Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 19.01.1977) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 19. Januar 1977 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat den Beigeladenen deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist ein Erstattungsanspruch der Klägerin wegen zu Unrecht erbrachter Krankenversicherungsleistungen.
Der Beigeladene zu 1. (H.) bezog vom 1. Juli 1972 bis 30. September 1972 Arbeitslosengeld. Das Arbeitsamt IV Berlin (West) bewilligte ihm vom 1. Oktober 1972 bis 30. September 1974 Berufsförderungsmaßnahmen und Unterhaltsgeld. Er stand vom 1. Oktober 1972 an bei der Beigeladenen zu 2. (Siemens AG) in einem zweijährigen kaufmännischen Ausbildungsverhältnis. Vom 4. Juni 1974 bis 31. März 1975 war er arbeitsunfähig krank. Die Klägerin gewährte ihm anstelle des Unterhaltsgeldes Krankengeld. Mit ärztlicher Erlaubnis legte H. am 23. September 1974 die Kaufmannsgehilfenprüfung ab. Die Beigeladene zu 2. teilte ihm am 19. September 1974 mit, mit dem Ergebnis der Firmenabschlußprüfung habe er sich für ein Informationsjahr vom 1. Oktober 1974 bis 30. September 1975 qualifiziert. H. antwortete, er werde zum 1. Oktober 1974 wohl noch nicht gesund sein und deshalb das Informationsjahr erst am 1. April oder 1. Oktober 1975 antreten können. Bis dahin wolle er in der Zweigniederlassung Berlin tätig sein. In seiner Personalakte ist unter dem 24. September 1974 vermerkt, er trete nach Beendigung der Ausbildung in die Dienste des Hauses. Die Beigeladene zu 2. teilte der Klägerin am 8. Oktober 1974 mit, H. habe am 23.9.1974 seine Ausbildung abgeschlossen und sei seit dem 24.9.1974 bei ihr als kaufmännischer Angestellter tätig und bei der Beklagten pflichtversichert. Unter dem 9. Oktober 1974 übersandte die Beigeladene zu 2. H. ein Schreiben über seine Einstellung als kaufmännischer Angestellter zum 24. September 1974. H. erklärte sich am 13. Oktober 1974 schriftlich damit einverstanden. Nach Beendigung seiner Arbeitsunfähigkeit nahm er am 1. April 1975 seine Tätigkeit bei der Siemens AG auf.
Die Klägerin bat die Beklagte am 9. Oktober 1974, die Weiterbetreuung des H. zu übernehmen. Die Beklagte lehnte das ab, weil die Übernahme in das Angestelltenverhältnis nur arbeitsrechtliche Bedeutung habe, die Mitgliedschaft bei ihr beginne erst am Tage der Arbeitsaufnahme.
Am 7. Mai 1975 erhob die Klägerin Klage mit dem Antrag, die Beklagte zur Erstattung der für die Zeit vom 24. September 1974 bis 31. März 1975 für H. erbrachten Krankenkassenleistungen in Höhe von 22.855,98 DM zu verurteilen.
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt (Urteil vom 2. März 1976). Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 19. Januar 1977).
Die Beklagte hat die vom Bundessozialgericht (BSG) nachträglich zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung insbesondere der §§ 212, 306, 309, 311 Reichsversicherungsordnung (RVO). Sie meint, die Klägerin sei zuständiger Versicherungsträger für H. bis zum Ende seiner Arbeitsunfähigkeit geblieben.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 19. Januar 1977 sowie das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. März 1976 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladenen, die sich nicht geäußert haben, stellen keine Anträge.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, daß die beklagte Betriebskrankenkasse der klagenden Ortskrankenkasse die für den Beigeladenen H. in der Zeit vom 24. September 1974 bis 31. März 1975 auf gewendeten Krankenversicherungsleistungen von 22.855,98 DM zu erstatten hat, weil H. in dieser Zeit ihr Mitglied war.
Rechtsgrundlage des streitigen Anspruchs ist der allgemeine öffentlich-rechtliche Erstattungs- (oder Ersatz- oder Abwälzungs-)anspruch. Aufgrund eines solchen Anspruchs kann ein nicht verpflichteter Leistungsträger, der anstelle des eigentlich Verpflichteten geleistet hat, von diesem Ersatz seiner Aufwendungen verlangen, sofern nicht besondere Vorschriften eingreifen (vgl. §§ 1504, 1509a, 1510 Abs. 2, 1524, 1525, 1531, 1738 RVO, § 81b BVG). Dieser allgemeine öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch bezweckt, eine rechtsgrundlose Vermögensverschiebung unter Trägern der öffentlichen Verwaltung auszugleichen (vgl. BSG SozR 2200 § 539 Nr. 13 mit zahlreichen Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum). Eine gesetzliche Erstattungsregelung für den Fall, daß eine unzuständige Krankenkasse geleistet hat, fehlt. § 43 des Sozialgesetzbuches – Allgemeiner Teil (SGB 1) vom 11. Dezember 1975 (BGBl I 3015) ist hier nicht anwendbar, weil diese Bestimmung erst am 1. Januar 1976 in Kraft getreten ist. Die gesetzliche Krankenversicherung obliegt einzelnen Krankenkassen mit voneinander abgegrenzter unterschiedlicher Zuständigkeit. Unter ihnen muß, ebenso wie unter anderen Trägern verschiedener Versicherungszweige, ein Ausgleich rechtsgrundloser Vermögensverschiebungen erfolgen. Eine Krankenkasse, die ohne Rechtsgrund Leistungen an einen Versicherten gewährt hat, hat daher einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch gegen die leistungspflichtige Krankenkasse. Krankenkassen sind ihren Mitgliedern leistungspflichtig.
Die Mitgliedschaft des Beigeladenen H. bei der Klägerin (§§ 155 Abs. 1, 159 Abs. 2 AFG) endete nach seiner Umschulung mit der bestandenen Kaufmannsgehilfenprüfung am 23. September 1974. Zum 24. September 1974 trat er zu der Beklagten über, weil er an diesem Tage in ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bei der Beigeladenen zu 2., der Siemens AG in Berlin, eintrat, womit die Leistungspflicht der beklagten Betriebskrankenkasse begann (§ 212 RVO).
Entgegen der Auffassung der Beklagten blieb die Mitgliedschaft des H. bei der Klägerin nicht deshalb gemäß § 311 RVO in der bis zum 30. September 1974 geltenden Fassung iVm Abschnitt I Nr. 6 des RAM-Erlasses vom 2. November 1943 – AN 485 (vgl. §§ 21 Nr. 21, 43 Nr. 2, 43 Abs. 1 des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes vom 7. August 1974 –RehaAnglG– BGBl I 1881) erhalten, weil er im Zeitpunkt des Endes der Umschulung arbeitsunfähig war und die Klägerin ihm Krankengeld zu gewähren hatte. Diese Regelung greift nur dann Platz, wenn und soweit keine neue Kassenmitgliedschaft begründet wird. Hierdurch sollen nur die Arbeitsunfähigen geschützt werden, die aus ihrer versicherungspflichtigen Beschäftigung ausgeschieden sind, und wegen ihrer Arbeitsunfähigkeit kein neues versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis eingehen und damit keinen neuen Versicherungsschutz erlangen können. Dieser Schutzgedanke versagt aber, wenn ein die Versicherungspflicht begründendes Beschäftigungsverhältnis besteht (BSGE 28, 202, 203, 204). Aus § 311 RVO ist daher nicht, wie die Beklagte offenbar meint, zu entnehmen, daß eine Mitgliedschaft bei einer anderen Krankenkasse nicht begründet werden kann, solange die dort genannten Voraussetzungen des Fortbestehens der Mitgliedschaft erfüllt sind. Die Mitgliedschaft nach § 311 RVO ist jedenfalls gegenüber derjenigen aufgrund eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses nachrangig.
Als H. seine Ausbildung zum kaufmännischen Angestellten bei der Beigeladenen zu 2. begann, wäre er Mitglied der Beklagten geworden (§§ 165 Abs. 1 Nr. 2, 165b Abs. 2, 245 Abs. 3 RVO). Diese Mitgliedschaft wurde jedoch von der bei der Klägerin verdrängt, weil er vom Arbeitsamt Unterhaltsgeld erhielt (§§ 155 Abs. 1, 159 Abs. 2 AFG). Sie endete mit dem Wegfall der Voraussetzungen der Versicherungspflicht nach § 155 Abs. 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG). An ihre Stelle trat die Mitgliedschaft aufgrund der ursprünglichen oder einer anschließenden neuen Versicherungspflicht ebenso wie bei einer Doppelbeschäftigung gemäß § 309 RVO. Auch dort beginnt die Mitgliedschaft aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses, wenn das andere Beschäftigungsverhältnis beendet wird, das bisher die Grundlage der Mitgliedschaft war, im unmittelbaren Anschluß, ohne daß § 311 RVO eingreift (BSGE 28, 202 ff).
Das zwischen H. und der Beigeladenen zu 2. vertraglich vereinbarte und zum 24. September 1974 begonnene Beschäftigungsverhältnis als kaufmännischer Angestellter hatte nicht nur arbeitsrechtliche, sondern ebenso sozialversicherungsrechtliche Bedeutung. Es steht dem Beginn einer versicherungspflichtigen Beschäftigung und dem daraus folgenden Beginn der Mitgliedschaft bei der zuständigen Krankenkasse nicht entgegen, daß der Versicherte im Zeitpunkt des vereinbarten Beginns arbeitsunfähig ist. Der Eintritt in die versicherungspflichtige Beschäftigung (§ 306 Abs. 1 RVO) erfolgt entgegen der Auffassung der Beklagten nicht grundsätzlich erst mit der tatsächlichen Arbeitsaufnahme (BSGE 26, 124 ff; 29, 30, 31; 36, 161, 164). Zuständig ist die Krankenkasse, in deren Zuständigkeitsbereich der Arbeitnehmer die Arbeit aufgenommen hätte, wenn er nicht arbeitsunfähig krank gewesen wäre (BSGE 20, 248, 250). Zum Eintritt in das Beschäftigungsverhältnis genügt es, ist aber auch erforderlich, daß sich der Arbeitnehmer der Verfügungsmacht (Dispositions-, Weisungsbefugnis) des Arbeitgebers unterstellt und damit Angehöriger des Betriebes wird. Andererseits dürfen die Umstände nicht ergeben, daß der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis wegen der Krankheit nicht aufnehmen, also nicht in den Betrieb eintreten will (BSGE 26, 124, 126).
Nach den tatsächlichen, von der Revision nicht angegriffenen und das BSG daher bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) sollte das Ausbildungsverhältnis des H. nach bestandener Kaufmannsgehilfenprüfung lückenlos in ein Beschäftigungsverhältnis bei der Beigeladenen zu 2. übergeleitet werden. Die vertraglichen Vereinbarungen, insbesondere auch über den Beginn am 24. September 1974 dem auf die Prüfung folgenden Tag, sind von H. und der Siemens AG zu einer Zeit geschlossen worden, als beiden bekannt war, daß H. seit längerem arbeitsunfähig war und das auch noch einige Zeit bleiben werde. Es war der deutlich erkennbare Wille beider, dennoch die Zugehörigkeit zum Betrieb ohne Unterbrechung fortzusetzen. Damit war H. Betriebsangehöriger und dem Weisungsrecht des Arbeitgebers unterstellt geblieben, ebenso wie wenn er während eines unverändert bestehenden Beschäftigungsverhältnisses arbeitsunfähig erkrankt wäre, wodurch seine Mitgliedschaft bei der Beklagten nicht berührt worden wäre.
Zutreffend hat das LSG ausgeführt, daß die von der Rechtsprechung zum sogenannten mißglückten Arbeitsversuch entwickelten Grundsätze auf Fälle der vorliegenden Art. nicht anwendbar sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen