Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorliegen eines Härtefalls nach RVO § 602 bei Arbeitstätigkeit der Witwe
Leitsatz (amtlich)
Bei der Prüfung eines Härtefalls iS von RVO § 602 haben die eigenen Einkünfte der Witwe aus Erwerbstätigkeit grundsätzlich außer Betracht zu bleiben (Anschluß an und Fortführung von BSG 1972-09-26 5 RKnU 21/70 = BSGE 34, 269 und BSG 1977-12-16 5 RKnU 6/76).
Orientierungssatz
Das Vorliegen eines Härtefalls kann nicht mit der Begründung verneint werden, eine Witwe könne wieder einer zumutbaren Berufstätigkeit nachgehen, nachdem sie ihrem schwerverletzten Ehemann bis zu seinem Tode gepflegt und versorgt hat. RVO § 602 will erkennbar gerade den Schaden ausgleichen - wenn auch nur in Härtefällen -, der der Witwe bereits dadurch entstanden ist, daß ihr verstorbener Ehemann wegen seiner Verletzung nicht in der Lage gewesen ist, besser für sie zu sorgen. Diesen Schaden allein deshalb als ausgeglichen anzusehen, weil er nach dem Tode des Ehemannes nicht weiter anwächst, ist nach dem Gesetz nicht gerechtfertigt.
Normenkette
RVO § 602 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 29.03.1979; Aktenzeichen L 2 BU 44/78) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 22.06.1978; Aktenzeichen S 11 (9) BU 79/77) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten eine laufende Witwenbeihilfe anstelle der ihr gewährten einmaligen Witwenbeihilfe (§ 602 Reichsversicherungsordnung -RVO-).
Der 1918 geborene Ehemann der Klägerin (Versicherter) war ab 1933 als Schlepper, Lehrhauer und Zimmerhauer tätig. 1949 erlitt er während seiner Arbeit als Lehrhauer einen Unfall. Er ging seither keiner Erwerbstätigkeit mehr nach und bezog von der Beklagten Unfallrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 vH. Seine Unfallrente betrug zuletzt monatlich 729,90 DM, seine Knappschaftsrente monatlich 659,20 DM.
Im April 1975 starb der Versicherte. Die Beklagte lehnte es ab, der Klägerin Hinterbliebenenrente zu gewähren, weil der Tod nicht Folge des Unfalls gewesen sei. Sie gewährte der Klägerin eine einmalige Witwenbeihilfe (§ 600 RVO). Von der Bundesknappschaft erhielt die Klägerin, aus deren Ehe mit dem Versicherten drei Kinder hervorgegangen waren, erhöhte Witwenrente. Die Rente betrug ab dem 1. August 1975 - nach Ablauf des Sterbevierteljahres - 679,80 DM und ab dem 1. Juli 1976 754,60 DM. Die Klägerin erzielte im Januar 1976 durch ihre Halbtagsarbeit als Küchengehilfin einen Nettolohn von 838,31 DM.
Den Antrag der Klägerin vom Februar 1976, ihr eine laufende Witwenbeihilfe zu gewähren, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 20. Oktober 1976; Widerspruchsbescheid vom 29. März 1977). Die Beklagte veranlaßte die Bundesknappschaft, eine Berechnung der erhöhten Witwenrente aus der Knappschaftsversicherung vorzunehmen und dabei von der Annahme auszugehen, daß der Versicherte bis zur Vollendung des 50. Lebensjahres als Lehrhauer tätig gewesen wäre und bis zu seinem Tod als Bandwärter gearbeitet hätte. Die Bundesknappschaft kam zu einer fiktiven Witwenrente von 874,30 DM ab dem 1. August 1975 und in Höhe von 971,60 DM ab dem 1. Juli 1976. Die Beklagte begründete die Ablehnung der Witwenbeihilfe damit, daß der Klägerin für den Zeitraum ab August 1975 dadurch, daß ihr Ehemann von 1949 bis zu seinem Tode arbeitsunfähig gewesen sei, ein Einkommensverlust von 194,50 DM und für den Zeitraum ab dem 1. Juli 1976 ein Verlust von 217,-- DM monatlich entstanden sei. Verglichen mit dem Gesamteinkommen der Klägerin, also den Einkünften aus Hinterbliebenenrente und aus eigener Arbeit, mache der Einkommensverlust der Klägerin ab August 1975 11,36 vH und ab Juli 1976 11,99 vH aus. Es liege daher keine Härte im Sinne des § 602 RVO vor.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 22. Juni 1978). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 29. März 1979 das erstinstanzliche Urteil abgeändert und unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide die Beklagte verurteilt, der Klägerin einen neuen Bescheid über die Gewährung einer laufenden Witwenbeihilfe unter Beachtung der Rechtsauffassung des LSG zu erteilen. Es hat im wesentlichen ausgeführt:
Die Beklagte habe den Begriff des Härtefalles verkannt und ihr Ermessen nicht entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt. Denn Einkünfte der Witwe aus Erwerbstätigkeit seien im Rahmen des § 602 RVO grundsätzlich außer acht zu lassen und könnten auch nicht ausnahmsweise zur Verneinung eines Härtefalles führen. Der Härtefall müsse sich auf den unfallbedingten Schaden beziehen. Verglichen mit der tatsächlichen Knappschafts-Witwenrente betrage dieser monatlich 22,2 vH für den Zeitraum ab dem 1. August 1975 und 22,3 vH seit dem 1. Juli 1976. Bei dieser Einkommensdifferenz von über 20 vH zwischen gewährter Rente und fiktiver Rente sei in der Regel von einer Härte auszugehen.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 602 RVO durch das Berufungsgericht.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung
gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen
vom 22. Juni 1978 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, erneut über das Begehren der Klägerin zu entscheiden. Denn die von der Beklagten getroffene Entscheidung entspricht nicht dem Inhalt des § 602 RVO. Dagegen treffen die Erwägungen, die das LSG zu § 602 RVO angestellt hat, im wesentlichen Sinn und Bedeutung dieser Bestimmung.
Nach § 602 RVO kann in Härtefällen anstelle der einmaligen Beihilfe nach § 600 Abs 1 und 3 sowie § 601 RVO eine laufende Beihilfe gewährt werden, wenn ein Verletzter, der länger als 10 Jahre eine Rente nach einer MdE um 80 oder mehr vH bezogen hat, nicht an den Folgen eines Unfalls gestorben ist. Der Ehemann der Klägerin hat länger als 10 Jahre eine Rente nach einer MdE um 80 vH bezogen. Insoweit sind die Voraussetzungen für die Zahlung einer laufenden Beihilfe gegeben.
Wie der Senat bereits im Urteil vom 26. September 1972 (BSGE 34, 269 ff = SozR Nr 1 zu § 602 RVO) ausgeführt hat, besteht in § 602 RVO zwischen dem Begriff "Härtefall" und dem das Ermessen ausdrückenden "Können" eine unlösbare Verbindung. Der Begriff "Härtefall" ragt in den Ermessensbereich hinein und bestimmt damit zugleich Inhalt und Grenzen der pflichtgemäßen Ermessensausübung. Auch wenn man aus dieser Einordnung des Rechtsbegriffes des "Härtefalles" den Schluß zieht, daß der Verwaltung ein gewisser gerichtsfreier Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zusteht, enthält der Begriff des Härtefalles rechtliche Schranken, deren Einhaltung von den Gerichten zu überprüfen ist (§ 54 Abs 3 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Unter Hinweis auf die Erwägungen des Ausschusses für Sozialpolitik (BT-Drucks IV/938 S 15 zu § 599a) hat der Senat im Urteil vom 26. September 1972 es als Zweck der Vorschrift angesehen, den bei der Witwe durch den Arbeitsunfall des Ehemannes mittelbar verursachten Schaden auszugleichen, soweit er ihr insbesondere dadurch entstanden ist, daß die Folgen des Arbeitsunfalles (in Gestalt einer langdauernden hochgradigen MdE) den Verletzten gehindert haben, weitere Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten und damit auch die spätere Rente der Witwe entsprechend zu erhöhen. Wie der erkennende Senat in der genannten Entscheidung und des weiteren im Urteil vom 16. Dezember 1977 - 5 RKnU 6/76 - betont hat, bedeutet dies, daß sich der Härtefall im Sinne des § 602 RVO auf den unfallbedingten Schaden beziehen und durch ihn verursacht sein muß. Bei dem somit allein maßgebenden unfallbedingten Einkommensverlust haben aber die eigenen Einkünfte der Witwe aus Arbeitsverdienst - mangels eines ursächlichen Zusammenhangs mit dem Unfall - grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Daraus ergibt sich weiter, daß ein Härtefall nicht deshalb verneint werden kann, weil die Witwe - hier unter zusätzlicher Berücksichtigung ihres Arbeitsverdienstes - ein ausreichendes Einkommen hat. Die Beklagte hat nach alledem den Zweck des § 602 RVO nicht richtig erkannt und ermessensfehlerhaft gehandelt, weil sie eine Härte allein mit der Begründung verneint hat, der - auch von ihr anerkannte - Einkommensverlust der Klägerin sei ins Verhältnis zu setzen zu dem Gesamteinkommen, das auch den eigenen Verdienst der Klägerin einschließe und im Verhältnis zu diesem Gesamteinkommen lediglich 11,36 vH bzw 11,99 vH betrage.
Vielmehr muß für das Vorliegen eines Härtefalles in erster Linie geprüft werden, ob der - allein in der Rentenminderung liegende - unfallbedingte Schaden die Klägerin hart trifft. Dies hat das LSG bei der festgestellten Rentenminderung von über 20 vH, die sich bei einem Vergleich zwischen der tatsächlich gezahlten und der ohne den Arbeitsunfall zu zahlenden - fiktiven - Witwenrente ergibt, im Einklang mit den genannten Urteilen des Senats ohne Rechtsfehler bejaht. Das gilt hier umsomehr, als die festgestellte Rentenminderung dazu geführt hat, daß ihr Renteneinkommen erheblich geringer ist als 60 vH des Renteneinkommens, das ihr Ehemann zuletzt vor seinem Tode bezogen hat (vgl hierzu bereits Urteil vom 16. Dezember 1977 aaO).
Der Auffassung der Beklagten, ein Härtefall liege nicht vor, wenn eine Witwe wieder einer zumutbaren Berufstätigkeit nachgehen könne, nachdem sie ihren schwerverletzten Ehemann bis zu seinem Tode gepflegt und versorgt hat, kann aus den dargelegten Gründen nicht gefolgt werden. § 602 RVO will erkennbar gerade den Schaden ausgleichen - wenn auch nur in Härtefällen - der der Witwe bereits dadurch entstanden ist, daß ihr verstorbener Ehemann wegen seiner Verletzung nicht in der Lage gewesen ist, besser für sie zu sorgen. Diesen Schaden allein deshalb als ausgeglichen anzusehen, weil er nach dem Tode des Ehemannes nicht weiter anwächst, ist nach dem Gesetz nicht gerechtfertigt. Soweit die Beklagte aus dem Urteil des 8. Senats des BSG vom 23. Juni 1977 (SozR 2200 § 602 Nr 1) unter Zugrundelegung einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise eine Einbeziehung der Einkünfte der Witwe aus eigener Erwerbstätigkeit bei der Prüfung des Härtefalles herleiten will, war dies für den erkennenden Senat schon deswegen nicht beachtlich, weil der 8. Senat in dem genannten Urteil über einen Fall mit derartigen Einkünften der Witwe nicht zu entscheiden hatte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen