prüfungskompetenz über die "Möglichkeit" der fiktiven Nachversicherung zubilligen, so wären im Einzelfall divergierende Entscheidungen in den verschiedenen Verwaltungs- und Rechtswegen nicht auszuschließen. Dies zeigt gerade das von der Beklagten in der heutigen mündlichen Verhandlung noch vorgelegte Schreiben des Landesamtes für Besoldung und Versorgung Nordrhein-Westfalen vom März 1984, wonach der Kläger im Falle eines - derzeit nicht vorliegenden - Nachversicherungsantrags abweichend von der im angefochtenen Rentenbescheid von der Beklagten zugrunde gelegten Auffassung nicht bereits ab 17. August 1940, sondern erst ab 17. August 1942 als nachversichert gelten würde. Eine Gesetzesauslegung, die derartige Widersprüche akzeptieren müßte, wäre mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes nicht zu vereinbaren. Solange der Gesetzgeber im Rahmen der fiktiven Nachversicherung gemäß den §§ 99 AKG, 72 G 131 an einer gesonderten und eigenständigen Entscheidung der Versorgungsdienststelle festhält, muß es vielmehr im Hinblick auf diese Grundsätze bei der bisherigen, dem Gesetzgeber bei Erlaß des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 bekannten Rechtsprechung des BSG verbleiben. Danach haben die Entscheidungen der Versorgungsdienststellen über die dienstrechtlichen Voraussetzungen der Nachversicherung für die Rentenversicherungsträger und im Streitfall auch für die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit konstitutive und bindende Wirkung (vgl BSGE 11, 63, 65; 41, 198, 200 = SozR 2600 § 45 Nr 11; BSGE 48, 211, 213 = SozR 2600 § 50 Nr 2; BSGE 54, 193, 197 = SozR 7250 § 72 Nr 7).
Da eine solche Entscheidung - wie das LSG für den Senat gemäß § 163 SGG ebenfalls bindend festgestellt hat - im Falle des Klägers seitens der zuständigen Versorgungsdienststelle nicht getroffen wurde, ist hier die Berücksichtigung der Ersatzzeit nicht iS des § 1260c Abs 2 RVO durch die Möglichkeit einer Nachversicherung für dieselbe Zeit ausgeschlossen. Dabei kann es nicht darauf ankommen, aus welchen Gründen der Kläger den - für eine Entscheidung der Versorgungsdienststelle notwendigen - Nachversicherungsantrag nicht gestellt bzw nicht aufrechterhalten hat. Wie der 1. Senat des BSG im Urteil vom 16. Februar 1984 aaO bereits im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl BSGE 41, 198, 201 = SozR 2600 § 45 Nr 11 und BSGE 48, 21, 213 = SozR 2600 § 50 Nr 2) ausgeführt hat, ist insoweit allein das Fehlen einer Nachversicherungsbescheinigung ohne Rücksicht auf die hierfür maßgebenden Gründe rechtserheblich.
Der Revision der Beklagten muß nach alledem der Erfolg versagt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen