Leitsatz (amtlich)
Wird Rente abgelehnt, weil die Wartezeit nicht erfüllt ist, so gehört die Feststellung des Tages, an dem der Versicherungsfall eingetreten ist, grundsätzlich nicht zum Verfügungssatz des Bescheides (Abgrenzung von BSG vom 29.6.1984 - 4 RJ 53/83 = SozR 1500 § 54 Nr 61).
Normenkette
SGG § 77; RVO § 1247 Abs 1; RVO § 1247 Abs 3 S 1 Buchst a
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 17.03.1988; Aktenzeichen L 12 Ar 78/86) |
SG Landshut (Entscheidung vom 27.11.1985; Aktenzeichen S 12 Ar 150/84) |
Tatbestand
Der Kläger beansprucht Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Dabei ist insbesondere von Bedeutung, ob die erforderliche Wartezeit erfüllt ist.
Der Kläger, jugoslawischer Staatsangehöriger, war in der Bundesrepublik Deutschland ab 5. Mai 1970 beschäftigt. Seinen Rentenantrag vom 9. Januar 1976 lehnte die damals für ihn zuständige Landesversicherungsanstalt (LVA) Oberbayern mit Bescheid vom 29. Juni 1976 ab. Zwar habe sie festgestellt, daß beim Kläger bis zum 31. März 1977 Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bestehe, auf die Wartezeit anrechenbare Versicherungszeiten könnten aber nur bis zum Eintritt des Versicherungsfalles am 3. Juni 1975 berücksichtigt werden. Für die Zeit ab 5. Mai 1970 seien 52 Kalendermonate als Versicherungszeit nachgewiesen. Ab 10. Mai 1977 arbeitete der Kläger nach seinen Angaben als Küchenhilfe, ab 14. Juli 1977 wurde er in verschiedenen medizinischen Einrichtungen bis zum 21. Oktober 1978 stationär behandelt. Anschließend kehrte er nach Jugoslawien zurück. Seinen weiteren Rentenantrag vom 11. August 1978 lehnte die LVA Oberbayern im November 1978 ab, da für die Wartezeit nur die bis zum Eintritt des Versicherungsfalles der Erwerbsunfähigkeit am 14. Oktober 1977 zurückgelegten Versicherungszeiten berücksichtigt werden könnten.
Am 24. August 1979 stellte der Kläger einen Rentenantrag über den jugoslawischen Versicherungsträger. Dieser bestätigte eine Versicherungszeit vom 11. Januar bis zum 30. Juli 1977. Die nunmehr zuständige Beklagte lehnte eine Rentengewährung mit Bescheid vom 12. Mai 1980 ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei. Unter Aufhebung dieses Verwaltungsaktes erteilte die Beklagte einen weiteren Bescheid vom 21. Februar 1984, worin sie einen Antrag des Klägers vom 17. Oktober 1983 auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit wiederum wegen nicht erfüllter Wartezeit ablehnte.
Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen, und das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteile vom 27. November 1985 und 17. März 1988). Das LSG hat ausgeführt, die Beklagte sei an den zunächst angegebenen Versicherungsfall vom 14. Oktober 1977 nicht gebunden. Maßgebend sei der tatsächliche Eintritt der Erwerbsunfähigkeit am 3. Juni 1975. Zu diesem Zeitpunkt sei die Wartezeit nicht erfüllt gewesen.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung der §§ 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und 1247 Abs 3 Buchst a RVO.
Der Kläger beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 12. Mai 1980 und 21. Februar 1984 zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. August 1979 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Rente wegen Erwerbsunfähigkeit steht ihm schon deshalb nicht zu, weil die Wartezeit nicht erfüllt ist.
§ 1247 Abs 1 RVO knüpft den Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ua daran, daß der Versicherte die Wartezeit erfüllt hat. Dazu muß nach § 1247 Abs 3 Buchst a RVO vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt worden sein. Das LSG hat festgestellt, der Kläger habe ab 3. Juni 1975 infolge von Krankheit keine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit mehr ausüben können, sei also von da an durchgehend erwerbsunfähig iS des § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO gewesen. Bis zum Eintritt der Erwerbsunfähigkeit seien lediglich 53 Beitragsmonate zurückgelegt worden. Selbst wenn man eine Erwerbsfähigkeit in der Zeit vom 10. Mai bis zum 14. Juli 1977 annehmen wolle, würden sich insgesamt nur 56 Beitragsmonate ergeben. Der Bescheid vom 12. Mai 1980, der im übrigen von der Beklagten aufgehoben worden sei, habe keine verbindliche Feststellung des Versicherungsfalls der Erwerbsunfähigkeit auf den 14. Oktober 1977 enthalten.
Dagegen wendet der Kläger ein, mit dem genannten Bescheid habe die Beklagte den Eintritt des Versicherungsfalls am 14. Oktober 1977 und eine Versicherungszeit von 59 Monaten festgestellt. Dabei sei jedoch die Beitragszeit vom 1. August bis zum 21. September 1976 nicht berücksichtigt worden, so daß insgesamt 61 anrechnungsfähige Monate am 14. Oktober 1977 vorhanden gewesen seien. Bei den Angaben zum Versicherungsfall handele es sich nicht lediglich um die Begründung eines Verwaltungsaktes, vielmehr erstrecke sich dessen Bindungswirkung bei der Ablehnung eines Rentenanspruchs auf die Festsetzung des Versicherungsfalls. Dieser Argumentation in der Revisionsbegründung des Klägers vermochte der erkennende Senat sich nicht anzuschließen.
Wäre der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit beim Kläger erst am 14. Oktober 1977 eingetreten, so könnte die Wartezeit erfüllt sein, und zwar mit den vom jugoslawischen Versicherungsträger für das Jahr 1977 angegebenen Versicherungszeiten sowie den von der Beklagten im Versicherungsverlauf für die Zeit vom 1. August bis zum 21. September 1979 ausgewiesenen zwei Pflichtbeiträgen während der Rehabilitation. Bei diesen beiden Beiträgen handelt es sich um solche, die damals nach § 1227 Abs 1 Nr 8a RVO (gestrichen durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 ab 1. Januar 1984) entrichtet worden sind.
Der Kläger kann sich jedoch nicht mit Erfolg darauf berufen, der Eintritt des Versicherungsfalles am 14. Oktober 1977 sei von der Beklagten bindend festgestellt worden. Nach der Rechtsprechung des BSG erfaßt die Bindungswirkung des § 77 SGG bei einem Rentenbescheid eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung lediglich den Verfügungssatz, dh die Entscheidung über die Höhe, die Dauer und die Art der Rente, nicht dagegen die Begründung, zu der die rechtliche Beurteilung von Vorfragen, sowie die dem Bescheid zugrundegelegten Erwägungen gehören (vgl BSG in SozR 2200 § 1268 Nr 10; 1500 § 77 Nr 56 mwN). Der Eintritt des Versicherungsfalls gehört nicht zum Verfügungssatz des die Rente ablehnenden Bescheides. Allerdings hat der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) am 29. Juni 1984 (SozR 1500 § 54 Nr 61) entschieden, bei der Feststellung des Tages, an dem der Versicherungsfall eingetreten ist, handele es sich nicht um die Begründung, sondern um einen Teil der Bescheid-Formel (Verfügungssatz). Die Feststellung solle bewirken, daß ein Umstand, der für das Versicherungsverhältnis von rechtlicher Bedeutung sei, eindeutig und bindend festgestellt werde. Die Ausgangslage in jenem Rechtsstreit unterscheidet sich aber von derjenigen, über die hier zu befinden ist. In dem vom 4. Senat entschiedenen Fall hatte der Versicherungsträger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligt und - wegen des darauf basierenden Rentenbeginns - den Tag des Versicherungsfalles (17. Mai 1978) angegeben. Nachdem die Rentenbewilligung bindend geworden war, beantragte jene Versicherte, "nach § 1300 RVO ... den Beginn des Versicherungsfalles auf den 1. April 1975 festzustellen", weil dann die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) eine höhere Versorgung zahle. Von der Feststellung des Versicherungsfalles hing dort somit die Gestaltung eines anderen Rechtsverhältnisses ab.
In einem Rente bewilligenden Bescheid muß über die Dauer der Rente, also notwendigerweise über den Rentenbeginn, entschieden werden, der in der Regel vom Eintritt des Versicherungsfalles abhängt. Anders verhält es sich, wenn die Rente abgelehnt wird. Die Bindungswirkung eines Verwaltungsaktes kann nicht weiter gehen als die Rechtskraft eines gerichtlichen Urteils. Diese umfaßt den sich aus den festgestellten Tatsachen und den angewandten Rechtsnormen ergebenden Subsumtionsschluß als Ganzes, nicht hingegen einzelne Glieder dieses Schlusses, losgelöst vom Subsumtionsergebnis und selbständig (so BSGE 39, 14, 18 mwN). Auch bei einem Verwaltungsakt, der über einen Anspruch entscheidet, ist der Subsumtionsschluß - beruhend auf einem Obersatz (Anwendung des Rechts) und einem Untersatz (Feststellung von Tatsachen) - Gegenstand der Bindungswirkung (so BSG in SozR 1500 § 77 Nr 20 mwN). Das ist im Fall des Klägers im bindenden Bescheid vom 12. Mai 1980 der Schluß, daß ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mangels erfüllter Wartezeit nicht besteht. Der Kläger kann nicht die für diesen Subsumtionsschluß festgestellten Tatsachen - Eintritt des Versicherungsfalles und Anzahl der entrichteten Beiträge - verselbständigen und insoweit eine Bindungswirkung reklamieren.
Der erkennende Senat hat zwar im Urteil vom 31. Mai 1978 (BSGE 46, 236, 237 ff; vgl auch aaO 49, 296, 297) gegen die Eingrenzung der Bindungswirkung Bedenken erhoben, diese betrafen aber nur eine Ausdehnung der Verbindlichkeit von Rentenbescheiden auf solche Elemente des Bescheides, die außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens gesondert durch einen der Bindung fähigen Verwaltungsakt geregelt werden können. Das trifft für den Eintritt des Versicherungsfalles bei einer Rentenablehnung nicht zu. Insoweit ist ein Vertrauen des Versicherten in einzelne Tatsachenfeststellungen in dem den Anspruch verneinenden Bescheid nicht zu schützen. Aus dem Urteil des 8. Senats des BSG vom 7. Dezember 1976 (SozR 1500 § 77 Nr 18) läßt sich für den Fall des Klägers nichts anderes herleiten. Auch der 8. Senat geht davon aus, die bindende Wirkung von Bescheiden erstrecke sich nur auf den Verfügungssatz. Ein Verwaltungsakt könne aber mehrere Verfügungssätze enthalten, die auch in der Begründung des Bescheides zu finden sein könnten. Für einen selbständigen Verfügungssatz im Bescheid vom 12. Mai 1980 "Eintritt des Versicherungsfalles der Erwerbsunfähigkeit am 14. Oktober 1977" sind keine Anhaltspunkte vorhanden.
Die Feststellungen des LSG, der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit sei beim Kläger am 3. Juni 1975 eingetreten, und er habe bis dahin keine 60 anrechnungsfähigen Monatsbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet, sind nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden. Diese Feststellungen sind daher gemäß § 163 SGG für das Revisionsgericht bindend. Da der Kläger somit die Wartezeit für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht erfüllt hat, steht ihm diese schon deshalb nicht zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen