Leitsatz (amtlich)
Ist zwischen den Parteien lediglich die Frage streitig, ob die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versorgungsberechtigten wegen besonderen beruflichen Betroffenseins im Sinne des BVG § 30 Abs 1 S 2 höher zu bewerten ist, so betrifft das Urteil des SG den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit; die Berufung ist in einem solchen Falle nach SGG § 148 Nr 3 aF ausgeschlossen
Normenkette
SGG § 148 Nr. 3 Fassung: 1958-06-25; BVG § 30 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1956-06-06
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt vom 16. Oktober 1958 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 5. Juli 1955 als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Durch Bescheid der Landesversicherungsanstalt Hessen vom 12. April 1951 wurde bei dem Kläger als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) "Absetzung des linken Oberschenkels oberhalb der Mitte" anerkannt und Rente auf Grund einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 80 v.H. gewährt. Einen Antrag des Klägers auf besondere Berücksichtigung seines Maurerberufs nach § 30 BVG lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 11. Oktober 1954 mit der Begründung ab, daß der Kläger in diesem Beruf außer der Lehrzeit (1929 bis 1932) nur drei Monate gearbeitet und die Tätigkeit als Lokheizer, die er seit dem Jahre 1938 ausgeübt habe, nicht wegen der Schädigungsfolge aufgegeben habe. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 3.1.1955).
Das Sozialgericht (SG.) Fulda hat durch Urteil vom 5. Juli 1955 die Klage abgewiesen, weil der Kläger sowohl den erlernten Maurerberuf als auch die Tätigkeit eines Heizers bei der Reichsbahn aus von ihm zu vertretenden Gründen aufgegeben habe und deshalb eine besondere Berücksichtigung des Berufs im Sinne des § 30 BVG nicht gerechtfertigt sei. In seinem Urteil hat es eine Rechtsmittelbelehrung dahin erteilt, daß nach § 148 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Rechtsmittel gegen seine Entscheidung nicht gegeben sei.
Durch Urteil vom 16. Oktober 1958 hat das Hessische Landessozialgericht (LSG.) die Entscheidung des SG. aufgehoben und den angefochtenen Bescheid "dahin abgeändert, daß der Grad der MdE. seit 1. August 1952 auf 90 v.H. festgestellt wird." Es hat die Revision nicht zugelassen. In den Entscheidungsgründen hat das LSG. ausgeführt, daß die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG. deswegen zulässig sei, weil nicht lediglich der Grad der MdE., sondern die Anwendung des § 30 BVG streitig sei. Dem Kläger stehe ein Anspruch auf eine höhere Bewertung der anerkannten Schädigungsfolge nach § 30 BVG zu, weil er infolge der Absetzung des linken Beines im Oberschenkel weder seinem erlernten Beruf als Maurer noch dem vor der Schädigung ausgeübten Beruf als Lokheizer nachgehen könne. Durch die Beschäftigung als Hilfsarbeiter auf verschiedenen Arbeitsplätzen in der Zeit von 1932 bis 1938 habe sich der Kläger keine neuen Kenntnisse und Fertigkeiten erworben, auf die er jetzt nach Eintritt des schädigenden Ereignisses verwiesen werden könne. Der Umstand, daß er bereits vor seiner Einberufung zur Wehrmacht seine Tätigkeit als Lokheizer aus von ihm zu vertretenden Gründen habe aufgeben müssen, rechtfertige nicht die völlige Außerachtlassung dieses Berufs. Aus welchen Gründen diese Tätigkeit bei der Reichsbahn habe aufgegeben werden müssen, sei für die Anwendung des § 30 BVG ohne Belang; denn der Kläger hätte ohne Absetzung des linken Beines im Oberschenkel die bei der Reichsbahn erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten als Lokheizer auch in einem anderen Unternehmen verwenden oder zumindest auf seinen erlernten Beruf als Maurer zurückgreifen können. Er sei daher in seinem Beruf nach § 30 BVG besonders beeinträchtigt und eine höhere Bewertung der anerkannten Schädigungsfolge um 10 v.H. sei somit geboten.
Gegen dieses am 5. Dezember 1958 zugestellte Urteil des Hessischen LSG. hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 30. Dezember 1958, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG.) am 2. Januar 1959, Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des Hessischen LSG. vom 16. Oktober 1958 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG. Fulda vom 5. Juli 1955 als unzulässig zu verwerfen.
Der Beklagte rügt einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, den er darin erblickt, daß das LSG. in der Sache selbst entschieden habe, obwohl die Berufung des Klägers durch Prozeßurteil nach § 148 Nr. 3 SGG als unzulässig hätte verworfen werden müssen. Der Beruf des Versorgungsberechtigten sei im Rahmen des § 30 BVG bei der Bemessung der MdE. entsprechend zu berücksichtigen. Die Frage, ob und inwieweit eine Erhöhung der MdE. unter diesem Gesichtspunkt zu erfolgen habe, betreffe daher den "Grad der MdE." im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG.
Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten gegen das Urteil des LSG. Darmstadt vom 16. Oktober 1958 zurückzuweisen.
Der Kläger hält das vom Beklagten angefochtene Urteil des Berufungsgerichts für zutreffend. Er ist insbesondere der Auffassung, daß in dem angefochtenen Bescheid vom 11. Oktober 1954 nicht eine Neufeststellung wegen Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 BVG getroffen worden sei. In diesem Bescheid sei vielmehr erstmals der Antrag des Klägers auf Berücksichtigung des Berufs im Rahmen des § 30 BVG abgelehnt worden. Es handele sich somit nicht allein um die Rentenerhöhung, sondern in der Hauptsache um die Berücksichtigung des § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG.
Die Parteien haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG); sie ist auch statthaft und somit zulässig, da der nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügte wesentliche Mangel des Verfahrens vorliegt. Das LSG. hat zu Unrecht eine Sachentscheidung getroffen, obwohl es die Berufung des Klägers als unzulässig hätte verwerfen müssen; dies stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar (vgl. BSG. 1 S. 283 für den umgekehrten Fall und BSG. 2 S. 229 (235)).
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 6. Juli 1955, der am 8. August 1955 beim LSG. eingegangen ist, Berufung gegen das Urteil des SG. Fulda vom 5. Juli 1955 eingelegt. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG. ist die Zulässigkeit dieser Berufung nach den §§ 143 ff. SGG in der Fassung vor dem Zweiten Gesetz zur Änderung des SGG vom 25. Juni 1958 (BGBl. I S. 409) zu beurteilen (BSG. 8 S. 135; SozR. SGG § 143 Bl. Da 2 Nr. 2 und 3). Nach § 148 Nr. 3 SGG a.F. können in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, wenn sie "den Grad der MdE." betreffen, es sei denn, daß die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Gewährung der Grundrente davon abhängt. Im vorliegenden Falle geht der Streit zwischen den Parteien nicht um die Schwerbeschädigteneigenschaft des Klägers oder die Gewährung der Grundrente, da dem Kläger durch Bescheid vom 12. April 1951 eine Rente auf Grund einer MdE. um 80 v.H. bewilligt worden ist. Die Berufung des Klägers ist daher nach § 148 Nr. 3 SGG a.F. nicht statthaft, wenn das Urteil des SG. lediglich den Grad der MdE. betrifft. Für die Frage des Berufungsausschlusses nach dieser Vorschrift kommt es hiernach darauf an, ob allein der Grad der MdE. streitig ist ohne Rücksicht darauf, aus welchen Rechtsgründen der Kläger eine Erhöhung seiner MdE. begehrt. Das LSG. hat - entgegen der durch das SG. erteilten Rechtsmittelbelehrung - die Zulässigkeit der Berufung ohne nähere Begründung bejaht, weil nicht lediglich der Grad der MdE., sondern die Anwendung des § 30 BVG streitig sei. Diese Auffassung ist jedoch rechtsirrig.
Nach § 30 Abs. 1 BVG ist die MdE. nach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen; sie ist höher zu bewerten, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten, begonnenen oder nachweislich angestrebten Beruf besonders betroffen wird. Die Prüfung, ob § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG im Einzelfalle Anwendung zu finden hat, erfolgt also im Rahmen der Prüfung, welcher Grad der MdE. dem Beschädigten wegen der anerkannten Schädigungsfolgen zuzubilligen ist. Denn die MdE. ist dann höher zu bewerten, wenn die Berücksichtigung der Körperschäden nach allgemeinen Grundsätzen nicht ausreicht, um die Nachteile auszugleichen, die dem Beschädigten gerade in seinem Beruf aus der Versehrtheit erwachsen sind (vgl. auch BSG., Urteil vom 18.2.1959 - 11/9 RV 1256/56 - und BSG. 10 S. 69). Die MdE. eines Versorgungsberechtigten ist daher sowohl nach seiner Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben als auch nach seinem beruflichen Betroffensein zu bewerten. Ist somit zwischen den Parteien lediglich - wie im vorliegenden Falle - die Frage streitig, ob die MdE. des Versorgungsberechtigten wegen des Vorliegens eines besonderen beruflichen Betroffenseins im Sinne des § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG höher zu bewerten ist, so betrifft das Urteil des SG. den Grad der MdE. im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG. Insoweit handelt es sich um eine reine Gradstreitigkeit im Sinne dieser Vorschrift, bei der die Berufung ausgeschlossen ist, ohne daß es für die Frage der Zulässigkeit der Berufung darauf ankommen kann, auf welche Rechtsgründe der Kläger sein Begehren auf Erhöhung der MdE. stützt. Auch bei der Schwerbeschädigteneigenschaft und der Gewährung der Grundrente handelt es sich um reine Gradstreitigkeiten. Der Gesetzgeber hat aber den Streit über die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Gewährung der Grundrente für so wichtig gehalten, daß er diesen Streit ausdrücklich von dem Berufungsausschluß ausgenommen hat. Darüber hinaus ist jedoch die Berufung in allen anderen Gradstreitigkeiten unzulässig, wie sich aus dem klaren Wortlaut des § 148 Nr. 3 SGG ergibt, der lediglich für die Schwerbeschädigteneigenschaft und die Gewährung der Grundrente eine Ausnahme macht. Hiergegen kann auch nicht eingewandt werden, daß hinsichtlich der Berücksichtigung des Berufs bei der Bemessung der MdE. nach § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG teilweise schwierige Rechtsfragen zu entscheiden sind. In solchen Fällen hat das SG. die Möglichkeit, die Berufung im Rahmen des § 150 Nr. 1 SGG zuzulassen, damit die Parteien gegebenenfalls die Entscheidung einer höheren Instanz über eine grundsätzliche Rechtsfrage herbeiführen können.
In diesem Zusammenhang kann noch auf ein Urteil des 10. Senats vom 12. August 1958 (BSG. 8 S. 79) hingewiesen werden. Dort ist entschieden worden, daß ein Streit über die Höhe der Ausgleichsrente im Sinne des § 148 Nr. 4 SGG auch dann vorliegt, wenn Streit darüber besteht, ob ein Schwerbeschädigter, der Ausgleichsrente bezieht, Anspruch auf erhöhte Ausgleichsrente für Familienangehörige nach § 32 Abs. 3 BVG hat. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt: "Die Erhöhung nach § 32 Abs. 3 BVG ist nur ein Bestandteil der Ausgleichsrente. Sind die Voraussetzungen des Anspruchs auf Ausgleichsrente nach Abs. 1 erfüllt, so kann jeder weitere Streit um die Ausgleichsrente nur ein Streit um ihre Höhe sein. Die Voraussetzungen, an welche die Erhöhung nach Abs. 3 geknüpft ist, sind, auch wenn sie von gewissen sachlich-rechtlichen Rechtsfragen abhängen, ebenso wie das sonstige Einkommen (§ 33 BVG) Sachverhalte, die nur für die Höhe der Ausgleichsrente bestimmend sind". Dem Sinne nach handelt es sich im vorliegenden Falle um ähnliche rechtliche Gesichtspunkte. Der Kläger erhält wegen der anerkannten Schädigungsfolgen eine Rente nach einer MdE. um 80 v.H.; er begehrt aber eine höhere MdE. mit der Begründung, daß er in seinem Beruf durch die Art der Schädigungsfolgen nach § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG besonders betroffen sei. Die Höhe der MdE. hängt also hier von einer sachlich-rechtlichen Frage - Berücksichtigung des Berufs nach § 30 BVG - ebenso ab wie bei der Prüfung, wie hoch die MdE. nach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen ist (§ 30 Abs. 1 Satz 1 BVG). Die Entscheidung derartiger sachlichrechtlicher Vorfragen ändert aber nichts daran, daß es sich um einen Streit über den Grad der MdE. im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG handelt.
Das Berufungsgericht hat hiernach zu Unrecht in der Sache selbst entschieden; es hätte die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG. Fulda vom 5. Juli 1955 nach § 148 Nr. 3 SGG als unzulässig verwerfen müssen. Der von dem Beklagten gerügte wesentliche Verfahrensmangel liegt somit vor; das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG. Fulda vom 5. Juli 1955 als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen