Entscheidungsstichwort (Thema)

Erfordernis der Fristbestimmung. Fristversäumnis. Nachsichtgewährung

 

Orientierungssatz

1. Die Formulierung "Die Nachentrichtung muß spätestens innerhalb von fünf Jahren nach Empfang dieses Schreibens abgeschlossen sein" ist zur näheren Bestimmung der Frist hinreichend deutlich und entspricht den Erfordernissen einer Fristbestimmung in den Fällen, in denen der Beginn der Frist an ein zukünftiges Ereignis (hier an den Empfang eines Bescheides) geknüpft ist und deshalb nicht von vornherein datumsmäßig bezeichnet werden kann (vgl auch § 66 Abs 2 SGG, wo die Bestimmung einer Frist in ähnlicher Weise geregelt ist).

2. Die Berufung auf die Versäumung einer Ausschlußfrist ist unzulässig, wenn das Interesse der Allgemeinheit oder der Verwaltung an der Einhaltung dieser Frist gering ist, auf der anderen Seite jedoch ganz erhebliche, langfristig wirksame Interessen des Bürgers auf dem Spiel stehen (vgl zuletzt BSG vom 1979-03-08 12 RK 27/77 = SozR 2200 § 1227 Nr 25). Im übrigen verstößt die Berufung auf die Versäumung einer Ausschlußfrist regelmäßig dann gegen Treu und Glauben, wenn die Behörde in irgendeiner Form durch ihr eigenes Verhalten die Verspätung begünstigt hat (vgl zuletzt BSG vom 1981-10-28 12 RK 61/80 = SozR 5070 § 10 Nr 19). Die Behörde braucht dabei nicht vorsätzlich oder sonstwie schuldhaft gehandelt zu haben; es genügt vielmehr, wenn ihr Verhalten objektiv zur Fristversäumung beigetragen hat.

 

Normenkette

AnVNG Art 2 § 49a Abs 3 S 3 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art 2 § 51a Abs 3 S 3 Fassung: 1972-10-16; BGB § 242 Fassung: 1896-08-18

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 13.08.1981; Aktenzeichen L 5 A 75/80)

SG Speyer (Entscheidung vom 11.09.1980; Aktenzeichen S 8 A 144/80 Sp)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger berechtigt ist, Beiträge nach Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) - als letzte Rate - auch noch nach Ablauf der ihm zur Teilzahlung eingeräumten Frist von fünf Jahren nachzuentrichten.

Mit Bescheid vom 19. August 1974 gestattete die Beklagte dem Kläger die Nachentrichtung von Beiträgen nach der genannten Vorschrift für die Jahre 1956 bis 1968 und räumte ihm hierfür das Recht auf Teilzahlung innerhalb einer Frist von fünf Jahren ein. Der am selben Tag mit eingeschriebenen Brief abgesandte Bescheid enthält den Hinweis, daß die Nachentrichtung spätestens innerhalb von fünf Jahren "nach Empfang dieses Schreibens" abgeschlossen sein müsse. Die ersten vier Raten zahlte der Kläger jeweils im Dezember der Jahre 1975 bis 1978. Bei Übersendung der vierten Beitragsbescheinigung machte ihn die Beklagte mit Begleitschreiben vom 22. März 1979 darauf aufmerksam, daß die fünfjährige Teilzahlungsfrist "im August" dieses Jahres ablaufe. Ein Scheck für die fünfte und letzte Rate über DM 2.844,-- ging am 30. August 1979 bei der Beklagten ein.

Mit der Begründung, die Zahlung hätte bis zum 22. August 1979 erfolgt sein müssen, wies die Beklagte die letzte Teilzahlungsrate als verspätet zurück (Bescheid vom 18. Oktober 1979). Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 24. April 1980, Urteile des Sozialgerichts -SG- Speyer vom 11. September 1980 und des Landessozialgerichts -LSG Rheinland-Pfalz vom 13. August 1981). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, bei den für die Nachentrichtung geltenden oder festgesetzten Fristen handele es sich um materiell-rechtliche Ausschlußfristen, deren Versäumung rechtsvernichtende Wirkung habe. Hier sei bei Eingang der letzten Rate die Nachentrichtungsfrist bereits abgelaufen gewesen. Gegen die Versäumung einer Ausschlußfrist komme ihrem Wesen nach eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht. Der Kläger könne die Wirkung der Ausschlußfrist auch nicht durch Berufung auf Treu und Glauben ausräumen. Der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung sei nur gerechtfertigt, wenn die Behörde vorsätzlich die Versäumung der Ausschlußfrist herbeigeführt habe oder eine Haltung einnehme, die mit ihrem früheren Verhalten, das den Antragsteller von der Fristwahrung abgehalten habe, unvereinbar sei. Davon könne hier aber keine Rede sein. Die Beklagte habe im Gegenteil den Kläger im Jahre 1979 noch einmal auf den Ablauf der Frist aufmerksam gemacht. Auch aus objektiven Gründen sei eine ausnahmsweise Durchbrechung der Ausschlußfrist nicht zulässig, weil bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen sei, daß die von der Beklagten zurückgewiesenen 22 Beiträge beim Kläger nur zu einer relativ geringfügigen Beitragslücke führten.

Mit der - vom Senat mit Beschluß vom 16. Februar 1982 zugelassenen - Revision trägt der Kläger vor, die Beklagte könne sich nicht auf die Versäumung der Ausschlußfrist berufen, denn sie habe in den Schreiben vom 19. August 1974 und 22. März 1979 den Tag des Fristablaufs nicht genannt; dazu wäre sie aber verpflichtet gewesen, wenn sie den Geldeingang bis Ende des Monats August 1979 nicht, wie der Kläger angenommen habe, als rechtzeitig hätte ansehen wollen. Außerdem habe die Beklagte dem Kläger den - nach Rücküberweisung vom Kläger erneut eingezahlten - Betrag nicht zurückerstattet, sondern bei sich verbucht. Daraus habe der Kläger die Anerkennung seiner Zahlung entnehmen können.

Der Kläger beantragt (sinngemäß), die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 18. Oktober 1979 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 1980 zu verurteilen, den Betrag von DM 2.844,-- als wirksam nachentrichtete Beiträge nach Art 2 § 49a ABs 2 AnVNG entgegenzunehmen.

Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie meint, eine Nachsichtgewährung wegen Versäumung der Ausschlußfrist sei hier schon deswegen nicht möglich, weil den Kläger ein Verschulden treffe. Der Kläger habe das Fristende aufgrund des Nachentrichtungsbescheides kennen müssen und sei darüber hinaus noch einmal auf den Fristablauf hingewiesen worden.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Die Beklagte muß auch den als letzte Rate eingezahlten Betrag von DM 2.844,-- als wirksam nachentrichtete Beiträge entgegennehmen.

Nach den mit Revisionsrügen nicht angegriffenen und deshalb im Revisionsverfahren bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG ist davon auszugehen, daß der Kläger den Nachentrichtungsbescheid der Beklagten vom 19. August 1974 nicht später als am 22. August 1974 empfangen hat. Damit steht fest, daß die mit dem genannten Bescheid eingeräumte und mit dessen "Empfang" in Lauf gesetzte Nachentrichtungsfrist von fünf Jahren bei Eingang der letzten Ratenzahlung bereits abgelaufen war. Bei dieser Frist handelt es sich um eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist, innerhalb deren der Versicherte - auch durch eine ihm zugebilligte ratenweise Entrichtung der Beiträge - sein Nachentrichtungsrecht realisieren kann. Die Dauer der Frist hat der Gesetzgeber dabei auf höchstens fünf Jahre ("bis zu") begrenzt (Art 2 § 49a Abs 3 Satz 3 AnVNG). Die von der Beklagten im Bescheid vom 19. August 1974 vorgenommene nähere Bestimmung der Frist ("Die Nachentrichtung muß spätestens innerhalb von fünf Jahren nach Empfang dieses Schreibens abgeschlossen sein") ist hinreichend deutlich und entspricht den Erfordernissen einer Fristbestimmung in den Fällen, in denen der Beginn der Frist an ein zukünftiges Ereignis (hier an den Empfang eines Bescheides) geknüpft ist und deshalb nicht von vornherein datumsmäßig bezeichnet werden kann (vgl auch § 66 Abs 2 SGG, wo die Bestimmung einer Frist in ähnlicher Weise geregelt ist).

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß dem Kläger gegen die Versäumung der Ausschlußfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden kann. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats, wonach bei der Versäumung einer Ausschlußfrist des materiellen Rechts - ungeachtet eines etwaigen Nichtverschuldens des Säumigen - jedenfalls vor dem 1. Januar 1981 eine Wiedereinsetzung nicht in Frage kam (vgl BSGE 48, 12, 16; BSG SozR 5070 § 10 Nr 19).

Entgegen der Auffassung des LSG ist jedoch dem Kläger die Versäumung der Ausschlußfrist nachzusehen. Nach den vom Bundessozialgericht (BSG) hierzu entwickelten Rechtsgrundsätzen ist eine Ausschlußfrist nur in dem Umfang zu beachten, als ihre Einhaltung durch den Sinn der betreffenden Regelung gedeckt ist (vgl BSGE 14, 246, 250). Danach ist die Berufung auf die Versäumung einer Ausschlußfrist unzulässig, wenn das Interesse der Allgemeinheit oder der Verwaltung an der Einhaltung dieser Frist gering ist, auf der anderen Seite jedoch ganz erhebliche, langfristig wirksame Interessen des Bürgers auf dem Spiel stehen (vgl BSG SozR 4100 § 72 Nr 2; SozR 5486 Art 4 § 2 Nr 2; BSGE 48, 12, 17; BSG SozR 2200 § 1227 Nr 25). Im übrigen verstößt die Berufung auf die Versäumung einer Ausschlußfrist regelmäßig dann gegen Treu und Glauben, wenn die Behörde in irgendeiner Form durch ihr eigenes Verhalten die Verspätung begünstigt hat (vgl BSG SozR 2200 § 1227 Nr 25 S 61; SozR 5070 § 10 Nr 19). Die Behörde braucht dabei nicht, wie das LSG meint, vorsätzlich oder sonstwie schuldhaft gehandelt zu haben; es genügt vielmehr, wenn ihr Verhalten objektiv zur Fristversäumung beigetragen hat.

Ein solcher Fall liegt hier vor. Dem Kläger muß die Fristversäumung nämlich schon deshalb nachgesehen werden, weil die Beklagte selbst zu der Versäumung beigetragen hat. Ihr Schreiben vom 22. März 1979 war geeignet, den Kläger hinsichtlich des bevorstehenden Fristablaufs in einen Irrtum zu versetzen, weil es mit dem Hinweis auf den Ablauf der Frist "im August dieses Jahres" einem unbefangenen Leser den Eindruck vermitteln konnte, es stehe ihm noch der gesamte Monat August zur Einzahlung der letzten Beitragsrate zur Verfügung. So hat der Kläger den Hinweis auch offensichtlich verstanden, ohne daß ihm daraus der Vorwurf eines - die Mißverständlichkeit der Belehrung kompensierenden - Verschuldens gemacht werden kann. Ein solcher Vorwurf wäre allenfalls dann begründet, wenn die Beklagte in dem Schreiben vom 22. März 1979 ausdrücklich auf den Fristenhinweis in dem Bescheid vom 19. August 1979 Bezug genommen hätte, was aber nicht geschehen ist. Da hier das Verhalten der Beklagten somit zu der eingetretenen Fristversäumung beigetragen hat, ist die Berufung der Beklagten auf die Versäumung der Fünfjahresfrist nach Treu und Glauben unzulässig.

Die Beklagte war deshalb unter Aufhebung ihrer ablehnenden Bescheide und der Urteile der Vorinstanzen zur Entgegennahme der streitigen Beiträge in Höhe von DM 2.844,-- zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658886

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