Entscheidungsstichwort (Thema)
Beleg des Rückkehrwillens
Leitsatz (redaktionell)
Aus der Meldung bei der Deutschen Botschaft in Buenos Aires zur Erfüllung seiner Wehrpflicht kann schon deswegen für sich allein kein Rückkehrwille nach Deutschland hergeleitet werden, weil die Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht gerade bei deutschen Staatsangehörigen in Übersee mit einer Rückkehr nach Deutschland nicht verbunden zu sein brauchte. Ein ernsthafter Wille zur Rückkehr nach Deutschland könnte nur dann angenommen werden, wenn er durch eine entsprechende objektive Handlungsweise in irgendeiner Form bekundet worden wäre.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 3. November 1970 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger eine Versichertenrente aus der Arbeiterrentenversicherung gewährt werden kann. Dies hängt davon ab, ob Zeiten eines Auslandsaufenthalts als Ersatzzeiten i.S. des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auf die Wartezeit anrechenbar sind (§§ 1249 Satz 1 und 2 a, 1250 Abs. 1 b, 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO).
Der im Jahre 1901 geborene Kläger hatte bis Januar 1924 für insgesamt 57 Monate Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter entrichtet. Seit 1924 lebt er in Argentinien. Er heiratete dort im Jahre 1927. Seine deutsche Staatsangehörigkeit gab der Kläger nach der Auswanderung nicht auf.
Den im Mai 1968 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte ab, weil die gesetzliche Wartezeit nicht erfüllt sei. Die Zeit vom September 1939 an könne nicht als Ersatzzeit berücksichtigt werden, da die vorgelegte Bescheinigung der Deutschen Botschaft in B vom 11. September 1939 über die Meldung des Klägers zur Erfüllung der Wehrpflicht nicht zum Nachweis einer verhinderten Rückkehr aus dem Ausland ausreiche (Bescheid vom 21. November 1968).
Die Klage und die Berufung des Klägers hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung gegen das klagabweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) im wesentlichen mit folgender Begründung zurück:
Die für die begehrte Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit zur Erfüllung der Wartezeit (§ 1247 Abs. 1 und 3 RVO) noch erforderliche Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO habe zur Voraussetzung, daß zwischen der Verhinderung der Rückkehr aus dem Ausland und feindlichen Maßnahmen ein ursächlicher Zusammenhang bestehe. Dies könne nur dann der Fall sein, wenn der Versicherte den ernsthaften Willen zur Rückkehr aus dem Ausland gehabt habe. Anderenfalls wäre der Auslandsaufenthalt freiwillig und damit der Versicherte nicht gehindert gewesen, Beiträge zur deutschen Sozialversicherung zu leisten; dann bestehe auch kein Grund, diese beitragslosen Zeiten zu ersetzen.
Aus der vom Kläger überreichten Auskunft der Deutschen Botschaft in R vom 15. Mai 1970 ergebe sich zwar, daß es für deutsche Staatsangehörige nach Ausbruch des 2. Weltkrieges infolge feindlicher Maßnahmen praktisch keine Möglichkeit mehr gab, nach Deutschland zurückzukehren. Es lasse sich jedoch nicht nachweisen, daß der Kläger im September 1939 oder später während des 2. Weltkrieges den ernsthaften Willen zur Rückkehr gehabt hat. Die Bescheinigung der Deutschen Botschaft vom 11. September 1939 reiche dazu in Verbindung mit den übrigen Umständen, wie sie damals beim Kläger vorgelegen haben, nicht aus. Der Kläger habe seit 1924 in Argentinien seinen Lebensmittelpunkt gehabt. Es habe für ihn kein Anlaß bestanden, nach Deutschland zurückzukehren. Aus der Meldung bei der Botschaft zu Beginn des Krieges lasse sich lediglich die Bereitschaft des Klägers zur Erfüllung seiner Wehrpflicht herleiten. Der Kläger habe auch nicht mehr vorgetragen.
Es könne dahingestellt bleiben, ob der Kläger - entsprechend seiner Behauptung - nach Beendigung des 2. Weltkrieges einen erneuten Entschluß gefaßt habe, nunmehr weiterhin in Argentinien zu bleiben. Die Tatsache, daß er bis heute in Argentinien lebe, sei zwar ein starker Hinweis darauf, daß der Rückkehrwille schon immer gefehlt habe, würde aber einen solchen nicht unbedingt ausschließen. Um diesen jedoch feststellen zu können, müßten weitere Umstände vorliegen, die den Schluß erlauben würden, daß der Kläger 1939 ernstlich die Absicht gehabt hat, den Mittelpunkt seines Lebens und seiner Erwerbsmöglichkeiten von Argentinien nach Deutschland zurückzuverlegen. Hierfür lägen aber weder nach den bekanntgewordenen Umständen noch nach dem Vortrag des Klägers Anhaltspunkte vor. Weder habe er in Argentinien etwa ein Beschäftigungsverhältnis aufgelöst oder eine selbständige Tätigkeit aufgegeben noch sonstige Vorbereitungen für eine Rückkehr auf längere Zeit getroffen (Urteil vom 3. November 1970).
Hiergegen hat der Kläger die vom LSG zugelassene Revision eingelegt, mit der er eine Verletzung des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO rügt.
Die Revision geht mit dem angefochtenen Urteil davon aus, daß "nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes die Anrechnung von Ersatzzeiten nach § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO nur dann möglich ist, wenn der jeweilige Versicherte ernsthaft zur Rückkehr in die Heimat entschlossen gewesen ist". Die eigentliche Problematik des Falles liege darin, ob die überreichten Unterlagen die Annahme eines Rückkehrwillens rechtfertigen. Dies sei entgegen der Auffassung des LSG zu bejahen. Aus dem im Berufungsverfahren verwerteten Gutachten der Deutschen Botschaft in Rio de Janeiro vom 15. Mai 1970 ergebe sich, daß auch die seit Jahrzehnten in Süd-Amerika ansässigen deutschen Staatsangehörigen diesen Willen hatten. Da nach dem Gutachten bei den wenigen Rücktransporten nur Angehörige des öffentlichen Dienstes berücksichtigt werden konnten, was unter den Deutschen in Südamerika alsbald bekannt gewesen sei, sei es nicht zulässig für die Annahme des Rückkehrwillens weitere Umstände wie etwa die Aufgabe einer beruflichen Tätigkeit oder die Veräußerung des Vermögens zu verlangen. Das LSG habe der vorgelegten Bescheinigung über die Meldung des Klägers bei der Deutschen Botschaft vom 11. September 1939 zu Unrecht nur formelle Bedeutung beigemessen, was gerade daraus erhelle, daß der Kläger diese Bescheinigung noch 30 Jahre nach Ausbruch des 2. Weltkrieges besitzt. Auch habe das LSG bei seiner Argumentation die Entscheidung des 11. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. Juni 1965 - 11 RA 26/64 - nicht genügend beachtet.
Schließlich seien auch die Ausführungen des LSG über den Sinn der Ersatzzeitenregelung unzutreffend. Dieser sei darin zu sehen, daß die Ersatzzeiten ein Sonderopfer ausgleichen sollen, das der jeweilige Versicherte zu erbringen genötigt war. Entsprechend gründe sich der Anspruch auf Anrechnung der Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO auf die Tatsache, daß der Betreffende durch das Festhalten im Ausland genötigt gewesen sei, ein Sonderopfer zu erbringen. Unerheblich sei dagegen, was der rückkehrwillige Auslandsdeutsche während des 2. Weltkrieges in Deutschland gemacht hätte. Aus den im angefochtenen Urteil aufgeführten Gründen lasse sich somit der ernsthafte Rückkehrwille des Klägers weder bezweifeln noch widerlegen. Da demgemäß dem Kläger zu seiner Beitragszeit von 57 Monaten noch eine Ersatzzeit vom 1. September 1939 bis 8. Mai 1945 anzurechnen sei, müsse ihm die Erwerbsunfähigkeitsrente gewährt werden. Die Tatsache der Erwerbsunfähigkeit des Klägers sei zwischen den Beteiligten - soweit ersichtlich - nicht streitig.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie des Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 2. Dezember 1969 und des Bescheids der Beklagten vom 2. November 1968 zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit ab 1. Juni 1968 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen;
hilfsweise,
das Verfahren unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen;
hilfsweise,
den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Sie macht sich die Auffassung des Berufungsgerichts zu eigen.
II
Die Revision ist nicht begründet.
Das LSG hat zutreffend festgestellt, daß der Kläger die Wartezeit für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit von 60 Kalendermonaten (§§ 1246 Abs. 1 und 3, 1247 Abs. 1 und 3 RVO) nicht erfüllt hat.
Der Kläger kann nicht verlangen, daß auf die Wartezeit Ersatzzeiten nach § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO angerechnet werden. Die Anrechnung solcher Ersatzzeiten ist für Zivilpersonen vorgesehen, die während oder nach der Beendigung eines Krieges tatsächlich aus dem Ausland zurückgekehrt sind und die geltend machen können, daß ihre Rückkehr und die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung in Deutschland durch feindliche Maßnahmen verzögert worden sind (vgl. BSG 16, 26, 28). Sie sollen für den dadurch bedingten Beitragsausfall durch Anrechnung einer Ersatzzeit entschädigt werden. Der Kläger ist jedoch nicht zurückgekehrt.
Als an der Rückkehr aus dem Ausland verhindert könnte er allenfalls dann angesehen werden, wenn er einen entsprechenden Rückkehrwillen gehabt hätte, dessen Durchsetzung an feindlichen Maßnahmen gescheitert ist. Das LSG hat einen solchen Willen des Klägers während der streitigen Zeit zu Recht verneint.
Der Kläger vermag seinen angeblichen Rückkehrwillen allein mit der Bescheinigung der Deutschen Botschaft in B vom 11. September 1939 zu belegen. Es ist bereits nicht auszuschließen, daß - unter Berücksichtigung der damaligen Machtverhältnisse, insbesondere aufgrund der Seeblockade durch die Alliierten - der Kläger mit der Meldung bei der Botschaft allein einer formalen Pflicht nachgekommen ist. Im übrigen wird in der Bescheinigung der Botschaft nur bestätigt, daß sich der Kläger dort zur Erfüllung seiner Wehrpflicht gemeldet hat. Aus dieser Meldung kann schon deswegen für sich allein kein Rückkehrwille nach Deutschland hergeleitet werden, weil die Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht - unter Berücksichtigung der damaligen weltweiten Kriegsschauplätze - gerade bei deutschen Staatsangehörigen in Übersee mit einer Rückkehr nach Deutschland nicht verbunden zu sein brauchte.
Überdies verkennt die Revision, daß die Leistung militärischen Dienstes während des 2. Weltkrieges ebenfalls eine Ersatzzeit wäre (§ 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO). Die Rückkehr nach Deutschland allein zu dem Zweck der Wehrdienstleistung könnte somit auch nach dem Sinn der Ersatzzeitenregelung, nämlich eine infolge außergewöhnlicher Umstände nicht zu erwartende Beitragsleistung zu ersetzen, nicht zur Berücksichtigung einer Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO führen. Ansonsten würde im Ergebnis lediglich eine nach den gesetzlichen Voraussetzungen nicht gegebene Ersatzzeit durch eine andere ersetzt.
Das LSG hat daher zutreffend die Rückkehr i.S. des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO von dem Willen des Klägers abhängig gemacht, den Mittelpunkt seines persönlichen und wirtschaftlichen Lebensbereichs während und nach dem 2. Weltkrieg wieder nach Deutschland zu verlegen. Zur Erforschung des wahren Willens durfte dabei das LSG - wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 28. Januar 1970 (- 12 RJ 552/65 -) betont hat - in einer rückschauenden Betrachtungsweise aus der ganzen Lebensgestaltung des Klägers den Schluß ziehen, daß der Kläger den bereits seit dem Jahre 1924 in Argentinien geschaffenen und für die Dauer berechneten Lebenskreis auch nach Ausbruch des 2. Weltkrieges bewußt dort fortgesetzt hat. Ein ernsthafter Wille zur Rückkehr nach Deutschland könnte nur dann angenommen werden, wenn er durch eine entsprechende objektive Handlungsweise des Klägers in irgendeiner Form bekundet worden wäre. Eine solche vermag die Revision - mit Ausnahme der nicht beweiskräftigen Meldung bei der Botschaft - nicht zu benennen. Auch auf die vorgelegt Stellungnahme eines früheren Angehörigen der Deutschen Botschaft in R kann die Revision den Rückkehrwillen im konkreten Fall des Klägers nicht stützen. Dies schon deswegen, weil die Stellungnahme primär die damaligen Verhältnisse in Brasilien betrifft und überdies viel zu allgemein gehalten ist, um daraus gerade beim Kläger einen während der gesamten streitigen Zeit bestehenden, ernsthaften Rückkehrwillen ableiten zu können.
Entgegen der Ansicht der Revision kann auch nicht allgemein unterstellt werden, daß die im Ausland lebenden deutschen Staatsangehörigen bei Ausbruch des 2. Weltkrieges alle nach Deutschland zurückkehren wollten. Ein derartiger Erfahrungssatz kommt nur für diejenigen Deutschen in Betracht, die - wie beispielsweise Seeleute und Auslandsreisende - ihren Wohnsitz im Inland hatten und vom Ausbruch des Krieges im Ausland überrascht wurden. Dagegen kann von einer Rückkehr i.S. des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO bei ohnehin bestehendem Dauerwohnsitz im Ausland nicht gesprochen werden. Zwar hat der 11. Senat im Urteil vom 23. Juni 1965 (SozR Nr. 13 zu § 1251 RVO) die Auffassung vertreten, daß ein Versicherter, der sich während eines Krieges im Ausland aufhält, "in aller Regel" den Willen haben wird, sich in den Staat zu begeben, in dem er nicht Ausländer, sondern Inländer ist - und zwar unabhängig davon, ob der Aufenthalt im Ausland als ein vorübergehender oder als ein dauernder beabsichtigt gewesen ist. Abgesehen davon, daß diese Entscheidung einen ganz anderen Sachverhalt betraf (ein in Rußland geborenes Kind deutscher Eltern wurde während des 1. Weltkrieges dort interniert und kam nach Kriegsende erstmals nach Deutschland), ist zu beachten, daß das Urteil noch vor Inkrafttreten des 1. Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) erging, durch welches die Vorschrift des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO ergänzt worden ist. Der Verhinderung der Rückkehr durch feindliche Maßnahmen in das Inland steht nunmehr das Festhalten im Ausland gleich. Die Gesetzesänderung berücksichtigt somit zusätzlich, daß die bereits bei Kriegsausbruch ständig im Ausland lebenden deutschen Staatsangehörigen durch feindliche Maßnahmen dort festgehalten worden sein konnten. Die Ergänzung wäre überflüssig, wenn auch bei ihnen ein allgemeiner Rückkehrwille zu unterstellen wäre (vgl. Koch/Hartmann, Kommentar zum Angestelltenversicherungsgesetz, Anm. III 2 d; Eicher/Haase, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 3. Aufl., Anm. 11 zu § 1251 RVO; Pappai in BABl 1965, 600). Andererseits würde der vom 11. Senat entschiedene Fall nunmehr ohnehin unter die Ergänzung des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO fallen.
Der Kläger hat indes nicht vorgetragen, daß er in der fraglichen Zeit in Argentinien etwa festgehalten worden ist. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger im streitigen Zeitraum wenigstens den Willen hatte, sein bisheriges Wohnsitz-Land zu verlassen, und zwar - anders als bei der Rückkehrverhinderung - nicht notwendigerweise in Richtung Deutschland.
Aus diesen Gründen mußte der Revision der Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen