Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld. Rücknahme eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheides. Ermessen. Vertrauensschutz. Zugunstenverfahren
Leitsatz (amtlich)
Durfte eine zu Unrecht gewährte Sozialleistung aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht rückwirkend entzogen werden, so kann dies auch noch im Zugunstenverfahren auf Rücknahme des bestandskräftig gewordenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheides geltend gemacht werden.
Orientierungssatz
§ 44 SGB 10 ermöglicht die Zurücknahme eines Bescheides über die Rückforderung einer Sozialleistung auch dann, wenn die Rechtswidrigkeit des Bescheides allein auf einem Verstoß gegen das Vertrauen schützende Vorschriften beruht.
Normenkette
BKGG § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Fassung: 1989-06-30, Abs. 2, § 20 Abs. 5 Fassung: 1994-01-31; SGB X § 44 Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 2 S. 2, § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2, Abs. 4 S. 2, § 48 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nrn. 2, 4, Abs. 3, 4 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger bezog von der Beklagten Kindergeld (Kg) für seine Kinder N. (geboren 1967) bis Juli 1990, T. (geboren 1970) bis Juli 1990 und ab Juli 1991 sowie für R. (geboren 1982). Anfang 1992 erfuhr die Beklagte, daß der Kläger seit dem 1. August 1988 nicht mehr in Deutschland, sondern als Grenzgänger in der Schweiz arbeitete. Sie stellte deshalb ab Januar 1992 die Zahlung des Kg einstweilen ein. Ihre nachfolgenden Ermittlungen ergaben, daß der Kläger den ihm nach dem Recht der Schweiz zustehenden Anspruch auf Kinderzulagen bis dahin nicht geltend gemacht hatte. Erst ab April 1992 erhielt er auf seinen nunmehr gestellten Antrag hin monatliche Kinderzulagen für T. und R. in Höhe von insgesamt 240 SFr. Den gesetzlichen, auf zwei Jahre vor dem Zeitpunkt der Geltendmachung beschränkten Anspruch auf Nachzahlung der Kinderzulagen lehnte die insoweit zuständige Arbeitgeberin des Klägers zunächst ab.
Mit Bescheid vom 31. März 1993 hob die Beklagte die Bewilligung des Kg ab August 1989 in Höhe des (in DM umgerechneten) Anspruchs auf schweizerische Kinderzulagen auf und forderte das in der Zeit von August 1989 bis Dezember 1991 zuviel gezahlte Kg in Höhe von insgesamt 4.641,00 DM zurück. Zur Begründung führte sie aus, nach § 8 Abs 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) in der seit dem 8. Juli 1989 geltenden Fassung komme es nicht mehr darauf an, ob eine das Kg ausschließende Leistung tatsächlich gezahlt worden sei oder werde, sondern lediglich darauf, ob - wie hier - bei entsprechender Antragstellung ein Anspruch bestanden habe bzw bestehe. Der Bescheid ist bestandskräftig geworden.
Im Juli 1993 beantragte der Kläger die Überprüfung dieser Entscheidung nach § 44 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X). Der Bescheid sei rechtswidrig. Die Beklagte habe zu Unrecht die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X bejaht. Die Pflicht zur Mitteilung des grenzüberschreitenden Arbeitsplatzwechsels habe er weder vorsätzlich noch grob fahrlässig verletzt. Er habe bis Anfang 1992 auch nicht gewußt, daß nach § 8 Abs 1 BKGG ein Anspruch auf Kg schon dann ausgeschlossen sei, wenn bei entsprechender Antragstellung eine Kinderzulage zu zahlen gewesen wäre. Die Beklagte hätte der speziellen auslandsbezogenen Steuernummer der von ihm eingereichten Einkommensteuerbescheide entnehmen können, daß ein Beschäftigungsverhältnis in der Schweiz bestehe. Im übrigen sei die Beklagte bereits Anfang März 1992 über alle hier maßgeblichen Umstände unterrichtet gewesen. Deshalb sei die Jahresfrist für die rückwirkende Aufhebung der Kg-Bewilligung im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 31. März 1993 abgelaufen gewesen. Der Überprüfungsantrag blieb erfolglos (Bescheid vom 12. Juli 1993; Widerspruchsbescheid vom 2. September 1993).
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 31. Oktober 1994). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. August 1995): Das Klagebegehren sei dahin auszulegen, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Juli 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. September 1993 zu verpflichten, den bestandskräftigen Bescheid vom 31. März 1993 insoweit zurückzunehmen, als mit diesem die Bewilligung des Kg ab August 1989 bis Juli 1990 teilweise und von August 1990 bis Dezember 1991 in vollem Umfang aufgehoben worden und das danach zu Unrecht bezogene Kg in Höhe von 4.641,00 DM zu erstatten ist. Diese Klage sei unbegründet. Nach Sinn und Zweck der Regelung des § 44 SGB X komme eine Rücknahme einer auf § 48 SGB X gestützten bestandskräftigen Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung nur dann in Betracht, wenn die Verwaltung zu Unrecht eine wesentliche Änderung der insoweit maßgebenden tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse (§ 48 Abs 1 Satz 1 SGB X) angenommen und daraufhin die Erstattung der vermeintlich zu Unrecht erbrachten Leistungen (§ 50 Abs 1 SGB X) gefordert habe. Nur diese Situation sei der in § 44 SGB X erwähnten rechtswidrigen Nichterbringung von Sozialleistungen aufgrund der unrichtigen Anwendung des Rechts oder der Zugrundelegung eines unrichtigen Sachverhalts gleichzustellen. Hingegen seien sonstige zur Rechtswidrigkeit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides führende Mängel der bestandskräftigen Entscheidung im Rahmen des § 44 SGB X nicht zu berücksichtigen; diese Vorschrift diene nicht dazu, die Gewährung materiell zu Recht entzogener Sozialleistungen aus außerhalb des materiellen Rechts liegenden Gründen aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Es könne deshalb offenbleiben, ob die übrigen Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung der Leistungsbewilligung vorgelegen haben.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger, der während des Berufungsverfahrens aufgrund eines außergerichtlichen Vergleichs von seiner Arbeitgeberin eine Nachzahlung der Kinderzulage in Höhe von umgerechnet 2.320,00 DM erhalten hat, die Verletzung des § 44 SGB X. Entgegen der Auffassung des LSG ermögliche diese Vorschrift die Korrektur eines unanfechtbar gewordenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheides unabhängig davon, aus welchem Grund dieser rechtswidrig sei. Auch die fehlerhafte tatsächliche Annahme der groben Fahrlässigkeit (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X) und die Überschreitung der Jahresfrist für die Aufhebungsentscheidung (§§ 48 Abs 4 Satz 1, 45 Abs 4 Satz 2 SGB X) seien deshalb geeignet, die Pflicht der Beklagten zu begründen, den Bescheid vom 31. März 1993 nach § 44 SGB X aufzuheben.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 29. August 1995 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Freiburg vom 31. Oktober 1994 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt das zweitinstanzliche Urteil.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren nach § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung durch das LSG (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) begründet. Nach den vom LSG bisher getroffenen Feststellungen läßt sich nicht entscheiden, ob die Klage begründet ist.
Als Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers kommt zum einen § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X iVm der Sonderregelung des § 20 Abs 5 BKGG in der bis zum 31. Dezember 1995 geltenden und hier anzuwendenden Fassung des BKGG in Betracht. Danach ist im Kg-Recht ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Er kann ganz oder teilweise auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden; in diesem Fall handelt es sich um eine Ermessensentscheidung der Behörde. § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X kann darüber hinaus entsprechend anzuwenden sein, wenn es nicht um die rechtswidrige Nichterbringung einer Sozialleistung geht, sondern darum, daß - wie hier - eine bewilligte und erbrachte Sozialleistung durch einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid wieder entzogen und zurückgefordert worden ist (BSG, Urteil vom 12. Dezember 1996 - 11 RAr 31/96 - zur Veröffentlichung vorgesehen, ebenso Schroeder-Printzen/Wiesner SGB X § 44 RdNr 2; Hauck/Haines § 44 SGB X RdNrn 11 und 13; Kopp SGb 1987, 121).
Zum anderen kommt die (durch § 20 Abs 5 BKGG nicht modifizierte) Regelung des § 44 Abs 2 SGB X als Rechtsgrundlage in Betracht. Danach ist "im übrigen", also außerhalb des tatbestandlichen Anwendungsbereichs des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X, ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen (Satz 1). Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden (Satz 2); in diesem Fall handelt es sich wiederum um eine Ermessensentscheidung der Behörde. Sofern folglich die entsprechende Anwendung des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X auf Bescheide über die Aufhebung der Bewilligung einer Sozialleistung und deren Rückforderung abgelehnt wird, ist § 44 Abs 2 SGB X heranzuziehen (so BSG SozR 1300 § 44 Nr 22 für reine Aufhebungsbescheide). Welcher Ansicht zu folgen ist, kann der Senat hier offenlassen. Im Kg-Recht gewähren sowohl die Regelung des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X iVm § 20 Abs 5 BKGG als auch die Regelung des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X bei rechtswidrigen Bescheiden über die Aufhebung der Bewilligung von Kg und dessen Rückforderung (nur) einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung durch die Kg-Behörde. In der Rechtsfolge unterscheiden sich beide Rechtsgrundlagen somit nicht. Die Frage, ob die Voraussetzungen dieser Tatbestände erfüllt sind, läßt sich anhand der vom LSG getroffenen Feststellungen nicht entscheiden. Mit der Begründung des LSG läßt sich der geltend gemachte Anspruch nicht verneinen. Nach den in den Vorinstanzen gestellten Anträgen ist die Klage darauf gerichtet, die Beklagte "zu verpflichten", ihren Bescheid vom 31. März 1993 aufzuheben. Der Antrag zielt in dieser Fassung auf die Regelung des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ab, wonach bei Erfüllung der dort genannten Voraussetzungen ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt auch für die Vergangenheit zurückzunehmen "ist". Dabei haben die Beteiligten übersehen, daß der Behörde im Kg-Recht bei der Entscheidung über die Rücknahme eines derartigen Bescheides Ermessen eingeräumt ist. Der Anspruch des Klägers auf Überprüfung des Bescheides vom 31. März 1993 ist daher von vornherein auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung der Beklagten beschränkt. Ein solcher Anspruch kann nur dann eine Verpflichtung zur Aufhebung des angegriffenen Bescheides erzeugen, wenn das behördliche Ermessen zugunsten des Betroffenen auf Null reduziert ist. Ist dies jedoch - wie in aller Regel - nicht der Fall, kann sich der Anspruch nur auf die Neubescheidung des Überprüfungsantrages unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts richten.
Dem Kläger hat allerdings in dem allein noch streitigen Zeitraum vom 1. August 1989 bis zum 31. Dezember 1991 ein Anspruch auf Kg für das erste und zweite Kind überhaupt nicht und für das dritte Kind nur in Höhe des die nach dem Recht der Schweiz zu beanspruchende Kinderzulage übersteigenden Betrages zugestanden. Denn nach § 8 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG in der ab 8. Juli 1989 geltenden Neufassung des § 8 Abs 1 Satz 1 BKGG durch Art 1 Nr 3a) aa) und Art 8 des Zwölften Gesetzes zur Änderung des BKGG vom 30. Juni 1989 (BGBl I S 1294) wird Kg nicht für ein Kind gewährt, für das außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes eine dem Kg vergleichbare Leistung gewährt wird oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre. Jedoch wird gemäß § 8 Abs 2 BKGG Kg in Höhe des Unterschiedsbetrags gezahlt, wenn der Bruttobetrag der anderen Leistung niedriger als das Kg nach § 10 Abs 1 BKGG ist. Nach der bis zum 7. Juli 1989 geltenden Fassung des § 8 Abs 1 Satz 1 BKGG hatte eine ausländische Leistung den Kg-Anspruch nur dann verdrängt, wenn sie an den Berechtigten auch gezahlt wurde (BSG SozR 5870 § 8 Nrn 12, 14). Die ab 8. Juli 1989 geltende Neufassung dieser Vorschrift läßt demgegenüber den Anspruch auf eine solche ausländische Leistung genügen, ohne daß es auf deren tatsächliche Erbringung ankommt. EG-rechtliche Bestimmungen bleiben im Verhältnis zur Schweiz ohne Bedeutung.
Der Anspruch des Klägers auf das ihm bewilligte Kg ist teilweise entfallen, weil er von seiner schweizerischen Arbeitgeberin aufgrund eines Gesamtarbeitsvertrages Kinderzulagen beanspruchen konnte (zur Vergleichbarkeit von Kg und schweizerischen Kinderzulagen vgl BSG SozR 5870 § 8 Nr 1). Dem Kläger standen ab Beginn seiner Beschäftigung in der Schweiz (1. August 1988) für jedes Kind Kinderzulagen von monatlich 120 SFr und, soweit sie sich in der Ausbildung befanden, von 150 SFr zu, die ihm von der Arbeitgeberin auszuzahlen waren. Das vom Kläger an sich zu beanspruchende Kg betrug demgegenüber in der fraglichen Zeit 50,00 DM für das erste Kind, 100,00 DM (bis Juni 1990) bzw 130,00 DM (ab Juli 1990) für das zweite Kind und 220,00 DM für das dritte Kind. Der Anspruch auf Kg war somit für das erste und zweite Kind ganz und für das dritte Kind teilweise entfallen (§ 8 Abs 1 Satz 1 Nr 1 und Abs 2 BKGG). Der Höhe nach beläuft sich die ab 1. August 1989 rechtswidrig erbrachte Kg-Leistung, wie von der Beklagten zutreffend errechnet, auf insgesamt 4.641,00 DM.
Soweit die Beklagte das Kg zu jenem Zeitpunkt bereits bewilligt hatte, war somit eine wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen eingetreten, die der Kg-Bewilligung zugrunde gelegen hatten (§ 48 Abs 1 Satz 1 SGB X). Soweit die Beklagte das Kg für T. nach der zwischenzeitlichen Unterbrechung ab Juli 1991 neu bewilligt hat, erweist sich die Bewilligungsentscheidung hingegen als von Anfang an rechtswidrig; insofern hätte die Beklagte statt auf § 48 SGB X auf § 45 SGB X zurückgreifen müssen, da es hierbei um die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts geht. Ungeachtet dessen steht jedoch fest, daß dem Kläger nach materiellem Recht (§ 8 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG) das bewilligte Kg in Höhe von 4.641,00 DM nicht zugestanden hat und die Beklagte jedenfalls grundsätzlich berechtigt war, die Bewilligungsentscheidungen in diesem Umfang aufzuheben (§ 48 SGB X) bzw zurückzunehmen (§ 45 SGB X). Allein unter diesem Aspekt hat die Beklagte trotz des ausschließlichen Rückgriffs auf § 48 SGB X im Ergebnis nicht "das Recht unrichtig angewandt", wie es § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X verlangt.
Die Beteiligten streiten deshalb zu Recht auch nur darum, ob der Bescheid vom 31. März 1993 aus sonstigen Gründen rechtswidrig ist und ob § 44 SGB X gegebenenfalls die Möglichkeit und den Anspruch eröffnet, einen solcherart rechtswidrigen, aber bestandskräftig gewordenen Bescheid im Zugunstenverfahren zu korrigieren. In Betracht kommt hier die Rechtswidrigkeit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids wegen unterbliebener vorheriger Anhörung des Klägers nach § 24 SGB X (BSGE 44, 207, 214 = SozR 1300 § 24 Nrn 2 und 9; BSGE 70, 133, 135 = SozR 3-1300 § 24 Nr 6), die Rechtswidrigkeit wegen Fehlens der subjektiven Tatbestandsmerkmale des § 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 2 und 4 SGB X bzw des § 45 Abs 2 Satz 3 Nrn 2 und 3 SGB X (Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit), die teilweise Rechtswidrigkeit (betreffend Kg für T. ab Juli 1991) wegen unterbliebener Ausübung von Ermessen (§ 45 SGB X) sowie die Rechtswidrigkeit wegen Überschreitung der Jahresfrist für die Aufhebung der Kg-Bewilligung nach §§ 48 Abs 4 Satz 1 und 45 Abs 4 Satz 2 SGB X.
Es ist denkbar, daß der Bescheid vom 31. März 1993 wegen eines dieser Gründe im streitbefangenen Umfang rechtswidrig und die Klage daher - im Sinne der Neubescheidung des Überprüfungsantrages - begründet ist. Lediglich die unterbliebene Anhörung ist im vorliegenden Zusammenhang unbeachtlich.
Die Anwendung des § 44 SGB X setzt voraus, daß ein wirksamer Verwaltungsakt vorliegt, der von Anfang an rechtswidrig war. Die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts kann sich aus einem von der Behörde angenommenen, in Wirklichkeit aber unrichtigen Sachverhalt oder aus fehlerhafter Rechtsanwendung ergeben. Allerdings führt nicht jeder Fehler in der Rechtsanwendung zur Aufhebung. Erforderlich ist außerdem, wie sich aus der Formulierung "und soweit deshalb" in § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ergibt, daß ein Kausalzusammenhang zwischen der Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Verwaltungsakts und dem Nichterbringen der an sich zustehenden Sozialleistung besteht. Das läßt sich nur anhand der materiellen Rechtslage beurteilen, so daß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X dahin zu verstehen ist, daß die vorenthaltenen Sozialleistungen materiell zu Unrecht nicht erbracht worden sind (BSG SozR 1300 § 44 Nr 38; BSG SozR 5870 § 2 Nr 44; Schroeder-Printzen/Wiesner SGB X § 44 RdNr 2; Schneider-Danwitz, Gesamtkomm SGB - Sozialversicherung, § 44 SGB X RdNr 18). Ziel des § 44 SGB X ist die Auflösung der Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines unrichtigen Verwaltungsakts und der materiellen Gerechtigkeit zugunsten der letzteren (BSG SozR 5870 § 2 Nr 44). Das Gebot, der materiellen Gerechtigkeit zum Erfolg zu verhelfen, bedeutet, daß im Zugunstenverfahren einem Betroffenen (nur) diejenige Leistung zu gewähren ist bzw - bei Ermessensentscheidungen - gewährt werden kann, die ihm nach materiellem Recht bei von Anfang an zutreffender Rechtsanwendung zugestanden hätte. Dem materiellen Recht widersprechende Besserstellungen schließt § 44 SGB X demgegenüber aus. Dieser Rechtsgedanke liegt im übrigen auch der Regelung des § 48 Abs 3 SGB X zugrunde, die verhindern soll, daß eine zu hohe Leistung, die durch eine unrichtige, aber nicht mehr korrigierbare Verwaltungsentscheidung zuerkannt worden ist, durch irgendeine Veränderung zugunsten des Betroffenen immer noch höher wird; materielles Unrecht soll nicht weiter wachsen (BSGE 63, 259 = SozR 1300 § 48 Nr 49, BSG SozR 1300 § 48 Nr 51, BSG SozR 1300 § 44 Nr 38). Die Einräumung einer ihm materiell nicht zustehenden Position über § 44 SGB X kann ein Betroffener deshalb nicht verlangen.
Bei der rechtswidrigen Nichterbringung einer Sozialleistung, also dem unmittelbaren Anwendungsbereich des § 44 Abs 1 SGB X, kommt es somit darauf an, ob dem Betroffenen ein Anspruch auf die ihm nicht gewährte Leistung nach den materiellrechtlichen Vorschriften des einschlägigen Sozialleistungsgesetzes zugestanden hat. Diese Sichtweise erweist sich indes als zu eng, wenn es um die analoge Anwendung des § 44 Abs 1 SGB X (BSG, Urteil vom 12. Dezember 1996 - 11 RAr 31/96 - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen) bzw die Anwendung des § 44 Abs 2 SGB X auf jene Fälle geht, in denen - wie hier - eine bindend bewilligte und erbrachte Sozialleistung durch einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid wieder entzogen und zurückgefordert worden ist. Bei der Rücknahme einer Leistungsbewilligung für die Vergangenheit geht es um das Recht, eine Leistung trotz Rechtswidrigkeit der zugrundeliegenden Verwaltungsentscheidung behalten zu dürfen, und nicht um eine Leistungsgewährung. Der Gesetzgeber hat bestimmte Konstellationen anerkannt, in denen der Begünstigte aus Vertrauensschutzgesichtspunkten eine rechtswidrig erlangte Leistung behalten darf (§§ 45, 48 SGB X). Er hat dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er die Einräumung des Vertrauensschutzes bei Sachverhalten, die nicht dem Risiko- und Verantwortungsbereich des Begünstigten zuzurechnen sind, ebenfalls als Gebot der materiellen Gerechtigkeit ansieht, das dem in § 44 Abs 1 SGB X verankerten und bei dessen unmittelbarer Anwendung zu beachtenden allgemeinen Gebot der materiellen Gerechtigkeit, über Sozialleistungen nur dann verfügen zu dürfen, wenn die Anspruchsvoraussetzungen des entsprechenden Leistungsgesetzes erfüllt sind, gleichrangig ist. Es gibt daher keinen überzeugenden Grund, eine Pflicht zur Rücknahme eines unter Verstoß gegen Vertrauensschutzvorschriften ergangenen, bestandskräftig gewordenen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids nach § 44 SGB X nur dann anzunehmen, wenn auch ein Anspruch auf die Sozialleistung bestanden hat. Die Vertrauensschutzvorschriften sind ein eigenständiger, materieller Rechtsgrund für das Behaltendürfen einer Leistung (so bereits der 9. Senat des BSG, Urteil vom 8. März 1995 - 9 RV 7/93 - nicht veröffentlicht - zu § 62 Abs 3 BVG). Auch der 4. Senat geht in einer zu § 44 Abs 2 SGB X ergangenen Entscheidung (BSG SozR 1300 § 44 Nr 22) von einer Pflicht zur umfassenden Prüfung der Rücknahmevoraussetzungen aus. Der Rücknahmebescheid ist dort wegen fehlender Ermessensausübung als rechtswidrig angesehen und die Behörde zur Neubescheidung im Rahmen des § 44 Abs 2 SGB X verpflichtet worden.
Der hier vertretenen Auslegung des § 44 SGB X steht auch die sonstige Rechtsprechung des BSG nicht entgegen. Den zu § 44 SGB X ergangenen Entscheidungen ist kein allgemeiner Rechtssatz zu entnehmen, daß diese Vorschrift unabhängig von ihrer unmittelbaren oder entsprechenden Anwendung stets nur in jenen Fällen eine Korrektur rechtswidriger Verwaltungsakte ermöglicht, in denen die Behörde den Betroffenen die Sozialleistung nach den materiellen Vorschriften des Leistungsgesetzes zu gewähren hätte, die Berücksichtigung sonstiger Aspekte der materiellen Rechtslage, wie zB Verstöße gegen Vertrauensschutzvorschriften, aber ausgeschlossen ist. Das Urteil des 7. Senats vom 22. März 1989 - 7 RAr 122/87 - (BSG SozR 1300 § 44 Nr 38) ist nicht einschlägig. Dort war ein Anspruch auf nachträgliche Zuerkennung einer günstigeren Leistungsgruppe für die Berechnung der Arbeitslosenhilfe (Alhi) im Wege des § 44 SGB X mit der Begründung verneint worden, daß die von der Behörde zugrunde gelegte Leistungsgruppe zwar unrichtig gewesen sei, der Kläger aber wegen fehlender Bedürftigkeit von vornherein keinen Anspruch auf Alhi gehabt habe. Das Urteil des 10. Senats vom 10. Dezember 1985 - 10 RKg 14/85 - (BSG SozR 5870 § 2 Nr 44) steht der hier vertretenen Auffassung ebenfalls nicht entgegen. In jenem Fall war Kg für ein im Ausland vermißtes Kind bindend entzogen worden. Der Antrag auf Überprüfung und Neubewilligung des Kg nach § 44 SGB X war erfolglos geblieben, weil das BSG zwar die Begründung des Aufhebungsbescheides als fehlerhaft angesehen, im Ergebnis aber aus anderen Gründen einen Anspruch auf Kg verneint hat. Zur Frage der Berücksichtigung von Verstößen gegen Vertrauensschutzvorschriften (§§ 45, 48 SGB X) im Rahmen von Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X äußern sich diese Entscheidungen nicht.
Aufgrund der Maßgeblichkeit der jeweiligen materiellen Rechtslage müssen Verstöße gegen nicht dem materiellen Recht zuzurechnende Vorschriften (zB reine Formverstöße sowie die Verletzung der Anhörungspflicht) im Rahmen des § 44 SGB X außer Betracht bleiben. Es ist daher unerheblich, daß die Beklagte vor Erlaß des Bescheides vom 31. März 1993 den Kläger nicht angehört hat (§§ 24 und 42 Satz 2 SGB X). Eine unterbliebene Anhörung stellt kein Unrecht iS des § 44 SGB X dar (BSG SozR 5870 § 2 Nr 44; Schnapp in Gemeinschaftskomm SGB X 1 § 44 RdNrn 16, 17; derselbe in SGb 1988, 309 ff). Ob der Bescheid vom 31. März 1993 aus materiellen Gründen rechtswidrig ist, kann nach den bisher getroffenen Feststellungen nicht entschieden werden. Das LSG hat - aus seiner Sicht zu Recht - nicht ermittelt, ob der Kläger der Beklagten den Arbeitsplatzwechsel vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht mitgeteilt hat (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 bzw § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X) und ob er die (teilweise) Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung ab August 1989 gekannt oder grob fahrlässig verkannt hat (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 bzw § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X). Die diesbezüglichen Feststellungen des SG hat es sich im Berufungsurteil nicht zu eigen gemacht. Auch das Unterlassen einer erforderlichen Ermessensausübung kann von Belang sein (BSG SozR 1300 § 44 Nr 22). In Betracht zu ziehen ist ferner die Rechtswidrigkeit des Bescheides wegen der Überschreitung der Jahresfrist für die Rücknahme (§ 45 Abs 4 Satz 2 SGB X) bzw die Aufhebung (§ 48 Abs 4 Satz 1 SGB X) eines begünstigenden Verwaltungsakts. Das LSG wird zu ermitteln haben, ob der Beklagten die zur Aufhebungs- und Rückforderungsentscheidung für die Zeit ab August 1989 notwendigen Informationen bereits im Laufe des Monats März 1992 vorgelegen haben. Hier kann insbesondere das Schreiben der Ausgleichskasse Basel-Landschaft vom 3. März 1992 von Bedeutung sein, worin mitgeteilt worden war, sie sei der Meinung, es bestehe ein Anspruch des Klägers gegen seine Arbeitgeberin auf Zahlung der Kinderzulage. Der Frage, ob der Kläger nachträglich einen solchen Anspruch auf Kinderzulagen für die Vergangenheit erfolgreich geltend machen kann, brauchte die Beklagte mit Blick auf § 8 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG in der ab 8. Juli 1989 geltenden Fassung für die hier betroffene Zeit ab August 1989 hingegen nicht nachzugehen, da es nur bis zum 7. Juli 1989 auf die tatsächliche Zahlung ausländischer, mit dem Kg vergleichbarer Leistungen ankam (BSG SozR 5870 § 8 Nrn 12, 14).
Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Beklagten vom 31. März 1993 und der die Aufhebung dieses Bescheides für die Zeit vor dem 1. Januar 1992 ablehnende Bescheid vom 12. Juli 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. September 1993 sind somit unter dem Blickwinkel des § 44 SGB X möglicherweise rechtswidrig. Das LSG wird hierüber erneut zu befinden haben. Im Hinblick auf die im Falle des Obsiegens des Klägers erforderliche neue Entscheidung der Beklagten wird zu beachten sein, daß dem Kläger während des Berufungsverfahrens Kinderzulagen in Höhe von umgerechnet 2.320,00 DM nachgezahlt worden sind. Es ist nicht klar, ob diese Nachzahlung nur die Zeit bis Dezember 1991, um die es hier geht, oder auch die ersten drei Monate des Jahres 1992 betrifft, in denen der Kläger bereits kein Kg mehr erhalten hat. Die auf die Zeit bis Dezember 1991 entfallenden Beträge der Kinderzulagen können im Rahmen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X als nachträglich erzieltes Einkommen von der Behörde anspruchsmindernd berücksichtigt werden.
Das LSG wird ebenfalls über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 517711 |
SozSi 1998, 397 |