Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. häusliche Krankenpflege. Medikamentengabe. sozialtherapeutische Wohngruppe. Betreuungsvertrag. Haushalt
Leitsatz (amtlich)
Zum Anspruch auf häusliche Krankenpflege (hier: Medikamentengabe) eines in einer sozialtherapeutischen Wohngruppe lebenden Krankenversicherten.
Normenkette
SGB IV § 37 Abs. 1, 2 S. 1, Abs. 4, § 13 Abs. 1, 3 S. 1; AGBG §§ 1, 5; BSHG § 2 Abs. 2 S. 1, §§ 39-40
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 6. Mai 2002 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 14. September 2000 wird zurückgewiesen.
Kosten sind für alle Instanzen nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der im Jahre 1929 geborene Kläger ist bei der beklagten Krankenkasse krankenversichert. Seit Mitte 1950 leidet er an einer chronischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis und bedarf der ständigen Aufsicht und Betreuung; Pflegebedürftigkeit nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) liegt jedoch nicht vor. Von 1953 bis Anfang 1994 war er ununterbrochen in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht. Seitdem hat er ein Einzelzimmer in einem Wohnheim einer sozialtherapeutischen Wohngruppe, von der Küche, Essraum und sanitäre Anlagen gemeinschaftlich genutzt werden. Träger dieser Einrichtung ist die beigeladene gemeinnützige GmbH, die nach dem mit dem Kläger formularmäßig geschlossenen “Vertrag über die Betreuung in einer therapeutischen Wohngruppe” vom 12. Juli 1995 (Betreuungsvertrag) Beratung, Betreuung, Unterstützung und praktische Hilfe durch Fachpersonal gewährt; ausgeschlossen sind lediglich ärztliche Behandlung, Medikamente sowie Heil- und Hilfsmittel. Der Kläger ist durch den Betreuungsvertrag verpflichtet, an der Erstellung und Umsetzung des Betreuungsplans mitzuwirken, sein Zimmer regelmäßig zu reinigen sowie bei der Reinigung der Gemeinschaftsräume mitzuhelfen. Die Miete einschließlich Mietnebenkosten wird vom Kläger – er bezieht Renten- und Versorgungsleistungen – getragen. Die Kosten der Betreuung werden der Beigeladenen vom Sozialhilfeträger im Wege der teilstationären Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) kostendeckend vergütet (sog Betreuungsentgelt).
Ab dem 1. Oktober 1996 verordnete der behandelnde (Vertrags-)Nervenarzt dem Kläger zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung fortlaufend häusliche Krankenpflege in Form täglicher Verabreichung von Psychopharmaka gegen Wahrnehmungs- und Denkstörungen. Die Medikamente wurden durch eine von der Beigeladenen beschäftigte Krankenschwester zusammengestellt und bei gutem Zustand des Klägers diesem selbst, sonst einem Betreuer übergeben; am Wochenende wurde der Kläger durch den Bereitschaftsdienst der Beigeladenen telefonisch oder per Wecker an die Einnahme erinnert. Die Rechtsvorgängerin der Beklagten bezahlte die Leistungen der Beigeladenen bis 30. Juni 1997.
Mit Schreiben vom 3. Juli 1997 beantragte die Beigeladene unter Vorlage einer entsprechenden Verordnung erneut die Bewilligung von häuslicher Krankenpflege für den Kläger für den Zeitraum vom 1. Juli bis 30. September 1997. Nach Einholung einer Stellungnahme des MDK lehnte die Rechtsvorgängerin der Beklagten die weitere Kostenübernahme nunmehr ab, da weder ein eigenständiger Haushalt noch Behandlungspflege, sondern eine sozialpsychiatrische Betreuung im Rahmen eines Dauerzustandes vorliege; aus der vorangegangenen Kostenübernahme könne kein Anspruch auf Weiterleistung abgeleitet werden (Bescheid vom 21. Juli 1997 und Widerspruchsbescheid vom 7. Oktober 1997).
Während des Klageverfahrens hat die Beklagte am 1. Januar 2000 die Gesamtrechtsnachfolge ihrer Rechtsvorgängerin angetreten und zwei weitere ablehnende Bescheide (vom 16. und 24. März 2000) erlassen. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 14. September 2000), da die Unterbringung in einer therapeutischen Wohngemeinschaft die Führung eines eigenen Haushalts ausschließe. Das Landessozialgericht (LSG) hat das erstinstanzliche Urteil abgeändert, die Bescheide der Rechtsvorgängerin der Beklagten aufgehoben und die Beklagte antragsgemäß verurteilt, die Kosten der täglichen Medikamentenverabreichung gemäß der ärztlichen Verordnung für die Zeit vom 1. Juli bis 30. September 1997 zu erstatten (Urteil vom 6. Mai 2002). Das LSG hat einen weiten Haushaltsbegriff angenommen, der auch das Wohnen in sozialtherapeutischen Einrichtungen umfasse. Die Medikamentengabe zähle zur Behandlungspflege iS von § 37 Abs 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V); die zeitliche Einschränkung in § 37 Abs 1 Satz 3 SGB V gelte hier nicht. Der Leistungsausschluss nach § 37 Abs 3 SGB V bei Pflege durch eine im Haushalt lebende Person bestehe schon deshalb nicht, weil das Betreuungspersonal nicht zur Behandlungspflege verpflichtet sei.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung von § 37 Abs 2 SGB V. Bei dem kranken und pflegebedürftigen Kläger liege mangels hinreichender Eigenverantwortlichkeit keine eigene Haushaltsführung vor. Außerdem könne die Verabreichung der Medikamente nicht der Behandlungspflege iS von § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V zugeordnet werden, da sie nicht der Sicherung einer ärztlichen Behandlung, sondern der sozialpsychiatrischen Betreuung im Rahmen eines Dauerzustandes diene. Schließlich zählten Verrichtungen, die ein Versicherter im Allgemeinen selbst ausführe, nicht zur Behandlungs-, sondern zur Grundpflege; für diese enthalte ihre Satzung jedoch keine Leistungsverpflichtung. Hilfsweise rügt die Beklagte die Verletzung von § 37 Abs 1 Satz 3 SGB V, dessen Leistungsbegrenzung auf vier Wochen bei § 37 Abs 2 SGB V entsprechend anwendbar sei.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 6. Mai 2002 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 14. September 2000 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Kostenerstattung oder Freistellung von den Kosten hinsichtlich der in der Zeit vom 1. Juli bis 30. September 1997 von der Beigeladenen erhaltenen häuslichen Krankenpflege.
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Der beim LSG mit der Formulierung “die Kosten der täglichen Medikamentenverabreichung für die Zeit vom 1. Juli 1997 bis zum 30. September 1997 gemäß der Verordnung des Nervenarztes D.…, N.…, zu übernehmen” gestellte Antrag des Klägers ist als Antrag auf Kostenerstattung oder auf Freistellung von übernommenen Zahlungsverpflichtungen zu verstehen; der Freistellungsanspruch wird von der auf Kostenerstattung zugeschnittenen Regelung des § 13 Abs 3 SGB V (idF des Gesundheitsstrukturgesetzes vom 21. Dezember 1992, BGBl I 2266) mit umfasst (vgl BSGE 85, 287, 289 = SozR 3-2500 § 33 Nr 37 stRspr). Ein Sachleistungsanspruch des Klägers hätte sich ohnehin schon durch Zeitablauf erledigt.
Die Vorinstanzen haben zu Recht nur über den vom Kläger auf drei Monate begrenzten Anspruch entschieden. Zwar werden nach § 96 Abs 1 SGG aus Gründen der Prozessökonomie neue Verwaltungsakte “automatisch” (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl 2002, § 96 RdNr 11) Gegenstand des Gerichtsverfahrens, wenn sie den angegriffenen Verwaltungsakt abändern oder ersetzen. Bei einer wiederholten Bewilligung von häuslicher Krankenpflege für jeweils drei Monate ist das aber nicht der Fall (vgl BSG, Urteil vom 21. November 2002, B 3 KR 13/02 R = SozR 3-2500 § 37 Nr 5). Die Bescheide vom 16. und 24. März 2000 sind daher nicht kraft Gesetzes Gegenstand des Gerichtsverfahrens geworden. Sie sind auch nicht vom Kläger in das Verfahren im Wege der Klageerweiterung einbezogen worden.
Die Klage ist jedoch unbegründet.
Nach § 13 Abs 1 SGB V (in der bis zur Änderung durch das Gesetz vom 19. Juni 2001, BGBl I 1046 geltenden Fassung) darf die Krankenkasse – an Stelle der regelmäßig gebotenen Sach- oder Dienstleistung – Kosten der Versicherten nur erstatten, soweit dies im SGB V vorgesehen ist. Nach § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V hat die Krankenkasse, soweit sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten dadurch für eine selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Das LSG hat die Voraussetzungen dieser Vorschrift lediglich pauschal, dh ohne tatsächliche Feststellungen und rechtliche Subsumtionen, bejaht. Es ist unklar, ob der Kläger die Kosten der Medikamentengabe bezahlt hat, ob sie ihm in Rechnung gestellt, aber bis zum Abschluss dieses Verfahrens gestundet worden sind, oder ob die Beigeladene gegenüber dem Kläger irgendwann einmal zum Ausdruck gebracht hat, dass sie Bezahlung von ihm verlange, falls die Beklagte nicht eintrete.
Gleichwohl kann von einer Zurückverweisung der Sache an das LSG zur Nachholung der Feststellungen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) abgesehen werden. Denn hätte der Kläger Kosten bezahlt oder sich dazu verpflichtet, wäre dies nicht erforderlich gewesen, weil die Beigeladene zur Medikamentengabe bereits nach dem Betreuungsvertrag verpflichtet war (dazu unten) und diese Leistung mit dem erhaltenen Betreuungsentgelt bezahlt ist. Der Kläger hätte dann möglicherweise einen Bereicherungsanspruch gegen die Beigeladene, nicht aber einen Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte. Da dem Kläger entweder nur vermeidbare Kosten bzw Verpflichtungen oder überhaupt keine Verpflichtungen gegenüber der Beigeladenen entstanden sind, ist es unerheblich, dass es die Beklagte mit unzutreffender Begründung abgelehnt hat, dem Kläger häusliche Krankenpflege nach § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V durch Gestellung einer Pflegekraft zu gewähren (vgl zur Verpflichtung der Krankenkasse bei Behandlungspflege außerhalb des Haushalts BSG SozR 3-2500 § 37 Nr 5 und zur Medikamentengabe als sog einfache Behandlungspflege vgl BSGE 86, 101 = SozR 3-2500 § 37 Nr 2). Nach § 37 Abs 4 SGB V kann die Krankenkasse allerdings unter bestimmten Umständen auch davon absehen, im Wege der Sachleistung eine Pflegekraft zu stellen; sie muss dann dem Versicherten die Kosten für eine selbstbeschaffte Pflegekraft in angemessener Höhe erstatten. Dieser Kostenerstattungsanspruch setzt aber ebenfalls voraus, dass zwangsläufig Kosten für eine selbstbeschaffte Kraft angefallen sind.
Soweit der Sozialhilfeträger im Wege der Eingliederungshilfe nach den §§ 39, 40 BSHG (idF vom 23. März 1994 – BGBl I 646) eingetreten ist und mit dem Betreuungsentgelt auch die Leistung der Medikamentengabe bezahlt haben sollte, wäre wegen der Nachrangigkeit der Leistungen der Sozialhilfe nach § 2 Abs 2 Satz 1 BSHG zwar ein Erstattungsanspruch gemäß § 104 SGB X gegen die Beklagte dem Grunde nach denkbar; der Leistungsanspruch des Klägers gälte aber gemäß § 107 Abs 1 SGB X insoweit als erfüllt.
Nach dem Inhalt des zwischen ihr und dem Kläger geschlossenen Betreuungsvertrag war die Beigeladene verpflichtet, die Medikamentengabe ohne zusätzliche Vergütung durchzuführen. Der Auslegung des Betreuungsvertrages durch das LSG, dass diese Verpflichtung nicht bestanden habe, tritt der Senat nicht bei. Sie beruht auf einer Verletzung von bundesrechtlichen Auslegungsregeln, die vom Revisionsgericht als Verletzung materiellen Rechts auch ohne besondere Rüge festgestellt werden kann, jedenfalls wenn es sich um “typische” Erklärungen handelt (BSGE 63, 167, 171 = SozR 5870 § 10 Nr 9 mwN auch der zivilrechtlichen Rechtsprechung und Literatur).
Nach § 2 des zivilrechtlichen Betreuungsvertrages werden dem Bewohner eines Heimes durch Fachpersonal “Beratung, Betreuung, Unterstützung und praktische Hilfen“ gewährt. Nach § 4 des Betreuungsvertrages kann der Bewohner im Krankheitsfall in der Wohngruppe bleiben, solange und soweit die Möglichkeiten der Wohngruppe für die Betreuung der Krankheit ausreichen. Für die dem Kläger gewährte Krankenpflege in Form der Medikamentengabe reichten nach den Feststellungen des LSG die Möglichkeiten der Wohngruppe aus, da in der Woche eine von der Beigeladenen angestellte Krankenschwester im Hause war und am Wochenende das Erinnern durch Bereitschaftsdienst und/oder Wecker genügte. Ausdrücklich sind nach § 6 Nr 3 des Betreuungsvertrages im Betreuungsentgelt nicht die Kosten einer ärztlichen Behandlung sowie Kosten für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel enthalten. In der Ausschlussregelung sind also vier Leistungsformen des SGB V genannt, nicht jedoch die häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V. Der Betreuungsvertrag ist deshalb so auszulegen, dass die in der Ausschlussregelung nicht aufgeführte häusliche Krankenpflege, jedenfalls in Form der – durch die Wohngruppe zu bewältigenden – Medikamentengabe, nicht vom Leistungsspektrum der Beigeladenen ausgenommen sein sollte. Der von der Beigeladenen vorformulierte und vielfach verwandte Vertragstext unterwirft die Anwendung des Vertrags in dem hier streitigen Zeitraum noch dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen ≪AGB≫ (§ 1 AGBG; vgl für die Zeit ab 1. Januar 2002 §§ 305 ff BGB idF des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes vom 26. November 2001 – BGBl I 3138 –). Danach gehen Zweifel bei der Auslegung einer Bedingung zu Lasten des Bedingungenverwenders (§ 5 AGBG). In AGB verwendete Rechtsbegriffe sind in der Regel entsprechend ihrer juristischen Fachbedeutung zu verstehen (Palandt-Heinrichs, BGB, 61. Aufl, § 5 AGBG RdNr 7). Deshalb kann die nichtärztliche Krankenpflege in Form der Medikamentengabe nicht unter die vertraglich ausgenommenen, im SGB V definierten Leistungen subsumiert werden. Eine ergänzende Vertragsauslegung käme allenfalls dann in Betracht, wenn eine offensichtliche Regelungslücke vorläge, die nur in einem bestimmten Sinne ausgefüllt werden könnte (vgl Palandt-Heinrichs aaO RdNr 11). Eine Regelungslücke liegt nach dem Vertragstext nicht vor, weil die Betreuung bei Krankheit in der Wohngruppe erwähnt wird und darunter auch Hilfe bei der Medikamentenversorgung verstanden werden kann; jedenfalls wäre eine Vertragslücke damit nicht klar erkennbar. Der Kläger hätte demnach aus dem Betreuungsvertrag einen Anspruch gehabt, die häusliche Krankenpflege in Form der Medikamentengabe zu erhalten, ohne sie zusätzlich in Rechnung gestellt zu bekommen. Dann kann er einen Anspruch auf Kostenerstattung oder Freistellung nicht mit Erfolg gegen die Beklagte geltend machen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 Satz 1 SGG. Auch der Beigeladenen waren keine Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten (§ 193 Abs 4 iVm § 184 Abs 1 SGG).
Fundstellen
FEVS 2004, 1 |
SozR 4-2500 § 37, Nr. 2 |
PflR 2004, 225 |
R&P 2004, 219 |