Beteiligte
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 15. Juli 1998 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten um die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG).
Mit Bescheid vom 18. Dezember 1990 war bei dem 1962 geborenen Kläger wegen einer Herzleistungsminderung nach Herzklappenoperation 4/1981 ein GdB von 50 festgestellt worden. Zugrunde lag dem Bescheid ein Befundbericht des Internisten Dr. G. (G.) vom 7. August 1990, wonach die Leistungsfähigkeit des Herzens 50 Watt betrage.
Nachdem Dr. G. im August 1993 die Leistungsfähigkeit des Herzens mit etwa 75 Watt angegeben hatte, teilte die Beklagte nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme dem Kläger mit Schreiben vom 13. Oktober 1993 mit, die durch die Herzleistungsminderung nach Herzklappenoperation 4/1981 bedingte Funktionsbeeinträchtigung habe sich gebessert; es sei beabsichtigt, in einem noch zu erlassenden Verwaltungsakt, den GdB auf 40 herabzusetzen. Hiergegen wandte sich der Kläger und bat um Einholung einer Auskunft von Dr. G. (Schreiben vom 19. November 1993). Mit Neufeststellungsbescheid vom 21. April 1994 setzte die Beklagte den GdB wegen der og Behinderung auf 40 fest. Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, nach Schultergelenksoperationen in den Jahren 1990 (Schlüsselbeinbruch links) und 1994 (Schlüsselbeinbruch rechts) sei er – auch – in seiner Bewegungsfähigkeit erheblich eingeschränkt. Die Beklagte zog daraufhin weitere Befundberichte bei und wies nach Einholung einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21. Dezember 1994 zurück.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. September 1997). Mit Urteil vom 15. Juli 1998 hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Es hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe §24 Abs 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) verletzt, da sie vor Erlaß des Bescheides vom 21. April 1994 dem Kläger nicht die Möglichkeit für eine qualifizierte Stellungnahme gegeben habe. Der formelhafte Hinweis auf die Besserung des anerkannten Leidens habe nicht ausgereicht. Die Beklagte hätte dem Kläger mitteilen müssen, daß nach dem eingeholten Befundbericht die Leistungsfähigkeit des Herzens sich von 50 auf 75 Watt erhöht habe und im Hinblick hierauf nach den zugrunde zu legenden Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) eine wesentliche Besserung des Gesundheitszustandes eingetreten sei. Da die Anhörung auch im Widerspruchsverfahren nicht wirksam nachgeholt worden sei, seien die angefochtenen Bescheide rechtswidrig und aufzuheben. Im Hinblick auf §95 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sei unerheblich, daß der Widerspruchsbescheid wegen desselben Formmangels aufzuheben wäre, weil der Kläger auch keine Gelegenheit gehabt habe, sich zu den im Widerspruchsverfahren eingeholten Berichten zu äußern.
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung von §24 SGB X und trägt vor: Das angefochtene Urteil überspanne die an die Anhörungspflicht zu stellenden Anforderungen. Eine Übersendung der jeweiligen Befundberichte an den Kläger sei nicht erforderlich gewesen. Der Kläger habe, wie seinem Antwortschreiben zu entnehmen gewesen sei, erkannt, daß die Verwaltung den GdB herabsetzen wolle, weil sich die Herzleistungsfähigkeit gebessert habe. Es sei für die Versorgungsverwaltung als einer Massenverwaltung problematisch, im Rahmen der Anhörung sämtliche Befundberichte zu übersenden. Ein derart weit gefaßtes Anhörungsrecht würde auf eine vorweggenommene Bescheiderteilung hinauslaufen und keinen Raum mehr für ein Widerspruchsverfahren lassen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 15. Juli 1998 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 30. September 1997 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er bezieht sich im wesentlichen auf die Gründe des angefochtenen Urteils.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§124 Abs 2 SGG).
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Zu Recht hat das LSG den Neufeststellungsbescheid vom 21. April 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufgehoben. Der Bescheid vom 21. April 1994 ist unter Verletzung rechtlichen Gehörs erlassen worden und damit rechtswidrig. Dieser Verfahrensmangel erfaßt auch den Widerspruchsbescheid, so daß beide Verwaltungsakte aufzuheben sind, weil die Anhörung auch bis zum Abschluß des Verwaltungsverfahrens nicht nachgeholt worden ist (§41 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 3 SGB X).
1. Durch den Neufeststellungsbescheid vom 21. April 1994 (Herabsetzung des GdB von 50 auf 40) hat die Beklagte in die Rechte des Klägers eingegriffen, so daß sie gemäß §24 Abs 1 SGB X verpflichtet war, ihm vor Erlaß des Bescheides Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen – Ergebnis des Befundberichtes und Name des Arztes, der ihn erstattet hat – zu äußern.
a) §24 SGB X dient sowohl der Wahrung der Rechte und Belange des Betroffenen als auch der Vermeidung von Fehlern der Verwaltung bei der Tatsachenermittlung (vgl hierzu entsprechend Badura in Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Auflage, §37 RdNr 11). Einerseits soll durch die Vorschrift sichergestellt werden, daß der Betroffene aktiv auf das Verfahren der Sozialverwaltung und deren Entscheidung Einfluß nehmen kann; der Bürger soll vor Überraschungsentscheidungen und vor vorschnellen und vermeidbaren Eingriffen geschützt werden; darüber hinaus soll durch diese Verfahrensweise das Vertrauensverhältnis zwischen Bürger und Sozialleistungsträger gestärkt werden (vgl hierzu Urteil des Senats vom 25. März 1999 - B 9 SB 14/97 R -, zur Veröffentlichung vorgesehen; BSG SozR 1200 §34 Nr 1 S 9; BSGE 46, 57, 58 = BSG SozR 1200 §34 Nr 3, Nr 4 S 20). Andererseits soll die Verwaltung vor Erlaß des Verwaltungsaktes anhand der Stellungnahme des Betroffenen prüfen können, ob diese Veranlassung gibt, von dem Verwaltungsakt abzusehen oder ihn erst nach weiteren Ermittlungen, in anderer Form oder zu einem späteren Zeitpunkt zu erlassen (vgl hierzu Urteil vom 30. März 1982 - 2 RU 15/81 -; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Auflage, §19 RdNr 10). Eine derartige rechtserhebliche Äußerung des Betroffenen setzt jedoch voraus, daß ihm die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen in einer Weise unterbreitet werden, daß er sie als solche erkennen und sich zu ihnen sachgerecht äußern kann. Dies erfordert eine hinreichende Information durch die Sozialverwaltung (vgl hierzu BSGE 69, 247, 251 f; SozR 3-1300 §24 Nr 4; SozR 1200 §34 Nr 1 S 9). Was unter einer erheblichen Tatsache iS von §24 Abs 1 SGB X zu verstehen ist, richtet sich nach Art und Inhalt des Verwaltungsaktes, dessen Erlaß beabsichtigt ist (vgl BSGE 44, 207, 211 = SozR 1300 §24 Nr 2 S 2; Nr 4 S 6; SozR 3-1300 §24 Nr 13 S 34 f) sowie nach den Umständen des Einzelfalles und den jeweils anzuwendenden Vorschriften (so Urteil des Senats, aaO).
Der Regelungsgehalt eines Neufeststellungsbescheides nach dem SchwbG enthält im Verfügungssatz nur die Feststellung des GdB, daneben in den Gründen des Bescheides aber auch die unselbständigen – für die Überprüfung notwendigen – Begründungselemente, mit den jeweils ermittelten Krankheitsbildern (vgl hierzu BSG SozR 3-3870 §4 Nr 24 mwN). Insoweit hat die Beklagte nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG dem Kläger erkennbar den Verfügungssatz der beabsichtigten Entscheidung, die Herabsetzung des GdB von 50 auf 40, mitgeteilt. Nicht jedoch hat sie die Entscheidungsgrundlage, nämlich den Befundbericht des Dr. G. vom August 1993, genannt. Dies wäre jedoch erforderlich gewesen, damit sich der Kläger zur Ausschöpfung seines Rechtes auf rechtliches Gehör noch weitere Tatsachenkenntnisse hätte verschaffen können (vgl hierzu BSG SozR 1300 §24 Nr 4 S 8). Der Senat knüpft insoweit an seine Entscheidung vom 25. März 1999 (aaO) an, wonach das Ergebnis des jeweiligen Befundberichts mitzuteilen ist. Dies schließt den Namen des Arztes ein, der diesen Bericht erstattet hat. Aufgrund einer derartigen Mitteilung wird der Betroffene in die Lage versetzt zu entscheiden, ob er sogleich dazu Stellung nehmen will, inwieweit sich sein Gesundheitszustand gegenüber den Verhältnissen bei Erlaß des früheren Bescheides tatsächlich gebessert hat, oder ob er zunächst den Befundbericht anfordern soll, um sodann – ggf mit Hilfe eines Arztes – sachgerechte Einwendungen zu erheben. Nicht verpflichtet war die Verwaltung im Rahmen der Anhörung allerdings, dem Kläger von vornherein sämtliche beigezogenen Befundberichte zu übersenden (vgl hierzu BSG SozR 1300 §24 Nr 4 S 7, Urteil des 4. Senats vom 1. Dezember 1982 - 4 RJ 45/82 -; Krasney in Kasseler Komm, §24 SGB X RdNr 12). Widerspricht der Betroffene jedoch der Einschätzung der Versorgungsverwaltung und begehrt er zur weiteren Information Einsicht in einen Befundbericht, so ist ihm dieser zu übermitteln (vgl hierzu BSG SozR 1300 §24 Nr 2). Auf das Recht, Akteneinsicht nach §25 SGB X zu beantragen, kann der Kläger insoweit nicht verwiesen werden. Denn die Möglichkeit zur Akteneinsicht ersetzt nicht das Recht auf ordnungsgemäße Anhörung (vgl BSG SozR 1300 §24 Nr 9 S 19).
b) Zu weitgehend wäre es allerdings, mit dem LSG die Versorgungsverwaltung für verpflichtet zu halten, bereits von sich aus die jeweiligen Funktionsbeeinträchtigungen unter Hinweis auf den hierfür nach den AHP zu bewertenden GdB mitzuteilen. Entgegen der Auffassung der Beklagten stellt die og Auslegung des §24 SGB X daher auch keine Überforderung einer Massenverwaltung dar. Die in den Befundberichten mitgeteilten Ergebnisse, die Grundlage der versorgungsärztlichen Stellungnahmen sind, müssen lediglich zusammengefaßt und dem Betroffenen als entscheidungserhebliche Tatsache bekannt gegeben werden. Um eine vorweggenommene Bescheiderteilung handelt es sich insoweit nicht. Denn die Versorgungsverwaltung hat gerade die im Anhörungsverfahren vorgebrachten Gesichtspunkte des Betroffenen in ihre Erwägungen einzubeziehen. Würde man an die Pflicht der Beklagten, rechtliches Gehör zu gewähren, geringere Anforderungen stellen, so würde dies Sinn und Zweck des Anhörungsverfahrens widersprechen. Die Möglichkeit des Betroffenen, sich sachlich zu äußern und damit die Möglichkeit, die Entscheidung des Sozialleistungsträgers zu seinen Gunsten zu beeinflussen, wäre beeinträchtigt; darüber hinaus wäre auch die mit dem Anhörungsverfahren bezweckte umfassende Information des Verwaltungsträgers nicht gewährleistet.
Gerade das Verhalten der Versorgungsverwaltung im vorliegenden Fall zeigt, daß eine mit dem Zweck des Anhörungsverfahrens verbundene ausreichende Information des Klägers unterblieben ist. Wie sich aus seinem Schreiben vom 19. November 1993 ergibt, in dem er um Einholung eines Berichtes von Dr. G. gebeten hatte, war ihm nicht einmal bekannt, daß ein derartiger Bericht des Dr. G. bereits vorlag. Dies wurde ihm im übrigen auch anschließend nicht mitgeteilt.
Der wesentliche Mangel des Anhörungsverfahrens ist somit bis zur Beendigung des Vorverfahrens nicht behoben worden (vgl hierzu BSGE 69, 247, 254 = SozR 3-1300 §24 Nr 4); mithin ist der Bescheid vom 21. April 1994 rechtswidrig und mit dem Widerspruchsbescheid aufzuheben.
2. Es kann somit dahinstehen, ob die Beklagte darüber hinaus auch im Widerspruchsverfahren das Recht des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt hat. Der Kläger hatte mit dem Widerspruch ausdrücklich auf die Bewegungseinschränkungen nach Bruch des rechten und linken Schlüsselbeins hingewiesen und gebeten, insoweit Befundberichte beizuziehen. Das Ergebnis dieser Berichte hat die Beklagte dem Kläger nicht mitgeteilt. Selbst wenn den Berichten keine Beeinträchtigungen zu entnehmen waren, hätte die Beklagte den Kläger insoweit informieren und ihm Gelegenheit geben müssen, Beweiserhebungen anzuregen (vgl hierzu BSG, Urteile vom 25. März 1999 - B 9 SB 12/97 R und B 9 SB 14/97 R -). Auch das Auftreten einer bei Erlaß des früheren Bescheides noch nicht vorhandenen Funktionsbeeinträchtigung kann für einen Bescheid, der, wie der angefochtene, einen ursprünglichen (Neu-)Feststellungsbescheid nach §4 SchwbG aufhebt und durch einen ungünstigeren ersetzt, eine entscheidungserhebliche Tatsache sein. Denn die Minderung des anerkannten GdB infolge Besserung eines Leidenszustandes kann durch neu hinzugetretene Behinderungen „kompensiert” worden sein (vgl BSG SozR 3-3870 §3 Nr 5 S 6; BSGE 81, 50 = SozR 3-3870 §3 Nr 7; SozR 3100 §62 Nr 21). Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Versorgungsverwaltung aufgrund des Befundberichtes anschließend weitere beachtliche Funktionsbeeinträchtigungen feststellt oder ob das nicht der Fall ist (so Urteile des 9. Senats vom 25. März 1999 - B 9 SB 12/97 R und B 9 SB 14/97 R -).
Nach alledem hat die Revision keinen Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf §193 SGG.
Fundstellen
SGb 1999, 517 |
SozSi 1999, 379 |