Leitsatz (amtlich)
Ein Versicherter, der in vorgeschriebener Anlernzeit - von ein bis zwei Jahren - für einen anerkannten Anlernberuf ausgebildet worden ist, eine vorgeschriebene Prüfung bestanden hat und in seinem anerkannten Anlernberuf tätig gewesen ist, kann auf ungelernte Tätigkeiten einfacher Art, die ohne eingehendere Einweisung längere Einarbeitung oder betriebliche Anlernung von jedem gesundheitlich dazu Fähigen ausgeübt werden können (zB einfache Reinigungs- und Putzarbeiten, Aufwarte-, Küchen- und Kantinenhilfsarbeiten, einfache Wächter- und Wartungsdienste, bloße Botengänge, einfache Hof-, Platz- und Gartenarbeiten usw) nicht verwiesen werden.
Dagegen muß er sich auf solche ungelernte Tätigkeiten verweisen lassen, die nicht zu diesen Arbeiten einfacher Art gehören.
Normenkette
RVO § 1246 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. Dezember 1959 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die ... 1900 geborene, verheiratete Klägerin war von 1917 bis 1942 als Spinnerin versicherungspflichtig beschäftigt Sie arbeitete drei Jahre an der Selfaktor-Spinnmaschine, im übrigen als Ringspinnerin. Die Versicherung setzte sie freiwillig fort.
Ihren im Juni 1955 gestellten Antrag auf Gewährung von Invalidenrente lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 13. Januar 1956 mit der Begründung ab, die Klägerin sei nach ihrem Gesundheitszustand in der Lage, die Arbeiten als Spinnerin zu verrichten. Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat die gegen den Bescheid erhobene Klage durch Urteil vom 17. Januar 1957 abgewiesen. Es war nach Einholung von Gutachten eines Facharztes für innere Krankheiten und eines Frauenarztes der Auffassung, Invalidität liege bei der Klägerin nicht vor; sie sei noch fähig, durch für sie zumutbare leichte Arbeiten als Spinnerin, Sortiererin oder Packerin sowie im Haushalt die für sie maßgebliche Lohnhälfte zu erwerben.
Die gegen das Urteil eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 8. Dezember 1959 unter Zulassung der Revision zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, die Klägerin sei nicht berufsunfähig im Sinne des § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und deshalb auch nicht invalide im Sinne des § 1254 RVO aF. Als Ringspinnerin und Anlegerin habe sie eine Lehre nicht durchgemacht. Sie habe auch keinem eigentlichen Anlernberuf angehört, wenngleich sie etwa ein Jahr lang in ihre Tätigkeit eingearbeitet worden sei. Sie habe während ihres Arbeitslebens den Beruf einen ungelernten Textilarbeiterin ausgeübt. Sie sei heute nicht mehr fähig, als Ringspinnerin oder Anlegerin in einer Spinnerei tätig zu sein. Nach ihrem Gesundheitszustand könne sie nicht mehr die geistige und körperliche Belastbarkeit, die Schnelligkeit des Handelns und die Nervenkraft aufbringen, die eine produktionsgerechte Bedienung der modernen Spinnereimaschinen verlange. Beruflichen Anforderungen, bei denen es auf einen erheblichen Kräfteaufwand oder auf besondere Geschwindigkeit und leichte geistige Reaktionsbereitschaft ankomme, werde die Klägerin nicht mehr gerecht. Die Funktions- und Gebrauchstüchtigkeit der einzelnen Körperteile und der inneren Organe seien nicht nennenswert eingeschränkt, jedoch hätten der Kräftevorrat und die körperliche und geistige Beweglichkeit durch normale Alterung nachgelassen. Die Klägerin sei nach ihren körperlichen Kräften noch fähig, die Tätigkeiten einer Arbeiterin in einer Fabrik der Textilindustrie und anderer Gewerbezweige vornehmlich im Sitzen auszuführen. Auf diese Tätigkeiten könne die Klägerin auch verwiesen werden. - Bei Weiterversicherten wie der Klägerin entspreche der Kreis der ihr zumutbaren Tätigkeiten grundsätzlich den Tätigkeiten der Berufsgruppe, der sie bei Ausscheiden aus der Pflichtversicherung angehört habe. Im Rahmen der Berufsgruppe, der die Klägerin als Ringspinnerin zuzurechnen sei, könne sie der ihrem Kräftezustand entsprechenden, vornehmlich im Sitzen auszuübenden Beschäftigung als Nachleserin, also bei der Kontrolle versandfertiger Spulen, oder als Sortiererin nachgehen; außerdem bestünden weitere Arbeitsmöglichkeiten für sie in der Weberei und als Dekatiererin. Diese in Betracht kommenden Stellen seien zwar in der Regel älteren Betriebsangehörigen vorbehalten, durch eigene ältere, eingearbeitete Kräfte der Betriebe ständig besetzt und stünden der Klägerin in ihrem Alter von 59 Jahren wohl kaum noch in nennenswerter Anzahl zur Verfügung. Die Klägerin müsse sich aber dennoch auf derartige Arbeitsplätze verweisen lassen. Denn in der Berufssparte der Klägerin lasse sich ein Arbeitsfeld, das ihrem Kräftezustand entspreche, ausmachen, nur seien die in Frage kommenden Stellen im allgemeinen besetzt und für dauernd nicht erreichbar. Der Grund dafür, daß die Klägerin den einer älteren Betriebsangehörigen vorbehaltenen Arbeitsplatz nicht erlangen könne, sei vornehmlich darin zu sehen, daß sie ihr Arbeitsleben vorzeitig abgebrochen, sich nahezu 17 Jahre lang nicht mehr um einen Arbeitsplatz bemüht und ein Alter von 59 Jahren erreicht habe. Die Klägerin hätte zwar selbst dann nicht mehr als Ringspinnerin arbeiten können, wenn sie ihr Arbeitsleben nicht vorzeitig abgebrochen hätte. Erfahrungsgemäß genügten Frauen schon mit etwa 40 Jahren nicht mehr den körperlichen und geistigen Anforderungen für die Arbeiten an der Ringspinnmaschine. Die Klägerin wäre aber, wenn sie in einem Betriebe weiter tätig gewesen wäre, nicht gezwungen gewesen, die Betriebsstätte und ihre Berufssparte zu verlassen, sondern wäre an einem Arbeitsplatz eingesetzt worden, der den älteren Betriebsangehörigen vorbehalten werde. Der Auffassung des früheren Reichsversicherungsamts (RVA), nach der eine Verweisung nur auf solche Erwerbsquellen in Betracht kommen könne, die es in der Wirtschaft und auf dem Gebiet der privaten und öffentlichen Dienste in nennenswertem Umfang - besetzt oder unbesetzt - gebe und die dem Angebot und der Nachfrage überhaupt unterlägen, weil nur solche Beschäftigungsmöglichkeiten zu erlangen seien (RVA in AN 1907, 465), vermochte sich das Berufungsgericht nicht in vollem Umfang und nicht für den hier zu beurteilenden Fall anzuschließen. - Daß die Klägerin wegen ihres vorgeschrittenen Alters Schwierigkeiten habe, wieder einen Arbeitsplatz zu erhalten, werde nicht verkannt, beeinträchtige ihre Erwerbsfähigkeit aber nicht. Ebenso bleibe ihre Fähigkeit zum Erwerb unberührt davon, daß sie nach der jahrelangen Entwöhnung einer regelmäßigen Lohnarbeit entfremdet sei und sich auf eine solche nur noch schwer einstellen und sich in einem modernen Betrieb auch nur schwer zurechtfinden könne. Von einem Versicherten, der den gewandelten Anforderungen der modernen Industriebetriebe nicht mehr genüge, müsse grundsätzlich erwartet werden, daß er sich umstelle. Die Tatsachen, die das Gesetz als Ursache für die Einbuße der menschlichen Arbeitskraft anerkannt wissen wolle, seien in § 1246 Abs. 2 RVO abschließend aufgeführt. Andere, einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit entgegenstehende Umstände seien von dem Betroffenen selbst zu tragen oder von anderen Leistungsträgern zu entschädigen. - Aus diesen Gründen sei auch unbeachtlich, daß infolge der modernen Entwicklung der Industrieberufe mit ihren erhöhten Anforderungen an die spezialisierte Berufsarbeit und dem damit verbundenen geringen Wechsel der Arbeitsplätze durch die Arbeitnehmer ganz allgemein eine Erschwerung für die Wiedereingliederung älterer und leistungsverminderter Menschen in den Arbeitsprozeß gegeben sei. - Der Klägerin seien, so meint das Berufungsgericht endlich, auch Fabrikarbeiten außerhalb der Textilindustrie zuzumuten, und zwar auf dem weiten Gebiet der gewerblichen Arbeiterin. Denn Spinnerinnen würden in maßgeblichen Berufskreisen schlechthin als Textilarbeiterinnen bezeichnet, die Tariflöhne der Spinnerinnen wichen von denen der Arbeiterinnen anderer Gewerbe nicht wesentlich ab und das Ansehen der Arbeiterinnen der einen und der anderen Branche sei in den Augen der Umwelt nicht wesentlich verschieden.
Gegen das ihr am 18. Januar 1960 zugestellte Urteil hat die Klägerin beim Bundessozialgericht (BSG) am 30. Januar 1960 Revision eingelegt und sie fristgerecht begründet.
Die Klägerin rügt unrichtige Anwendung des § 1246 RVO nF. Sie hält eine Verweisung auf Tätigkeiten, die dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen und die für die Klägerin nicht erreichbar seien, nicht für statthaft. Sie meint, das LSG hätte sie auch nicht auf Tätigkeiten einer Fabrikarbeiterin in anderen Gewerbezweigen außerhalb der Textilindustrie verweisen dürfen, weil sie als Ringspinnerin - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts - einen anerkannten Anlernberuf ausgeübt habe. Nach dem vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Verzeichnis der in der Bundesrepublik Deutschland anerkannten Lehr- und Anlernberufe (Stand: 1. Januar 1959) seien unter der Kennziffer 3421 b Baumwollspinner und Bastfaserspinner mit einer Ausbildungszeit von eineinhalb bis zwei Jahren aufgeführt. Die Ringspinnerin führe in der Systematik der Berufe (Berufsverzeichnis für die Arbeitsstatistik, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit) ebenfalls die Berufskennziffer 3421 b. Die Tätigkeit der Ringspinnerin, die sie nach einer Anlernzeit von zwei Jahren ausgeübt habe, sei unter Berücksichtigung der Modernisierung und Technisierung auch in der Spinnindustrie den regelrechten Anlernberufen zuzurechnen. Zumutbar seien ihr daher nur diesem Anlernberuf gleichwertige Tätigkeiten. Sie habe Materialkenntnisse und technische Erfahrungen nur in ihrer Berufsgruppe gesammelt und könne auf Tätigkeiten anderer Gewerbezweige schon deshalb nicht verwiesen werden, weil sie dadurch überfordert werde. Sollten ihr dennoch Tätigkeiten in anderen Gewerbezweigen zugemutet werden können, so habe das Vordergericht die Aufklärung unterlassen, ob die für sie in Betracht kommenden Arbeitsplätze dort nicht ebenfalls durch ältere Betriebsangehörige besetzt seien und dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung ständen, so daß sie auf solche Tätigkeiten gleichfalls nicht verwiesen werden könne.
Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung der Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 8. Dezember 1959 und des SG Dortmund vom 17. Januar 1957 sowie des Bescheides der Beklagten vom 13. Januar 1956 die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Januar 1957 zu gewähren,
hilfsweise,
die Sache unter Aufhebung des Urteils des LSG an dieses zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, das Berufungsgericht habe mit zutreffenden Gründen das Vorliegen von Berufsunfähigkeit im Sinne von § 1246 Abs. 2 RVO verneint. Schwierigkeiten der Arbeitsvermittlung und andere Ursachen für die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin, die nicht in ihrer Person, sondern in den allgemein bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen der Betriebe begründet seien, könnten bei Prüfung der Berufsunfähigkeit nicht berücksichtigt werden. Schwierigkeiten der Arbeitsvermittlung seien nur im Rahmen des § 1248 Abs. 2 bzw. Abs. 3 RVO von Bedeutung und könnten sonst Rechtsfolgen nur nach dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) auslösen. Die Beklagte vertritt die Auffassung, die Klägerin habe als Ringspinnerin nur Arbeiten einer ungelernten Arbeiterin verrichtet Deshalb könne sie auch auf Tätigkeiten einer ungelernten Arbeiterin in anderen Industriezweigen verwiesen werden, ohne daß dies für sie einen unzumutbaren wirtschaftlichen oder sozialen Abstieg bedeuten würde. Da im Wohngebiet der Klägerin in Betracht kommende Arbeitsmöglichkeiten ausreichend zur Verfügung stünden, könne die Klägerin eine ihr zumutbare Berufstätigkeit weiter ausüben, so daß Berufsunfähigkeit nicht gegeben sei.
Die zulässige Revision ist unbegründet.
Die Klägerin begehrt im Revisionsverfahren nur noch Rente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 RVO ab 1. Januar 1957.
Der Entscheidung des Vordergerichts, daß der Klägerin eine solche Rente nicht zusteht, war im Ergebnis beizupflichten.
Rente wegen Berufsunfähigkeit erhält nach § 1246 Abs. 1 RVO der Versicherte, der berufsunfähig ist, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Gegen die Annahme der Erfüllung der Wartezeit bestehen keine Bedenken. Solche sind auch von keiner Seite erhoben worden. Der Rentenanspruch der Klägerin hängt daher allein von der Entscheidung ab, ob sie seit dem 1. Januar 1957 berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO ist. An dieser gesetzlichen Voraussetzung fehlt es.
Berufsunfähig ist nach § 1246 Abs. 2 RVO ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Wesentliche Grundlage für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit sind demgemäß die Kräfte und Fähigkeiten des Versicherten und sein bisheriger Beruf.
Als bisheriger Beruf der Klägerin ist im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO ihre Tätigkeit als Ringspinnerin anzusehen. Während der rund 25-jährigen Dauer ihrer versicherungspflichtigen Beschäftigung hat die Klägerin, abgesehen von drei Jahren, die Ringspinnmaschine bedient. Diese Tätigkeit war ihr eigentlicher Beruf. Zwar hat sie nach ihren Angaben auch drei Jahre an der Selfaktor-Spinnmaschine gearbeitet, wobei nicht feststeht, wann sie diese Tätigkeit verrichtet hat, insbesondere, ob dies ihre letzte versicherungspflichtige Beschäftigung gewesen ist. Der Selfaktorspinner ist, wie auch der vom Berufungsgericht angehörte Sachverständige angegeben hat, ein anerkannter industrieller Lehrberuf mit einer Lehrzeit von drei Jahren, da er zumeist als Streichgarnspinner arbeitet (vgl. Molle, Wörterbuch der Berufsbezeichnungen 1951 S. 197). Die Klägerin hat aber, wie das Berufungsgericht - für den Senat nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindend - festgestellt hat, eine dreijährige Lehrzeit nicht durchlaufen, also auch nicht eine solche als Selfaktorspinnerin . Da sie an der Selfaktor-Spinnmaschine auch nicht länger als die vorgeschriebene Lehrzeit tätig gewesen ist, kommt es auch nicht in Betracht, sie einer gelernten Selfaktorspinnerin gleichzustellen. Der Lehrberuf des Selfaktorspinners scheidet daher als bisheriger Beruf der Klägerin im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO aus. Die Tätigkeit der Klägerin in der Zeit, in welcher sie seit 1942 ihre Versicherung freiwillig fortgesetzt hat, muß ebenfalls als bisheriger Beruf unberücksichtigt bleiben. Denn als bisheriger Beruf im Sinne des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO kann grundsätzlich nur eine versicherungspflichtige Beschäftigung angesehen werden, nicht dagegen eine Tätigkeit nach dem Ausscheiden aus der Pflichtversicherung, selbst wenn während dieser Zeit die Versicherung freiwillig fortgesetzt worden ist (BSG 7, 66).
Als Ringspinnerin kann die Klägerin nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts in Anbetracht ihres Gesundheitszustandes und der ihr verbliebenen körperlichen und geistigen Kräften zwar nicht mehr arbeiten, ist aber noch fähig, die Tätigkeiten einer Arbeiterin in einer Fabrik der Textilindustrie und anderer gewerblicher Zweige vornehmlich im Sitzen auszuführen und durch eine solche Tätigkeit die für sie maßgebliche Lohnhälfte zu erwerben. Es kam darauf an, welche derartige Tätigkeiten zu verrichten der Klägerin unter Berücksichtigung ihres bisherigen Berufs als Ringspinnerin zugemutet werden kann.
Das Berufungsgericht und die Beklagte sind der Auffassung, die Klägerin habe als Ringspinnerin die Berufstätigkeit einer ungelernten Arbeiterin verrichtet und könne deshalb auf jede ungelernte Tätigkeit einer Fabrikarbeiterin in der Textilindustrie und anderer Betriebe der gewerblichen Wirtschaft verwiesen werden. Demgegenüber vertritt die Revision die Ansicht - und sieht insbesondere hierin eine unrichtige Anwendung des § 1246 Abs. 2 RVO -, die Klägerin habe als Ringspinnerin einen anerkannten Anlernberuf ausgeübt und ihr seien daher nur diesem Beruf gleichwertige Tätigkeiten zuzumuten. Es kann jedoch sowohl dahinstehen, ob die Klägerin als Ringspinnerin einen anerkannten Anlernberuf ausgeübt hat, als auch, ob sie nach langjähriger Ausübung einer solchen Tätigkeit einer angelernten Spezialarbeiterin gleichzustellen ist. In beiden Fällen kann sie nicht für berufsunfähig angesehen werden.
Ein Versicherter, der in vorgeschriebener Anlernzeit - von 1 bis 2 Jahren - für einen anerkannten Anlernberuf ausgebildet worden ist, eine vorgeschriebene Prüfung bestanden hat und in seinem anerkannten Anlernberuf tätig gewesen ist, kann zwar auf ungelernte Tätigkeiten einfacher Art nicht verwiesen werden, also auf Arbeiten, die ohne eingehendere Einweisung, längere Einarbeitung oder betriebliche Anlernung von jedem gesundheitlich dazu Fähigen ausgeübt werden können (z B einfache Reinigungs- und Putzarbeiten, Aufwarte-, Küchen- und Kantinenhilfsarbeiten, einfache Wächter- und Wartungsdienste, bloße Botengänge, einfache Hof-, Platz- und Gartenarbeiten usw.). Solche ungelernten Tätigkeiten einfacher Art sind dem Spezialarbeiter mit Rücksicht auf Umfang und Dauer seiner Ausbildung und die besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit in dem anerkannten Anlernberuf nicht zuzumuten. Ihre Verrichtung würde für ihn einen wesentlichen sozialen Abstieg bedeuten. Jedoch muß sich der Arbeiter mit einem anerkannten Anlernberuf auf solche ungelernte Tätigkeiten verweisen lassen, die nicht zu diesen Arbeiten einfacher Art gehören. Einem Facharbeiter, der einen Lehrberuf mit vorgeschriebener dreijähriger Lehrzeit ausgeübt hat und dem nach ständiger Rechtsprechung des BSG ungelernte Tätigkeiten grundsätzlich nicht, sondern nur ausnahmsweise unter ganz besonderen Umständen zugemutet werden können (vgl. BSG 7, 66; 9, 254 ff; 16, 125; 17, 41 ff; 17, 191 ff; SozR RVO § 1246 Aa 8 Nr. 13; Urteil des Senats vom 29.3.1963), steht der Spezialarbeiter mit einem anerkannten Anlernberuf sozial nicht gleich, obgleich auch er - wenn auch für eine kürzere Zeit - eine vorgeschriebene Ausbildung durchlaufen und eine Prüfung abgelegt hat. Andererseits steht der Spezialarbeiter, der zu einem anerkannten Anlernberuf ausgebildet ist, mit dem ungelernten Arbeiter nicht auf einer Stufe. Der Regelung des § 1246 Abs. 2 RVO liegt aber der Gedanke zugrunde, daß ein Versicherter, der in seinem Berufszweig nicht mehr tätig sein kann, wirtschaftliche und soziale Einbußen in begrenztem Umfang in Kauf nehmen muß, bevor er als berufsunfähig angesehen wird. Er muß sich auch auf sozial geringer bewertete Tätigkeiten dann verweisen lassen, wenn der damit verbundene soziale Abstieg nicht wesentlich ist. Wenn aber ein Spezialarbeiter mit einem anerkannten Anlernberuf zu ungelernten Tätigkeiten übergeht, die nicht zu den einfachen Arbeiten der oben geschilderten Art zählen, so kann hierin ein wesentlicher sozialer Abstieg nicht erblickt werden. - Zumutbar ist für einen Spezialarbeiter mit einem anerkannten Anlernberuf naturgemäß auch jede Tätigkeit in einem anderen anerkennten Anlernberuf, soweit er sie nach seinen Kräften und Fähigkeiten ausführen kann (vgl. BSG 9, 189; Urteil des erkennenden Senats vom 29.3.1963, Az. 12/3 RJ 260/58).
Selbst wenn die Klägerin also als Ringspinnerin einen anerkannten Anlernberuf ausgeübt hat oder einer solchen Spezialarbeiterin gleichzustellen ist, muß sie sich auf ungelernte Tätigkeiten verweisen lassen, die nicht zu den einfachen ungelernten Arbeiten der oben geschilderten Art gehören. Nach ihrem gesundheitlichen Zustand ist die Klägerin nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts noch fähig, die vornehmlich im Sitzen zu verrichtenden Tätigkeiten einer Nachleserin, Sortiererin, Dekatiererin sowie gleichartige und gleichwertige Arbeiten in der Weberei und in anderen Gewerbezweigen auszuüben. Bei diesen Tätigkeiten handelt es sich nicht um ungelernte Arbeiten einfacher Art, die ohne eingehendere Einweisung, längere Einarbeitung oder betriebliche Anlernung auszuführen sind. Auf diese Tätigkeiten kann die Klägerin deshalb selbst dann verwiesen werden, wenn sie einen anerkannten Anlernberuf ausgeübt hat oder einer solchen Spezialarbeiterin wegen langjähriger Ausübung einer solchen Tätigkeit gleichzustellen ist. Da es sich hierbei um ungelernte Tätigkeiten handelt, besitzt sie auch die Fähigkeiten, sie auszuüben.
Auf Arbeitsplätze, die auf dem allgemeinen Arbeitsfeld in nennenswerter Zahl überhaupt nicht vorhanden sind, kann die Versicherte, wie die Revision zutreffend hervorhebt, freilich nicht verwiesen werden (BSG 8, 31). Arbeitsplätze mit Tätigkeiten, die der Klägerin zuzumuten sind und ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen, sind auf dem allgemeinen Arbeitsfeld aber in nennenswerter Zahl vorhanden. Daß die Arbeitsplätze, die der Klägerin in der Textilindustrie in ihrer Berufssparte zugemutet werden können, in der Regel älteren Betriebsangehörigen vorbehalten werden und in der Regel ständig besetzt sind, schließt nicht aus, die Klägerin auf diese Tätigkeiten zu verweisen. Diese Arbeitsplätze sind, wie den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts zu entnehmen ist, nicht nur gelegentlich und in so geringer Zahl vorhanden, daß sie nicht ins Gewicht fielen. Das Berufungsgericht hat nur angenommen, daß diese Arbeitsstellen der Klägerin wegen ihres vorgerückten Alters wohl kaum noch in nennenswerter Anzahl zugänglich seien. Das aber ist nicht entscheidend; denn darauf, ob der Klägerin im Einzelfall ein freier Arbeitsplatz nachgewiesen werden kann, kommt es nicht an, da insoweit die Arbeitslosenversicherung einzutreten hat. Zu berücksichtigen ist darüberhinaus, daß vor allem auf dem allgemeinen Arbeitsfeld der übrigen gewerblichen Wirtschaft außerhalb der Textilindustrie für die Klägerin zumutbare Arbeitsplätze in ausreichender Anzahl gegeben sind, nämlich für ungelernte Tätigkeiten als Fabrikarbeiterin, die vornehmlich im Sitzen nach einer angemessenen Zeit der Einweisung oder Einarbeitung oder betrieblichen Anlernung auszuführen sind. Hierbei handelt es sich nicht um Arbeitsplätze, die älteren Arbeiterinnen vorbehalten sind. Selbst wenn die Klägerin einen anerkannten Anlernberuf ausgeübt hat, muß sie sich, was das Berufungsgericht nicht beachtet hat, auf derartige Tätigkeiten außerhalb der Textilindustrie verweisen lassen. Im Rahmen der Zumutbarkeit des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO besteht eine Beschränkung der Verweisbarkeit auf die eigene Berufsgruppe nicht (BSG 9 S. 254, 256-259).
Der Auffassung des Berufungsgerichts, daß die Klägerin seit dem 1. Januar 1957 nicht als berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO anzusehen ist, war sonach im Ergebnis zuzustimmen. Die Revision mußte daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen