Orientierungssatz

Bedeutung eines verschlossenen Arbeitsmarktes für Vollzeittätigkeit - Erwerbsunfähigkeit - Berufsunfähigkeit - betriebsübliche Bedingungen - Verlust des rechten Armes in Oberarmmitte

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 16.06.1978; Aktenzeichen L 6 J 488/77)

SG Marburg (Entscheidung vom 06.04.1977; Aktenzeichen S 4 J 42/75)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 16. März 1978 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hessische Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Umstritten ist, ob der Kläger Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat.

Der 1926 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Er war bis 1950 in einer Tabakfabrik und anschließend als Bauhilfsarbeiter beschäftigt. 1961 verlor er infolge eines Arbeitsunfalls den rechten Arm in Oberarmmitte. Von 1962 bis 1973 war er als Bauhelfer und Bürobote beschäftigt. Er bezieht eine Unfallrente (721,40 DM nach dem 18. Rentenanpassungsgesetz - RAG -). Der Kläger kann noch leichte Arbeiten, die mit dem linken Arm ausgeführt werden können, vorwiegend in Bewegung, zeitweilig auch im Stehen oder Sitzen, vollschichtig verrichten; an die Intelligenz dürfen nur geringe Anforderungen gestellt werden.

Der Kläger hat im Oktober 1974 Versichertenrente beantragt. Die Beklagte hat die Gewährung der Rente abgelehnt (Bescheid vom 28. Januar 1975). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 6. April 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Juni 1977 verpflichtet; im übrigen wurde die Berufung des Klägers zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 16. März 1978). Es hat sinngemäß ausgeführt, es stimme hinsichtlich der Erheblichkeit des Vorhandenseins von Arbeitsplätzen mit der neuen Rechtsprechung des Bundessozialgericht (BSG) nicht überein (Urteile vom 21. September 1977 - 4 RJ 131/76 - SozR 2200 § 1246 Nr 22, vom 19. Oktober 1977 - 4 RJ 123/76 -); auch bei § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei eine sich an den Gegebenheiten des Arbeitsmarktes orientierende konkrete Betrachtungsweise geboten. Entscheidend sei, ob ein Versicherter nach seinem Gesundheitszustand und seinen beruflichen Kenntnissen und Fähigkeiten überhaupt noch in der Lage sei, in einer auch längeren absehbaren Zeit einen dem Wettbewerb zugänglichen Arbeitsplatz einzunehmen. Für einen vollschichtig einsatzfähigen Versicherten sei der Arbeitsmarkt nicht offen, wenn der Nachweis eines Arbeitsplatzes wegen der Behinderung des Versicherten auf Dauer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen sei. Der Kläger sei nach der Art seiner Behinderungen unter betriebsüblichen Bedingungen nicht mehr einsatzfähig.

Die Beklagte rügt mit der Revision eine Verletzung des § 1247 RVO. Sie hält die Rechtsprechung des BSG, daß bei vollschichtig Einsatzfähigen grundsätzlich nicht geprüft zu werden brauche, wieviel Arbeitsplätze für solche Tätigkeiten vorhanden seien, für zutreffend. Neben der trotz Einarmigkeit seit 1962 ausgeübten Tätigkeit kämen Tätigkeiten als Betriebsbote, Fahrstuhlführer, Parkplatzwächter, Pförtner, Wachmann, Kalfaktor, Lager- und Betriebshelfer in Betracht. Die Grundsätze der Beschlüsse des Großen Senats vom 10. Dezember 1976 könnten bei vollschichtiger Einsatzfähigkeit nicht angewendet werden.

Sie beantragt,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 16. März 1978 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 6. April 1977 in vollem Umfang zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er weist darauf hin, daß das Berufungsgericht die tatsächliche Feststellung getroffen habe, er sei nach der Art seiner Behinderung unter betriebsüblichen Bedingungen nicht mehr einsatzfähig; diese Feststellung sei von der Beklagten nicht angefochten worden und deshalb für den Senat bindend.

Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache. Die Feststellungen, die das LSG getroffen hat, reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.

Das Berufungsgericht hat den Kläger als erwerbsunfähig (§ 1247 Abs 2 RVO) angesehen, weil für die Tätigkeiten, auf die dieser verwiesen werden könnte, der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei. Insofern hat es das Recht falsch angewendet.

Das Verschlossensein des Arbeitsmarktes ist nach der Rechtsprechung bei denjenigen Versicherten erheblich, die aufgrund ihres Gesundheitszustandes nur noch Teilzeitarbeit verrichten können (BSGE 30, 167, 177; 30, 192, 200; 43, 75, 79). Die Revision beanstandet zu Recht, daß das Berufungsgericht auch bei dem Kläger, der vollschichtig arbeiten kann, aus dem Verschlossensein des Arbeitsmarktes auf die Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit geschlossen hat.

In der Frage, welche Bedeutung eine etwaige Verschlossenheit des Arbeitsmarktes für Vollzeittätigkeiten hat, besteht eine ständige Rechtsprechung des BSG. Danach kommt es bei Vollzeitkräften auf die Offenheit des Arbeitsmarktes nicht an (SozR 2200 § 1246 Nrn 19 und 22). Ausnahmen von dieser Regel wurden auf die Beschlüsse des Großen Senats (GS) des BSG vom 11. Dezember 1969 hin zunächst bei denjenigen Versicherten angenommen, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt verschlossen oder besonders stark erschwert ist, weil sie nur noch qualitäts- oder quantitätsmäßig stark eingeschränkte Leistungen erbringen können, weil sie einen Arbeitsplatz nur unter von den betrieblich üblichen, stark abweichenden Bedingungen ausfüllen können oder weil sie an ekelerregenden oder ansteckenden Krankheiten leiden (BSGE 31, 233, 234 = SozR Nr 86 zu § 1246 RVO), und nur in "ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen" (SozR Nr 108 zu § 1246 RVO); später, nachdem der Beschluß des GS vom 10. Dezember 1976 ergangen war, wurden Ausnahmen dann zugelassen, wenn der Versicherte entweder die Vollzeittätigkeit nicht unter den in Betrieben in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen verrichten kann oder nicht in der Lage ist entsprechende Arbeitsplätze von seiner Wohnung aus aufzusuchen, unter Umständen auch dann, wenn die Tätigkeiten, die der Versicherte noch verrichten kann, nicht von Tarifverträgen erfaßt sind (BSGE 44, 39, 40 = SozR 2200 § 1246 Nr 19). Auch der erkennende Senat hat mehrfach im Sinne des Urteils BSGE 44, 39 entschieden (Urteil vom 14. Juli 1977 - 4 RJ 27/76 -; SozR 2200 § 1246 Nr 22; Urteile vom 19. Oktober 1977 - 4 RJ 123/76 -, 30. November 1977 - 4/5 RJ 20/77 -, 28. Februar 1978 - 4/5 RJ 50/70 - besprochen in DRV 78, 254, und SozR 2200 § 1246 Nr 30).

Das LSG stimmt mit dieser Rechtsprechung nicht überein (vgl dazu auch Wiegand, Der offene Arbeitsmarkt für Ganztagsbeschäftigungen, SozSich 78, 13). Seiner Ansicht nach ist für die Anwendbarkeit des § 1247 RVO eine sich an den Gegebenheiten des Arbeitsmarktes orientierende konkrete Betrachtungsweise geboten, weshalb in nicht unerheblichem Ausmaß Arbeitsplätze unter betriebsüblichen Bedingungen vorhanden sein müßten, die der Versicherte mit seinen Kräften und Fähigkeiten noch ausfüllen könne.

Dem vermag der Senat nicht zu folgen. Er hat bereits früher (im Urteil vom 28. Februar 1978 - 4/5 RJ 50/77 -) ausgeführt, die Kritik im Schrifttum sei zwar, insbesondere aus sozialen Gründen, durchaus ernst zu nehmen, könne aber keine Änderung der Rechtsprechung veranlassen, da eine weitere, dem bisherigen System der Sozialen Sicherung eindeutig widersprechende Risikoverschiebung von der Arbeitslosenversicherung zur Rentenversicherung dem Gesetzgeber vorbehalten werden müsse. Daran ist festzuhalten.

Bei Vollzeitarbeitskräften kommt es sonach, sieht man von den in BSGE 44, 39, 40 erwähnten Ausnahmen ab, auf das Offen- oder Verschlossensein des Arbeitsmarktes nicht an. Der Kläger irrt, wenn er annimmt, eine dieser Ausnahmen sei bereits - für den Senat bindend - vom Berufungsgericht festgestellt. Der in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils enthaltene Satz, der Kläger sei nach der Art seiner Behinderung unter betriebsüblichen Bedingungen nicht mehr einsatzfähig, ist keine tatsächliche Feststellung, sondern eine rechtliche Schlußfolgerung, für die das LSG keine Tatsachen angegeben hat, die es vielmehr aus der angeblichen Verschlossenheit des Arbeitsmarktes für den Kläger gezogen hat. Es hat nicht angegeben, was es überhaupt unter "betriebsüblichen Bedingungen" verstanden und welche der für den Einsatz von Ungelernten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblichen Bedingungen hier zweifelhaft sein könnte. Es hätte solche Bedingungen zunächst feststellen und dann konkret darlegen müssen, inwiefern der Kläger sie infolge seiner gesundheitlichen Behinderung nicht erfüllen könne.

Das Berufungsgericht muß sonach den erhobenen Rentenanspruch unter Heranziehung der oben genannten Rechtsprechung für Vollzeitarbeitskräfte neu prüfen. Es wird sich dabei, was die Prüfung und Feststellung "üblicher" Bedingungen angeht, ua auch an der Rechtsprechung des BSG zu § 103 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) orientieren können (vgl zB BSGE 11, 16; SozR 4100 § 103 Nr 17). Es muß auch berücksichtigen, daß der Kläger von 1962 bis 1973 (mit etwa denselben Behinderungen wie jetzt) vollschichtig gearbeitet hat, ferner daß eine Auskunft des Arbeitsamtes Marburg vom 20. Januar 1978 dahin lautet, der Kläger sei nicht wegen seines Gesundheitszustandes, sondern "wegen wiederholten Alkoholmißbrauchs" entlassen worden, sowie daß nach einer Mitteilung des Arbeitsamtes an die Beklagte der Kläger selbst in einem Beratungsgespräch im Jahre 1975 erklärt habe, sein allgemeiner Gesundheitszustand habe sich seit der letzten Tätigkeit als Kalfaktor nicht verschlechtert.

Da der Senat die erforderlichen Ermittlungen nicht selbst vornehmen kann, war die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Dieses wird auch über die Kosten entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656181

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