Entscheidungsstichwort (Thema)

sächsischer Gemeinden

 

Leitsatz (amtlich)

1. Nach AVG § 96 ruht die Rente auch bei einem unfreiwilligen Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs des Gesetzes.

2. Die AVG §§ 98 Abs 1 und 99 ergreifen nur Fälle, in denen ein Berechtigter seinen Aufenthalt aus dem Geltungsbereich des Gesetzes vorübergehend in Gebiete außerhalb davon verlegt.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die freiwilligen Beiträge an den Landespensionsverband sächsischer Gemeinden stehen Beiträge an einen Träger der reichsgesetzlichen Rentenversicherung nicht gleich.

 

Orientierungssatz

1. Nach RVO § 1317 ruht die Rente auch bei einem unfreiwilligen Aufenthalt in der SBZ.

2. Zum Territorialprinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung.

 

Normenkette

AVG § 96 Fassung: 1960-02-25, § 98 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25, § 99 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1317 Fassung: 1960-02-25, § 1319 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25, § 1320 Fassung: 1960-02-25

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. Januar 1965 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin Waisenrente für die Zeit ihres Aufenthalts in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) zahlen muß.

Die Klägerin ist als Deutsche 1951 in der SBZ geboren. Als ihre Eltern 1956 in die Bundesrepublik übersiedelten, blieb sie bei Verwandten in der SBZ zurück. Die Eltern wollten, sobald ihre Verhältnisse es erlaubten, die Klägerin nachkommen lassen. Als das im Frühsommer 1961 geschehen sollte, bekam die Klägerin keine Ausreisegenehmigung.

Im Oktober 1961 verstarb der Vater der Klägerin. Er war etwa 4 1/2 Jahre in der Bundesrepublik und den weitaus größten Teil seines Lebens im Gebiet der SBZ sozialversichert. Mit Bescheid vom 21. Juni 1962 entschied die Beklagte, daß die Klägerin die Waisenrente aus der Rentenversicherung ihres Vaters erst nach Zuzug in die Bundesrepublik beanspruchen könne. Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) war der Ansicht, daß der Anspruch auf Waisenrente zwar bestehe, aber nach § 96 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ruhe, weil die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der SBZ habe; ihr Aufenthalt sei kein vorübergehender i. S. der §§ 98 Abs. 1, 99 Satz 1 AVG; er dürfe von der Beklagten auch nicht ausnahmsweise - nach § 99 Satz 2 AVG - als solcher behandelt werden, weil sich sein Ende nicht absehen lasse; § 96 gelte selbst bei einem unfreiwilligen Aufenthalt und verstoße nicht gegen das Grundgesetz (GG).

Die Klägerin legte die vom LSG zugelassene Revision ein. Während des Revisionsverfahrens erhielt sie im Dezember 1965 nach langen Bemühungen die Ausreisegenehmigung und traf im gleichen Monat in der Bundesrepublik ein. Seitdem zahlt die Beklagte die Waisenrente.

Mit der Revision beantragte die Klägerin in erster Linie,

die Beklagte zur Zahlung der Waisenrente von Oktober 1961 bis Dezember 1965 zu verurteilen und die ergangenen Entscheidungen entsprechend zu ändern,

hilfsweise begehrte sie, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über die Verfassungsmäßigkeit des § 96 AVG einzuholen,

weiter hilfsweise beantragte sie die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.

Sachlich-rechtlich rügte die Klägerin eine Verletzung der §§ 96, 98 Abs. 1, 99 AVG und der Art. 3, 6 und 20 GG. Sie machte besonders geltend, daß sie in der SBZ rechtswidrig zurückgehalten worden sei. § 96 AVG lasse sich bei sinngemäßer, restriktiver und verfassungskonformer Auslegung hier nicht anwenden. "Sozialrechtlich" gesehen habe sie im streitigen Zeitraum ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik gehabt, zumindest müsse ihr Aufenthalt in der SBZ als vorübergehender Aufenthalt aufgefaßt oder behandelt werden. In der SBZ habe sie keine Waisenrente bezogen; sollte das nicht als festgestellt gelten, rüge sie vorsorglich eine Verletzung der §§ 103, 106, 128, 136 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Es sei nicht rechtmäßig, die Rente deutscher Waisen bei unfreiwilligem Aufenthalt in der SBZ ruhen zu lassen, die Rente ausländischer Waisen dagegen nicht (§ 94 Abs. 1 Nr. 1 AVG). Der auf sie ausgeübte rechtswidrige Zwang dürfe zu keinem Rechtsverlust für sie führen.

Die Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).

II

Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG), aber unbegründet. Der Klägerin ist für die Zeit von Oktober 1961 bis Dezember 1965 keine Waisenrente zu zahlen. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Anspruch der Klägerin auf Waisenrente während dieser Zeit nach § 96 AVG ruhte, weil sie sich in der SBZ aufhielt.

Nach § 96 AVG ruht die Rente eines Deutschen, solange er sich außerhalb des Geltungsbereichs des AVG (Bundesrepublik mit West-Berlin) aufhält, soweit sich aus den nachfolgenden Vorschriften nichts anderes ergibt. Hiervon kommt allenfalls § 98 Abs. 1 AVG in Betracht; danach wird für Zeiten des vorübergehenden Aufenthalts außerhalb des Geltungsbereichs des AVG die volle Rente gezahlt. Als vorübergehender Aufenthalt gilt nach § 99 Satz 1 AVG ein Aufenthalt bis zur Dauer eines Jahres. In begründeten Fällen kann der Versicherungsträger nach § 99 Satz 2 AVG Ausnahmen zulassen. In den genannten Vorschriften bedeutet "Aufenthalt" stets ein tatsächliches Verweilen, es ist daher nicht möglich, den Aufenthalt der Klägerin "sozialrechtlich" anders - etwa nach dem letzten Versicherungsverhältnis ihres Vaters - zu bestimmen.

§ 98 Abs. 1 AVG - und damit auch § 99 Satz 1 und 2 - ist auf die Klägerin schon deshalb nicht anwendbar, weil die Vorschrift nach ihrem Sinn und Zweck nur Fälle ergreift, in denen ein Berechtigter seinen Aufenthalt aus dem Geltungsbereich des AVG vorübergehend in Gebiete außerhalb davon verlegt. § 98 Abs. 1 AVG normiert eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß die Rentenversicherung regelmäßig nur im gesetzlichen Geltungsbereich leistet (vgl. dazu das Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 3. Februar 1966, SozR Nr. 2 zu § 1315 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), weshalb die Gewährung von Leistungen grundsätzlich - vgl. die §§ 94, 96 AVG - den Aufenthalt des Berechtigten im Geltungsbereich voraussetzt (Territorialprinzip). Der Umstand, daß sich ein Berechtigter vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs aufhält, vermag für sich allein noch keine Ausnahme von diesem Grundsatz zu rechtfertigen. Der vorübergehende Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs rechtfertigt die Ausnahme vielmehr nur dann, wenn der Berechtigte vor diesem Aufenthalt seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des AVG gehabt, wenn er also das Bundesgebiet lediglich vorübergehend (i. S. des § 99 AVG) verlassen hat. Dementsprechend war auch in § 1 Abs. 4 Satz 2 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes - FAG -, dem Vorgänger des § 99 AVG, noch von der späteren "Rückkehr" in das Bundesgebiet (oder in das Land Berlin) die Rede. Nach den Feststellungen des LSG hat die Klägerin aber vor Oktober 1961 niemals ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik gehabt; sie hat sich hier nur im Jahre 1956 zweimal zu Besuch aufgehalten und ist sonst stets (bis Dezember 1965) in der SBZ gewesen.

Daß die Klägerin in der SBZ keine Waisenrente bezog (sie hatte auch keinen Antrag gestellt), hindert die Anwendung des § 96 AVG nicht (vgl. auch Urteil des BSG vom 17. November 1964, SozR Nr. 1 zu § 83 des Reichsknappschaftsgesetzes - RKG -). Entgegen der Meinung der Klägerin soll diese Vorschrift keine "lückenlose Versorgung" inner- oder außerhalb des Geltungsbereichs des AVG sicherstellen, für § 96 ist es im Gegenteil unerheblich, ob ein fremder Versicherungsträger Leistungen gewährt. Wenn früher die Anwendung des "Wohnsitzgrundsatzes" gegenüber der SBZ (vgl. BSG 17, 144, 145) ua damit gerechtfertigt wurde, daß "eine lückenlose Versorgung der aus der Zeit vor dem Zusammenbruch Entschädigungsberechtigten sicherzustellen" sei, so bezogen sich diese Ausführungen auf Ansprüche, die entstanden waren, bevor Deutschland in verschiedene Sozialversicherungssysteme gespalten wurde; mit ihnen ist keine Zahlungspflicht von Versicherungsträgern der Bundesrepublik an in der SBZ wohnende Berechtigte begründet worden.

Auch die Unfreiwilligkeit des Aufenthalts in der SBZ führt zu keiner anderen Beurteilung. § 96 AVG ist selbst dann anzuwenden, wenn sich der Berechtigte unfreiwillig außerhalb des Geltungsbereichs des AVG aufhält. Das gilt auch bei einem unfreiwilligen Aufenthalt in der SBZ. Gerade gegenüber der SBZ war immer streng nach dem "Wohnsitzgrundsatz" verfahren (vgl. BSG 22, 263, 264) und auch bei unfreiwilligem Aufenthalt in der SBZ (wie zB bei Inhaftierung, vgl. BSG 17, 144) keine Ausnahme gemacht worden. Die strenge Anwendung dieses Prinzips war die Folge der sozialversicherungsrechtlichen Spaltung Deutschlands. Die Spaltung zwang dazu, die Berechtigten einem System zuzuordnen. Dabei diente der Wohnsitz - womit der gewöhnliche Aufenthaltsort gemeint war - als Abgrenzungsmerkmal. Nach ihm bestimmte sich, welches Sozialversicherungssystem den Berechtigten - "schicksalhaft" (BSG 3, 286, 291) - erfaßte. Hieran hat das Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz (FANG) durch die Einfügung des jetzigen § 96 in das AVG (mit Wirkung von 1959 an) im Ergebnis nichts ändern wollen (BSG 22, 264), das FANG hat heute das Territorialprinzip gegenüber der SBZ im Gegenteil eher noch stärker betont (vgl. die nur bei Auslandsaufenthalt, also nicht bei Aufenthalt in der SBZ, geltenden Ausnahmen der §§ 97 ff). Der Aufenthalt des Berechtigten im gesetzlichen Geltungsbereich ist jetzt lediglich keine Anspruchsvoraussetzung mehr, die Abgrenzung der Verpflichtungen erfolgt heute vielmehr über die Ruhensvorschriften, jedoch weiterhin nach dem Aufenthaltsort. Sie wäre weitgehend in Frage gestellt, wenn der Anspruch nur bei freiwilligem Aufenthalt in der SBZ ruhen würde.

Ob die Renten von Ausländern - wie es nach dem Wortlaut der für diese einschlägigen Ruhensvorschrift des § 94 Abs. 1 Nr. 1 AVG ("freiwillig gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereichs") scheinen könnte - bei einem unfreiwilligen Aufenthalt in der SBZ nicht ruht (vgl. dazu Merkle-Michel, Komm. zum FANG Bd. 2, Stand vom Oktober 1962, S. 471 f, 488, 493 und Urteil des 1. Senats vom 27. Mai 1964, SozR Nr. 2 zu § 1318 RVO), braucht der Senat nicht zu entscheiden. Selbst wenn dem so wäre, könnte die Klägerin nicht unter Berufung auf den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) Folgen für sich daraus herleiten. Der Gesetzgeber hätte dann zugunsten einer verhältnismäßig kleinen Gruppe das allgemeingültige (auch Ausländern gegenüber geltende) Territorialprinzip durchbrochen und diese Gruppe damit begünstigt. Die Frage wäre dann, ob sich dafür sachliche Gründe anführen ließen, wie sie jedenfalls umgekehrt für das Ruhen der Renten von Deutschen selbst beim unfreiwilligen Aufenthalt in der SBZ bestehen. Diese Frage kann offen bleiben. In keinem Falle könnte nämlich die Gleichbehandlung Deutscher mit Nichtdeutschen dadurch erzielt werden, daß § 96 AVG so angewandt würde, wie wenn es darin hieße "und solange er sich freiwillig außerhalb ... aufhält". Das Wort "freiwillig" kann nicht in die Vorschrift "hineininterpretiert" werden. Das wäre auch nicht über eine Anrufung des BVerfG nach Art. 100 GG möglich. Die Gerichte würden damit in die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers eingreifen. Wenn der Gesetzgeber eine bestimmte Gruppe ohne sachlich einleuchtende Gründe begünstigt, dürfen die Gerichte die Begünstigung auf andere vergleichbare Gruppen nur erstrecken, sofern der Gesetzgeber bei Beachtung des Gleichheitssatzes das mit Sicherheit ebenfalls getan hätte (BVerfG 18, 288, 302; BSG 20, 28, 34). Es ist aber keineswegs sicher, ob der Gesetzgeber die - hier unterstellte - Begünstigung von Ausländern beim unfreiwilligen Aufenthalt in der SBZ dann überhaupt aufrechterhalten hätte.

Ebensowenig kann die Klägerin auf Grund anderer Vorschriften des Grundgesetzes (Art. 6, 11, 20) die Nichtanwendung des § 96 AVG verlangen. Ihre rechtswidrige Zurückhaltung in der SBZ war zwar ursächlich für das Ruhen der Waisenrente; für das ihr zugefügte Unrecht ist aber weder die Beklagte noch die Bundesrepublik als Ganzes verantwortlich; das Grundgesetz bestimmt nicht allgemein, daß die Bundesrepublik Verletzungen von Freiheitsrechten, die in der SBZ geschehen sind, wiedergutzumachen oder auszugleichen hat (BGH, NJW 1966, 726, 729). Die Beklagte muß deshalb auch nicht aus diesem Grunde die Anwendung des § 96 AVG unterlassen. Dies gilt selbst insoweit, als die Rente auf in der Bundesrepublik zurückgelegte Versicherungszeiten entfällt. Insoweit läßt § 97 AVG eine Ausnahme nur zu, wenn sich der Berechtigte im Ausland aufhält. Deutsche, die sich gewöhnlich in der SBZ aufhalten, erhalten demnach von Versicherungsträgern der Bundesrepublik keine Leistungen aus den hier zurückgelegten Versicherungszeiten. Das wäre dann bedenklich, wenn auch die Versicherungsträger der SBZ diese Zeiten bei der Rentenfeststellung unberücksichtigt ließen. Soweit bekannt, rechnen sie jedoch die in der Bundesrepublik zurückgelegten Zeiten mit an (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung Bd. I S. 294).

Das LSG hat hiernach zu Recht angenommen, daß die Waisenrente der Klägerin nach § 96 AVG ruhte. Diese Vorschrift ist weder sinngemäß noch einschränkend noch verfassungskonform dahin auszulegen, daß das Ruhen bei unfreiwilligem Aufenthalt in der SBZ unterbleibt; § 96 verstößt nicht gegen das Grundgesetz, soweit danach die Rente von Deutschen auch bei einem unfreiwilligen Aufenthalt in der SBZ ruht. Hauptantrag und erster Hilfsantrag der Klägerin sind deshalb unbegründet. Der zweite Hilfsantrag ist gegenstandslos, er betrifft wie die Verfahrensrügen nur den Fall, daß der Senat den Nichtbezug einer Waisenrente in der SBZ nicht für festgestellt hielte; darauf kommt es aber nach der Auffassung des Senats nicht an.

Nach alledem ist die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2259953

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