Entscheidungsstichwort (Thema)

Ehrenamtliche Richter. Bediensteter der Versorgungsverwaltung in Spruchkörpern für KOV

 

Orientierungssatz

1. Aktive Bedienstete der Versorgungsverwaltung können nicht ehrenamtliche Beisitzer in den Spruchkörpern für Angelegenheiten der KOV sein. Eine solche Mitwirkung widerspricht den Grundsätzen des Rechtsstaates, weil derjenige, der in einem bestimmten Sachgebiet über einen längeren Zeitraum hinweg zugleich rechtsprechende und verwaltende Tätigkeit ausübt, nicht über die Unabhängigkeit und Unbeteiligtheit verfügt, die das Grundgesetz in den Artikeln 20, 92 und 97 Abs 1 für Gerichte und Richter fordert (vgl BSG 1960-06-30 GS 4/60 = BSGE 12, 237).

2. § 17 Abs 3 SGG bestimmt, daß die Bediensteten der Träger und Verbände der Sozialversicherung, der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Dienststellen der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung nicht ehrenamtliche Beisitzer in den Spruchkörpern sein können, in denen über Streitigkeiten aus ihrem Arbeitsgebiet entschieden wird. Was in dieser Vorschrift für die Bediensteten der Versicherungsträger usw bestimmt ist, muß auch für die Bediensteten der Versorgungsverwaltung gelten.

 

Normenkette

SGG § 17 Abs. 3; GG Art. 20, 92, 97 Abs. 1

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 09.06.1960)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. Juni 1960 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hessische Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Gründe

Mit Urteil des Hessischen Landessozialgerichts (LSG) vom 9. Juni 1960, an dem u. a. Landessozialrichter P als ehrenamtlicher Beisitzer mitwirkte, wurde die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) Frankfurt/Main vom 15. März 1957 zurückgewiesen. Die Revision wurde nicht zugelassen. Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung der §§ 1, 12, 17, 33, 35 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), der Artikel 20, 92, 97 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) sowie des § 551 Nr. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) i. V. mit § 202 SGG. Der erkennende Senat des Hessischen LSG sei in der Sitzung vom 9. Juni 1960 nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, weil der an dieser Entscheidung beteiligte Landessozialrichter P (P.) beim Landesversorgungsamt Hessen als Regierungsoberinspektor tätig sei. Nach der Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) könnten aktive Bedienstete der Versorgungsverwaltung nicht ehrenamtliche Beisitzer in den Spruchkörpern für Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung (KOV) sein.

Der Kläger hat beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte hat von einer Erwiderung auf die Revision abgesehen und keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Senat hat von der Möglichkeit, in dieser Weise zu verfahren (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 SGG), Gebrauch gemacht.

Die Revision ist form- und fristgemäß eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und auch statthaft, weil der Kläger einen wesentlichen Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts gerügt hat und dieser Mangel vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Der Beklagte hat mit Schreiben vom 7. und 14. Juni 1962 bestätigt, daß Landessozialrichter P., der als ehrenamtlicher Beisitzer bei Erlaß des angefochtenen Urteils mitgewirkt hat, aktiver Bediensteter der Versorgungsverwaltung ist bzw. am 9. Juni 1960 gewesen ist, ferner daß P. damals die Bearbeitung von Revisionsangelegenheiten oblag und er außerdem seit 1954 das Land Hessen in Berufungssachen vertrat. Hieraus hat der erkennende Senat entnommen, daß P. in einem Arbeitsgebiet tätig war, das versorgungsrechtliche Streitigkeiten betraf. Wie der Große Senat des BSG am 30. Juni 1960 entschieden hat (BSG 12, 237), können aktive Bedienstete der Versorgungsverwaltung nicht ehrenamtliche Beisitzer in den Spruchkörpern für Angelegenheiten der KOV sein. Eine solche Mitwirkung widerspricht den Grundsätzen des Rechtsstaates, weil derjenige, der in einem bestimmten Sachgebiet über einen längeren Zeitraum hinweg zugleich rechtsprechende und verwaltende Tätigkeit ausübt, nicht über die Unabhängigkeit und Unbeteiligtheit verfügt, die das Grundgesetz in den Artikeln 20, 92 und 97 Abs. 1 für Gerichte und Richter fordert. Deshalb bestimmt § 17 Abs. 3 SGG, daß die Bediensteten der Träger und Verbände der Sozialversicherung, der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Dienststellen der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung nicht ehrenamtliche Beisitzer in den Spruchkörpern sein können, in denen über Streitigkeiten aus ihrem Arbeitsgebiet entschieden wird. Was in dieser Vorschrift für die Bediensteten der Versicherungsträger usw. bestimmt ist, muß - auch wenn es im SGG nicht ausdrücklich gesagt ist - auch für die Bediensteten der Versorgungsverwaltung gelten. Es besteht die Besorgnis, daß der den Weisungen der Versorgungsverwaltung unterworfene Bedienstete, der gleichzeitig Richter in einem Spruchkörper für Angelegenheiten der KOV ist, sich innerlich nicht vollkommen von der ihm geläufigen und gewohnten Bindung an die Verwaltungsvorschriften, die nicht Gesetz sind, lösen kann. Die gleichen Gründe, düe für die Regelung in § 17 Abs. 3 SGG maßgebend gewesen sind, müssen daher auch zum Ausschluß der Bediensteten der Versorgungsverwaltung in den Spruchkörpern ihres Arbeitsgebiets führen.

Somit durfte Landessozialrichter P. bei der Entscheidung über die Versorgungsstreitsache des Klägers nicht mitwirken. Die Revision ist wegen dieses Verfahrensmangels statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG); sie ist auch begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der unvorschriftsmäßigen Besetzung des LSG und damit auf der Verletzung der §§ 12 Abs. 4, 22 SGG i. V. mit Art. 20, 92 und 97 Abs. 1 GG; denn es ist möglich, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn es vorschriftsmäßig besetzt gewesen wäre. Das Urteil des LSG war daher mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben. Der Senat konnte in der Sache selbst nicht entscheiden, da die Feststellungen des LSG nicht in verfahrensrechtlich einwandfreier Weise zustandegekommen und deshalb für das BSG nicht bindend sind (§ 163 SGG). Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324826

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